
Der Unterschied besteht allerdings in dem mit über 170 cm Höhe monumentalen Ausmaß, und darin, dass es sich um einen sogenannten Ordenskalender handelt, das heißt, statt zwölf Monaten und 52 Wochen präsentiert das aus mehreren Blättern zusammengeklebte Papiermonument die im Jahr der Veröffentlichung aktuelle Zusammensetzung des hochexklusiven Wittelsbacher Hausritterordens vom Heiligen Georg! 
Seit der ursprünglich in Kleinasien lebendige Kult des römischen Soldaten und Märtyrers Georgius aus dem dritten Jahrhundert im Gefolge der Kreuzzüge in Mitteleuropa Fuß gefasst hatte, war dieser zu einem wichtigen Vorbild und zur religiösen Identifikationsfigur des christlichen Ritteradels geworden. Seine zweifellos berühmteste Tat, der erfolgreiche Kampf mit einem bösartigen Drachen, der dem ganz und gar unchristlichen Hobby des regelmäßigen Jungfrauen-Verzehrs frönte, wurde als vielfach dargestelltes Sinnbild des Sieges über das Böse verstanden – wobei das Böse auch damals schon im Auge der Betrachter, hier der Georgs-Verehrer lag und meist Andersgläubige oder missliebige politische Gegner bezeichnete…

Der prunkvolle Miniaturschrein wurde für eine aus Köln nach Bayern geschenkte Körperreliquie des Heiligen angefertigt
Auch die bayerischen Herrscher verehrten den ritterlichen Georg spätestens seit dem 14. Jahrhundert als Schutzpatron ihrer Münchner Residenz bzw. von deren Vorgängerbau, der „Neuveste“, wo der Heilige eine eigene Kapelle besaß. Eindrucksvolles Zeugnis dieser Hinwendung ist das im Auftrag Herzog Wilhelms V. (reg. 1579-1597) ab 1568 geschaffene Georgs-Reliquiar (heute Residenz-Schatzkammer), das später im Rahmen der Ordensfeierlichkeiten als spirituell aufgeladener Blickfang erst auf dem Altar, dann auf der Festtafel aufgestellt wurde.
Diesen bis heute existierenden Ritterorden zu Ehren des Heiligen sowie der Gottesmutter hatte Kurfürst Karl Albrecht (reg. 1726-1745, seit 1742 als Kaiser Karl VII.) feierlich am 24. April 1729 aus der Taufe gehoben. Formal handelte es sich um die Wiederbelebung einer älteren, vormals in Bayern aktiven Georgs-Bruderschaft, was der Neugründung (und dem Gründer) die angenehme Aura angestammter Tradition – sprich: Legitimation – verlieh.

Um 1730 hat Karl Albrecht das Gründungsfest des Ordens an der Decke der neu eingerichteten Ahnengalerie seiner Residenz verewigen lassen
Tatsächlich war Karl Albrechts Stiftung, wie die meisten Einrichtungen adeliger Ordensvereine in der Frühen Neuzeit, in erster Linie ein Mittel, die Loyalität des bayerischen Adels gegenüber dem Herrscherhaus durch ein weiteres Band elitärer Zusammengehörigkeit zu stärken, denn Ordensmeister war natürlich stets der Landesherr! Dies macht auch das Bildprogramm des Ordenskalenders deutlich:

Den Mittelpunkt der Komposition bildet aber der Schutzpatron des Ordens: St. Georg, der auf seinem am Geschehen eher uninteressierten Schimmel den Drachen durch klassischen Rachenstich waidmännisch korrekt erlegt. Ihn flankieren die geharnischten Figuren historischer Kreuzritter, deren Rautenwappen ihre engere oder weitere Verwandtschaft mit dem bayerischen Herrscherhaus anzeigen.
Darunter verkörpern zwei behelmte Damen, die Schilde mit dem Ordenskreuz tragen, die speziell ritterlichen Tugenden, ohne die der chevalereske Schutz von Witwen und Waisen nicht zu leisten ist: Links die Gerechtigkeit mit Waage, recht die Stärke, die eine schwere Säule stemmt. Zu ihren Füßen fallen niedlich gezeichnete, aber aggressive Wappenlöwen über die Feinde des katholischen Glaubens her. Dabei setzen sie die Zähne sparsam ein und tatzen nach Fackel und Schwert, um Häretiker und Ungläubige das Fürchten zu lehren – und sie vielleicht zu einem Blick in die Ordensstatuten zu bewegen, die bequem aufgeschlagen am unteren Bildrand platziert sind.


Untere Hälfte des auf Papier aufgezeichneten Stammbaums an der Südwand der Ahnengalerie
Mit seinen monumentalen Ausmaßen und dem komplexe Bildprogramm stellt der Georgs-Ordens-Kalender ein anschauliches Beispiel gedruckter Herrschaftspropaganda dar, das dem kompositorisch ganz ähnlich aufgebauten Wittelsbacher Stammbaum im Zentrum der Ahnengalerie der Residenz zur Seite gestellt werden kann!



