Wenn zur ihren Füßen das Oktoberfest trubelt, beginnt für die Bavaria die strapaziöse Jahreszeit – während sie für viele München-Touristen, die nur wenig Zeit zur Verfügung haben, etwas zu weitab vom Schuss liegt, erkunden nun an schönen Tagen oft fünfmal mehr Besucher als sonst das Innenleben der robusten Bronzedame.
Tapfer erklimmen sie die ungewöhnliche Aussichtsgelegenheit im klassisch schönen Kopf – der also mitnichten leer ist – um den Blick auf Festwiese und Stadtpanorama zu bewundern. Platz genug ist vorhanden, wenn Enge und Hitze nicht zu sehr abschrecken: Ferdinand v. Miller, Neffe und Nachfolger des Johann Baptist Stiglmaier, in dessen Erzgießerei die Bavaria zwischen 1844 und 1849 entstand, berichtet in seinen Jugenderinnerungen, dass dreißig (!) Mann, übereinander und bis in den aufgesteckten Haarschopf hineingequetscht, in dem frisch gegossenen Kopf Platz fanden, um dann im Rahmen einer kleinen Showeinlage für den Auftraggeber, König Ludwig I., nacheinander aus dem Inneren aufzutauchen.
Die fast kindliche Begeisterung Ludwigs bei dieser Gelegenheit ist verständlich – immerhin war in seinem Auftrag eine technische Meisterleistung sondergleichen verwirklicht worden: der bis heute größte Bronzeguss weltweit. Denn mögen prominente Schwestern wie die New Yorker Freiheitsstatue die 18,52 Meter der Bavaria überragen, so sind sie doch in einem anderen, weniger aufwendigen Verfahren entstanden – gefertigt aus getriebenen Metallteilen über einem stützenden Innengerüst.
Aber der Weg zum bronzenen Wunderwerk war lang: Schon in seiner ihm endlos scheinenden Kronprinzenzeit hatte Ludwig ein Ruhmesdenkmal für verdiente Bayern als nationales Symbol und als mentalen Kitt für das junge, durch neue Territorien kräftig erweiterte Königreich Bayern geplant. Einmal mehr war es der Architekt Leo von Klenze, dessen Entwurf vor Ludwigs Augen Gnade fand, vor allem wohl deshalb, weil Klenzes klassizistische Säulenhalle mit den Büsten der zu ehrenden Alt- und Neubayern die Folie abgab für etwas so noch nie Gesehenes – eine gigantische Verkörperung des Landes Bayern aus Bronze – die erste gegossene Kolossalfigur dieser Ausmaße seit den verschwundenen Vorbildern der Antike. Klenzes erster Vorschlag war allerdings noch weit von der heutigen Lösung entfernt: Seiner Bavaria dienten antike Amazonen-Darstellungen als Vorbild. Sie zeigte viel Bein und wirkte mit dem zurückgesteckten Haar recht sportlich – der schüchterne Löwe erscheint mehr als niedliches Accessoire und Hundeersatz.
Es war dann der Bildhauer Ludwig von Schwanthaler, der der Bavaria zur heutigen Gestalt verhalf: weniger griechisch und dafür mehr germanisch – oder was man dafür hielt. Ein schick drapiertes Bärenfell schützt vor dem bayerischen Winter, auch wenn es die Schulter frei lässt. Das Schwert bleibt – vorerst – in der Scheide, dafür reckt sich der Arm mit dem Eichenkranz empor – zu Ehren der gerühmten Männer und Frauen im Rücken der Bavaria. Der sitzende Löwe als Zeichen der Stärke ist jetzt Stütze und bester Kumpel zugleich.
Auf dem Gelände von Stiglmaiers königlicher Erzgießerei wurde das Gipsmodel 1:1 in einem Gebäude – ja was eigentlich? – modelliert?, errichtet?! und anschließend in 12 Einzelteilen im mehrjähriger Arbeit gegossen und ziseliert. Was sich leicht anhört, war technisch hochkompliziert und angesichts der kaum beherrschbaren Riesenmassen von geschmolzenem Metall höchst gefährlich: einmal setzte allein die Abstrahlungshitze der flüssigen Bronze das Dach der Gießhütte in Brand!
Als die Bavaria schließlich 1850 vollendet war und auf der Theresienwiese zusammenmontiert wurde, war Schwanthaler schon tot und Ludwig I. ein alter Mann und kein König mehr, sondern seit seiner Abdankung 1848 unfreiwilliger Pensionär.
Der Bavaria sind solche zeitlich-vergänglichen Details aber gleichgültig: Unbewegt hält sie den Ehrenkranz, blickt zwar nicht unfreundlich, aber ohne Emotion über die mal laute, mal stille Festwiese und lässt sich die Bewunderer ruhig zu Kopfe steigen….