„Das Empfangszimmer der Gräfin du Barry. Rechts im Hintergrund ein äußerst prächtiges Ruhebett. – Bedienter (reißt die Tür auf): „Der Marschall Herzog von Richelieu“ – Der Herzog von Aguillon: „Das wusste ich wohl, dass mein venerabler Herr Onkel nicht auf sich warten lassen würde…“ – Mit diesen Textzeilen, die mitten in die umtriebige Arbeits- und Lebenswelt der letzten Mätresse Ludwigs XV., der Gräfin du Barry, nämlich deren sündiges Schlafzimmer am Hof von Versailles, führen, beginnt am 6. Mai 1872 die erste der berühmten Separatvorstellungen für König Ludwig II.
Schauplatz dieser exklusiven Premiere für einen einzigen – wiewohl royalen – Zuschauer war das intime alte Residenztheater am Max-Joseph-Platz, also das nach dem Krieg in die Residenz translozierte höfische Rokoko-Theater von François Cuvilliés aus den 1750er-Jahren. Um 1857 hatte Maximilian II., Ludwigs Vater, den mittlerweile ungenutzten rot-goldenen Bühnensaal aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und für die Maßstäbe der Zeit relativ behutsam modernisiert.
Das heute wohl zu Recht vergessene (und was die Komik angeht eher matte) Lustspiel „Gräfin du Barry“ von Ancelot bildete die erste von schließlich insgesamt mehr als 200 Aufführungen, die mit dem ganzen elaborierten Ausstattungsluxus und Bühnenzauber des 19. Jahrhunderts bis 1885 ausschließlich für die sehnsüchtigen Augen des „Kini“ inszeniert wurden. Je nach Bedarf an Bühnenmaschinerie und königlicher Stimmungslage fanden sie im Residenz- oder – eine beachtliche Nummer größer – im benachbarten Nationaltheater statt. Aufgeführt wurden zahlreiche Opern, darunter natürlich prominent die allgegenwärtigen Werke des göttlichen Richard (Wagner) mit ihren malerischen Settings in der sagenhaften Burgenwelt des Mittelalters und den schmucken Fels- Wald- und Holzbehausungen der germanischen Götter und Helden. Daneben aber auch vor allem Stücke, die in der höfischen Epoche der französischen Bourbonen-Könige des 17. und 18. Jahrhunderts angesiedelt waren und sich atmosphärisch nahtlos in das Rokoko-Ambiente des Cuvilliés-Raumes einfügten.
Diese Komödien, Tragödien und – Verzeihung – hin und wieder auch Schmonzetten von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. mit verheißungsvollen Titeln wie „Der Fächer der Pompadour“, „Das Alter eines großen Königs“ oder (mein Favorit) „Unter den Lilien“ versetzten Ludwig II. in die von ihm so sehr bewunderte, doch letztlich unerreichbar vergangene Welt königlicher Machtvollkommenheit, als die sich ihm der französische Absolutismus aus der historischen Distanz darstellte (das Ende dieses Systems unter dem Fallbeil der Guillotine wurde monarchisch-diskret weg-imaginiert).
Für die Bühnenausstatter, die im Zeitalter des Historismus sowieso schon einiges an architektur- und kunstgeschichtlichem Wissen mitbringen mussten, um für ihr anspruchsvolles Publikum die gewünschte Illusion einer Zeitreise in die diversen Jahrhunderte und Weltgegenden zustande zu bringen, war dieser eine Zuschauer im Cuvilliés-Theater eine ziemliche Zumutung: Ludwig unterhielt sich in seinen Schlössern Linderhof und Herrenchiemsee nicht nur im Geiste ständig mit den historischen Bewohnern seines erträumten Versailles.
Leider war er auch schrecklich belesen, kannte alle relevanten historischen Werke zu diesem, seinem Lieblingsthema, und ruhte nicht, bis auf der Bühne jeder Leuchter und jede Fruchtschale dort stand, wo sie durch einen barocken Kupferstich oder den Halbsatz eines seit 150 Jahren toten Memoiren-Schreibers belegt war. Das ging ins Geld – und an die Substanz der ausführenden Künstler, brachte aber – wie uns erhaltene Entwürfe und Bühnenbildmodelle bezeugen – Meisterwerke historistischer Szenographie hervor…
Da die Vorstellungen, wie der Name schon sagt, „separat“ stattfanden, wissen wir über die konkreten Aufführungsbedingungen leider recht wenig.
Am bekanntesten sind die Berichte der berühmten Schauspielerin Charlotte Wolter, die 1885 als „Pompadour“ in Ludwigs Lieblingsstück „Narziss“ auftrat. Und die noch heute sehr witzige Schilderung, die Mark Twain, der nun wirklich keinen Zugang zu den Aufführungen haben konnte, in seinem Reisebuch „A Tramp Abroad“ von 1880 veröffentlichte. Beides keine besonders verlässlichen Zeugen: Die große Tragödin, die stets nur in rheinischer Mundart deklamierte und vor allem für ihren schrillen „Wolter-Schrei“ bekannt war, war anscheinend über Ludwigs mäßiges Interesse an ihrer Person samt Schrei pikiert und stellte ihren einzigen Zuschauer als lichtscheuen Phantasten dar. Ähnlich beschreibt Twain, wie ein wahnsinniger Ludwig für die Illusion eines echten Gewitters die Löschanlage des Theaters in Gang setzen lässt, was sich brüllend komisch liest, aber wohl auch ein verzerrtes Bild zeichnet.
Letztlich näher und überzeugender lässt sich Ludwigs Motivation in seinen eigenen Worten ausdrücken, mit denen er sich gegenüber dem Schauspieler Ernst Possart äußerte: „Ich kann keine Illusion im Theater haben, solange die Leute mich unausgesetzt anstarren und mit ihren Operngläsern jede meiner Mienen verfolgen. Ich will selbst schauen, aber kein Schauobjekt für die Menge sein!“ Das klingt auch heute noch nachvollziehbar.
Den Eindruck, dass es auch ohne königliche Exzentrik Spaß machen könnte, im rotgoldenen Luxus des Cuvilliés-Theaters exklusiv in der Mittelloge den ganzen Raum mitsamt der Bühne für sich allein zu haben, werden wohl unsere meisten Besucher teilen – von der kurzen Schlange beim anschließende Pausenbuffet mal ganz abgesehen!