Mit elegischem Lächeln lehnt sich der junge Mann mit gekreuzten Armen an die große geschwungene Harfe neben ihm. Die strumpfbehosten Beine und das Liliendiadem auf den gewellten Haaren erinnern an Figuren mittelalterlicher Kirchenportale und stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Uhrgehäuse auf der die kleine vergoldete Bronzefigur thront und das mit Ornamenten verziert ist, die sich aus der Antike herleiten. Es ist ein hübscher Anblick, wie der gekrönte Sänger lässig die Beine übereinanderschlägt, aber eigentlich wird hier eine tragische Geschichte erzählt:
Die Figur stellt Konradin dar, den Sohn einer Wittelsbacher Prinzessin und König Konrads IV. Durch diese Abstammung war Konradin der letzte Abkömmling des mittelalterlichen Kaisergeschlechts der Staufer. Beim Versuch, seine Erbansprüche durchzusetzen, wurde er von seinem Rivalen Karl von Anjou gefangengesetzt und 1268 mit 18 Jahren in Neapel hingerichtet. Sein Tod markierte das Ende einer Epoche, die vor allem von deutschen Historikern des 19. Jahrhunderts als der glanzvolle Höhepunkt der mittelalterlichen Reichsgeschichte interpretiert wurde. Mit diesem Wissen konnten einstige Betrachter der Uhr die elegante Passivität der Konradinsfigur so auch als dessen Warten auf den frühen Tod deuten, das Zifferblatt als Lebensuhr des unglücklichen Staufers.
Zwei Künstler haben bei der Gestaltung dieser Uhr, die um 1840 im Auftrag König Ludwig I. entstand, zusammengearbeitet: Der Architekt Leo von Klenze entwarf den wuchtigen Unterbau, die Figur stammt vom Bildhauer Ludwig Schwanthaler, der unter vielen anderen Werken auch die Bavaria an der Münchner Theresienwiese gestaltet hat. Zusammen mit einem Pendant, einer ähnlich gestalteten Prunkuhr, die den ersten staufischen Kaiser Friedrich I. Barbarossa zeigte, schmückte der Konradin ursprünglich den mittleren der drei Kaisersäle im Festsaalbau der Münchner Residenz.
Diesen großen Flügel im Norden der Residenz ließ Ludwig I. zwischen 1835 und 1842 am Hofgarten durch Leo von Klenze errichten. Rechtzeitig zur Hochzeit von Ludwigs Sohn, dem späteren König Maximilian II., der diese Woche seinen 200. Geburtstag gefeiert hätte, wurden die neuen Räume fertig. Im Krieg brannte der Festsaalbau aus, so dass heute nur noch historische Fotos und gerettetes Mobiliar Auskunft über die prächtige Innenausstattung geben.
Die drei Kaisersäle, die den mittelalterlichen Herrschern Karl dem Großen, Friedrich Barbarossa und Rudolf von Habsburg gewidmet waren, durchschritten Besucher der Residenz im 19. Jahrhundert auf dem Weg zum königlichen Thronsaal. Wandfüllende Fresken nach Entwürfen von Ludwig Schnorr von Carolsfeld zeigten berühmte Episoden aus dem Leben der drei Kaiser. Mit dieser farbigen Vision eines heroischen, von Tapferkeit und Frömmigkeit getragenen deutschen Mittelalters vor dem bayerischen Thron sollte das Königreich Bayern durch Schnorrs beeindruckende „Geschichtsbilder“ sinnfällig mit der gesamten Nation verbunden werden.
Im riesigen Thronsaal selber warteten dann noch die überlebensgroßen, vergoldete Bronzestatuen berühmter Wittelsbacher auf den verängstigten Besucher.
Es war also ein ausgeklügeltes politisches Bildprogramm, in das sich unsere kleine Uhr einfügte. Doch bringt sie auch etwas Gefühl in das ganze Pathos und gerade dies macht sie zu etwas Besonderem: In Schwanthalers idealisierter Gestalt des Konradin manifestiert sich ein melancholischer Traum vom Mittelalter, den die Zeitgenossen Ludwigs I. träumten, denen ihr Jahrhundert genauso hektisch, verwirrend und mit neuen Technologien überfrachtet vorkam wie uns zuweilen unsere Gegenwart. Konradin starb nicht nur jung und unschuldig, er soll den Quellen zufolge auch sehr gut ausgesehen haben, was jemanden für eine romantische Verklärung immer zum geeigneten Kadidaten macht. Zudem hielt man ihn im 19. Jahrhundert für einen Minnesänger (deshalb die Harfe), was ihm endgültig die Aura eines tragischen Popstars verlieh. Vor allem deshalb war er wohl auch für Ludwig I. besonders interessant: Der bayerische König war nicht nur bekanntermaßen ein aktiver Förderer von Kunst und Architektur, sondern wurde auch selber als Dichter tätig. Über den Wert seiner schöpferischen Produktion kann man getrost geteilter Meinung sein (einige Verse sind im Allerheiligengang der Residenz nachzulesen). Er selbst hielt sich auf jeden Fall für einen begnadeten Poeten unter der Last der Krone – wie Konradin. Wohl vor allem aufgrund dieser Wahlverwandtschaft widmete er noch als Kronzprinz um 1820 dem Staufer ein langes Trauerspiel „in gebundener Sprache“. Im letzten Akt lässt er Konradin in Erwartung des Henkers allein im Kerker über die Kürze des Lebens sinnieren: „Was, verglichen mit des Tages Länge ist ein Augenblick! Doch jedes Zeitenmaaß verschwindet gen das Unaufhörliche…“. Vielleicht hat Schwanthaler Ludwigs Stück lesen dürfen (müssen?) und hat diese Szene beim Entwurf seiner Figur vor Augen gehabt.
Gegenüber dem lauten Pomp, den die Darstellung militärischer Großtaten an den Wänden der Kaisersäle entfaltete, setzte die kleine Uhr mit ihrem melancholischen Thema auf alle Fälle einen wohltuend anderen Akzent, dessen Wirkung sich auch heutigen Betrachtern unmittelbar offenbart.
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