Das letzte Hemd hat keine Taschen, und es gibt Orte, zu denen selbst der Kaiser zu Fuß gehen muss. Mit solchen raren Lebensweisheiten starten wir unsere Suche nach dem Menschlichen, Allzumenschlichen in den Prunkräumen unseres Schlosses. Denn auch der blaublütigste Wittelsbacher, eingebunden in langwieriges Zeremoniell und behindert durch aufwendig verschnürtes Kostüm, mag ihn wohl oft seufzend aufgeschoben, aber letztlich nicht unterdrückt haben: den täglichen Toilettengang. Doch wo? Und wie? Und unter welchen hygienischen Standards? Hier stößt man erst mal auf eine Mauer des Schweigens. Nur zäh und widerwillig geben Jahrhunderte höfischer Diskretion ihre Geheimnisse preis – und führen gern in die Irre, statt zum historischen Örtchen.
So gibt es kaum ein bayerisches Schloss, in dem nicht stolz eine „Toilette der Venus“ aus dem 18. Jh. präsentiert wird, ein schmuck intarsierter „Toilettetisch“ oder ein kostbar ziseliertes Silberservice „de Toilette“. Aber natürlich meint dies keine Rokoko-Sanitärausstattung, sondern die Requisiten einer erotisch angehauchten Schönheitspflege. Diese nämlich zelebrierte die höfische Dame (übrigens gern im Rahmen einer beschränkten Öffentlichkeit) in ihrem mit „toile“, also feinem Textil, verschleierten Boudoir als einem Kompetenzzentrum aristokratischer Weiblichkeit.
Von den handfesteren Bedürfnissen des Leibes könnte man hingegen meinen, sie hätten nicht existiert, so vollkommen sind ihre Spuren getilgt. Und baulich eventuell noch Vorhandenes haben spätestens die umfassenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs vernichtet. Das ist in mehr als einer Hinsicht bedauerlich. Schließlich macht es ja beispielsweise die Mittelalter-Archäologie offenkundig, dass es gerade die Latrinen sind, die als Abfalleimer der Geschichte besonders Spannendes aus dem Alltag unserer Vorfahren zu Tage fördern.
Und (kur)fürstliche Latrinen?
Machen wir uns nichts vor – zu dolle opulent wird es in der Residen bzw. ihren baulichen Vorgängern in diesem Punkte nicht zugegangen sein, wie übrigens auch an anderen Höfen. Wer kennt nicht die Szene aus dem vorweihnachtlichen „Sissi“-Film, wenn die unschuldig saubere Sis(s)i, ganz frisch aus Starnberg in der Wiener Hofburg angekommen, bei ihrer bissigen Schwiegermutter-Tante Sophie (Tochter von Bayernkönig Max I. Joseph!) den Weg zum Badezimmer erfragt. Gibt‘s nämlich nicht! Schmallippig wird die neue Kaiserin auf Leibstuhl und Wasserkanne verwiesen: „Hier hat Maria Theresia gelebt und gebadet, es wird auch für eine kleine bayerische Prinzessin reichen!“ Wahre Anekdote oder nicht – verglichen mit manch großbürgerlicher Villa fiel jedenfalls den meisten Fürstlichkeiten des 19. Jh. in puncto Hygiene-Komfort die Altbausubstanz ihrer ererbten Schlösser tatsächlich auf die vor Harndrang trippelnden Füße. Denn oft hatte man hier einst fast allen Raum für Repräsentation reserviert.
Und zuvor?
Ob man im „Alten Hof“ – der ersten Wittelsbacher Residenz im Münchner Stadtraum -, in einem als Erker ummauerten Außensitz mit Fallloch in luftiger Höhe thronte wie im Raubritternest, weiß ich nicht: Nahebei flossen zumindest Stadtbäche und Wasserhygiene war allerhöchstens ansatzweise ein Thema – hier musste München noch bis ins 19. Jh. und auf Max (von) Pettenkofers Abwassersystem warten. In der ab 1385 errichteten Neuveste sind zumindest Abtritte (hier tatsächlich über dem – oft leeren – Wassergraben) vor allem in der Nähe der Treppenhäuser belegt. Diese architektonische Nachbarschaft trifft man dann auch in den nachfolgenden Residenzbauten an, zumindest bei den gewissermaßen „öffentlichen“ Anlagen, die von Dienerschaft und Hofstaat benutzt wurden.
Und die schmutzigen Details?
Hier gilt es, sich einem Modeausdruck folgend, „ehrlich zu machen“: Kenne ich nicht. Nicht, weil das mit dem nötigen Eifer nicht herauszukriegen wäre. Gerade im 17. Jh. machte die Aristokratie beispielsweise ihre regelmäßig genossenen Klistiere (Einläufe zum therapeutischen Abführen) in einer Weise öffentlich, die nur mit modernen Insta-Stories zu vergleichen ist. Sondern, weil die speziell in der Schlösserverwaltung archivierten Quellen auf anderes abzielen. Die kulturgeschichtlich offenkundige Ächtung von Körperfunktionen ist im Kulturbetrieb „Schlossmuseum“ notorisch. Spätestens mit der Umwandlung der Residenz vom Wohnpalast zum Kunsttempel 1920 konzentrierte man sich endgültig nur noch auf „Stilräume“, nicht auf Sanitärräume. An dem Erbe tragen leider auch noch heutige Besucherinnen und Besucher – die modernen Toilettenanlagen sind in unserem denkmalgeschützten Museum rar, wohl verborgen und teilweise schlecht erreichbar (wir wissen das sehr gut und arbeiten dran, versprochen. Es ist komplexer, als es sich anhört und liest…).
Für das 18. und 19. Jh. hingegen gilt: Die schamhaften letzten Dinge werden dort für uns greifbarer, wo Kunst und Kultur das Unsagbare und Unriechbare zu ummänteln suchen. An dieser Stelle wäre nun der übliche Ort für Zitate aus den Briefen der berühmten „Lieselotte von der Pfalz“ (1652-1722) – einer an den Hof des französischen Sonnenkönigs verheirateten Wittelsbacherin -, in denen sie die sanitären Missstände in Schloss und Park Versailles anprangert, die so sehr gegen den barocken Glanz Ludwigs XIV. abstinken und wo man angeblich nicht hinter Samtvorhänge und marmorne Statuensockel schauen durfte, ohne auf Spuren und Lachen zu stoßen. Zitieren wir aber nicht. Denn eigentlich zeichnen unsere Quellen für den Münchner Hof ein anderes, entspannteres Bild.
Jedoch: Ganz ohne Versailler Reminiszenzen geht es bei uns auch nicht: Schließlich verwahren wir im Residenzdepot gleich mehrere, zart mit duftenden Blüten bemalte „Bourdaloues“ für die Dame aus Meissener und Frankenthaler Rokoko-Porzellan: Es handelt sich um Nachttöpfe „für auf den Weg“, die aufgrund ihrer langgestreckten „Schiffchenform“ diskret mitgeführt und dank weiter, bodenlanger Röcke fast überall eingesetzt werden konnten. Die traditionelle Geschichte zu diesem sanitären Erfolgsmodell geht so:
Weil der Versailler Hofgeistliche Louis Bourdaloue (1632-1704) zwar sehr fesselnd, aber auch sehr lang predigte, hätten seine frommen Zuhörerinnen, statt auszutreten, ursprünglich Saucieren zweckentfremdet, um nichts von seinem spirituellen Vortrag zu verpassen. Wie und wann geleert wurde, oder ob neben jeder Duchesse ein randvolles „Bourdaloue“ bis zum Abschlusssegen vor sich hin schwappte, überliefert die Legende leider nicht.
Aber auch auf die ortsfesten Bedürfnisanstalten der Rokoko-Residenz gibt es so manchen konkreten Hinweis, wenn man auch hinsichtlich der zeitgenössischen Terminologie etwas aufpassen muss: Die Bezeichnung W(ater)C(loset) fällt aus technischen Gründen für die Epoche natürlich flach. Der übliche, schmeichelhafte Ausdruck in den Münchner Inventaren ist „Retirade“, also der Ort des Rückzugs. Zeitgleich meint man aber zum Beispiel am Wiener Kaiserhof mit „Retirade“ primär etwas ganz anderes, viel Feineres: nämlich das exklusive herrscherliche Wohnzimmer hinter den offziellen Räumen. Hier konnten zwar auch Sitzungen stattfinden, aber allenfalls diplomatische. Und da politische Diskurse auf dem Örtchen zwar für die öffentlichen Sammel-Latrinen des antiken Roms belegt sind, aber nicht für die steife, vom burgundischen Hofzeremoniell geknebelte Lebenswelt der Habsburger, sollte man hier keine Verständnisfehler machen.
Auf historischen Plänen des Residenz-Areals werden die Retiraden-Kabinette manchmal mit kleinen Kreisen gekennzeichnet, die dann wohl teilweise auch gemauerte Sitze markieren können. Leider sehen auf denselben Plänen aber auch die Herdstellen und später die Positionen für Laternen und Gasleuchten ganz ähnlich aus. Um seinerzeit auf dringender Suche peinliche Verwechslungen zu vermeiden, muss(te) man also auch mit Plan in der Hand etwas kombinieren: Ein Kringel nahe bei Stiegen, kurfürstlicher Garderobenkammer, königlichem Badezimmer: vermutlich Retirade; Kreis neben Dessertküche oder Silberkammer: hoffentlich Herd…
Den Inventaren zufolge dürfen wir uns die Münchner Schloss-Retiraden, namentlich die der herrschaftlichen Wohnappartements, als ebenso hüsch wie zweckmäßig ausgestattet vorstellen. Ein besonders schönes Beispiel hat sich in der 1734/39 errichteten Amalienburg im Nymphenburger Schlosspark erhalten: Hier kreierte Hofarchitekt Cuvilliés im Auftrag des Kurfürsten Karl Albrecht eine wahre, mit Rokokoornament verzierte „Thronnische“, in welcher der feste, mit Deckel versehene Toilettensitz (kaschiert als Kommode) steht. Auch in der Residenz gab es in Karl Albrechts etwa zeitgleich eingerichteten, leider nur kurzlebigen „Gelben Wohnappartement“ eine solche „Luxus-Retirade“ mit reicher Wandzier aus üppig bemalten Kacheln, von der sich bis 1944 noch einige Reste „in situ“ befanden.
Wie man sich das landesväterliche Klo in der zweiten Hälfte des 18. Jh. vorzustellen hat, erzählt uns hingegen ein erhaltenes „Mobilien-Inventar“ von 1769. Damals erschloss sich die heute verschwundene „Retirade“ des Kurfürsten Max III. Joseph über eine Tapetentür rechts des Bettes hinter seinem Schlafzimmer in den heute so genannten „Kurfürstenzimmern“, die 1944 zerstört und danach in veränderter Form wieder aufgebaut wurden.
Die Wände zierte „Spalier von gestreifter sächsischer Leinwand“, 1770 kam noch ein „Neuer grün tüchener fueß Teppich“ dazu. Die analog platzierte Retirade in den angrenzenden Räumen der Kurfürstin Maria Anna bestach hingegen mit Wandbespannung von „rotem Brocatelle“. Beiderseits also kuschelige textile Pracht, die sich farblich auf die jeweilige Bespannung der Haupträume bezog. Wiewohl vielleicht etwas muffelig, den unerwähnt und aus den Plänen auch nicht zu erschließen sind Licht und Lüftung, durch Fenster beispielsweise. Das Mobiliar bestand für Max III. Joseph aus einem großen, sesselartigen Leibstuhl „3fach sowohl in- als auswendig mit Cremoisin-Damast überzogen […] und zweyer deckeln ebenfahls mit solchem Damast bekleidet“, unter denen der „zinner leib hafen“ positioniert war, dazu ein Tischchen mit Waschgeschirr von Fayence. Entsorgt wurde anschließend von (Diener-)Hand und wohl über die rückwärtigen Räume, die auf der anderen Seite an das Kabinett anschlossen. Einige Gemächer weiter standen Maria Anna hingegen gleich zwei Leibstühle zur Verfügung „mit rothem Damast gekleidet“, dazu ein kunstvoll eingelegtes Tischchen, darauf Waschgeschirr, zusätzlich aber auch ein um 1770 immer noch vergleichsweise neuartiges „Bidée, mit grünem Damast gekleidet, mit einer Schissel von Fayence“: Auch im Privatsektor triumphierte französischer Modechic – naturellement!
60 Jahre später bewohnte Ludwig I. mit Gemahlin Therese die Raumflucht (deren Rokoko-Ausstattung der bauwütige Monarch dankenswerter Weise in Ruhe ließ) und nach ihm seine Söhne Luitpold und Adalbert. Auf Örtlichkeit und Ausstattung der seit 1806 königlichen Sanitärräume hatten die Nutzerwechsel jedoch keinen grundsätzlichen Einfluss: Ein Inventar von 1845 listet:
„2 Wandstellen von Feichtenholz grau, mit grün taffetenen Vorhängen und roter Marmorplatte, 1 Nachttischchen von Kirschbaumholz mit Fach und Schublade, 1 Bidet von Nussbaumholz, die Rücklehne mit grünem Damast bezogen, nebst einem Einsatz von verzinntem Kupfer, 1 Retirade Sessel, grau lackiert, die Rücklehne mit grünem Seidendamast bezogen, und der Sitz gepolstert und mit Leder bezogen, dazu eine weißbarchentene Husse.“
Und so, oder so ählich, lauten auch die Beschreibungen der anderen fürstlichen Retirade-Kabinette in den verschiedenen Wohn- und Gästeappartements (meist eine pro Wohneinheit). Offensichtlich gab es kein standardisiertes Sanitärmobiliar, sondern älteres und neueres wurde, wohl je nach Bequemlichkeit und aktueller Belegung der Räume, neu angeschafft oder verlagert, wiederverwendet, vielleicht auch modernisiert. So begegnen wir verschiedensten Modellen, wie einem
„Retirade Kasten von Feichtenholz, oben mit 3 Deckeln“ oder mit „zwei Thüren von Kirschbaumholz, an denen eine das Retriradetruchel von detto Holz befestiget mittels Rollen zum aufziehen, worauf ein Aufsatzkasten von Kirschbaumholz mit zwei Glastüren und grün taffetenen Vorhängen mit vier Fächern, die Brille am Retirade mit rotem Damast bezogen nebst einem Hafen von Fayence“.
Auffällig ist ca. ab 1810 die vermehrte Nutzung des auch beim luxuriösen Wohnmobiliar immer häufiger verwendeten Mahagoni und Erlenmaserholzes sowie die regelmäßige Zugabe von oft schlichten, teilweise aber auch recht kostbaren Tisch- oder Schrankmöbeln (wohl ältere Stücke in Zweitverwendung). Konstant bleibt die Bevorzugung von Stoffbezügen gegenüber Keramik, Metall oder blankem Holz und die Notwendigkeit von Wasch- und Spülgefäßen, die nachgefüllt werden mussten. Ebenfalls charakteristisch ist die Anpassung der einzelnen Retiraden-Ausstattung an den sozialen Stand ihrer Bewohner innerhalb der höfischen Hierarchie: In den Mezzaninwohnungen der Kammerdiener und den kleinen Dienst-Appartements der Hofdamen finden sich statt der damastbezogenen Retiradekästen schlichtere Leibstühle aus Kirschbaumholz, und auf „feichtenen Nachtkästeln“ daneben stehen statt Fayence und Porzellan auch mal „Hafen“ und „Geschirre“ von schlichter „Erde“.
Zum Glück sehen wir im gegenwärtigen Residenzbetrieb das menschliche Bedürfnis ja gern als den großen Gleichmacher – Edelmann und Bauer tritt heute in unserem Schloss in identischen Räumen vor schlichte genormte Keramik – und selbst die Toilette, die seinerzeit – wohl verborgen – eigens für den Staatsbesuch der schwedischen Königin Silvia hinter Cuvilliés „Reichen Zimmern“ eingebaut wurde, unterscheidet sich hiervon bis dieser Tage nur durch das heraldische Quietschegelb ihrer Kachelung.