Schon einmal haben wir an dieser Stelle über den Münchner Residenz-Fasching des 17. und 18. Jahrhunderts berichtet – und dabei die an den absolutistischen Höfen hoch beliebten „Bauern-Wirtschaften“ etwas genauer unter die Lupe genommen. Tatsächlich aber wurde in den alljährlichen nasskalten Wochen zwischen Weihnachten und Beginn der vorösterlichen Zeit noch viel mehr geboten – und das war auch in mehrerlei Hinsicht bitter nötig.
Bei vielen ist heute die Erinnerung etwas verblasst, dass der Begriff „Fastnacht“ ja die „Nacht vor dem Fasten“ bezeichnet. Das hieß für den katholischen Münchner Hof (zumindest theoretisch), dass mit dem Aschermittwoch die vierzigtägige Vorbereitungszeit des Betens und der fleischlosen Ernährung vor der Feier des Osterfestes einsetzte – nix mehr mit Krapfen und Kamellen… Hungern musste zwar niemand, aber spaßige und trubelige Aktivitäten wurden heruntergefahren, Musik gab es, wenn, nur geistliche, und Fisch- und Eiergerichte hatten in der kurfürstlichen Küche Hochkonjunktur.
Es ist also einzusehen, dass im Vorfeld dieser langen Durststrecke stimmungsmäßig noch einmal ordentlich Gas gegeben werden sollte. Leider hatte München zu Beginn des 17. Jh. in dieser Hinsicht ein kleines Imageproblem: Ähnlich wie heute, wo sich die Lokalpresse beim Vergleich zwischen München und den karnevalistischen Hochburgen des Rheinlandes alljährlich windet und dann kolportiert, auch an der Isar sei der Fasching sehr wohl sehr ausgelassen und das würde halt nur nicht so sichtbar, weil sich das eben mehr inwändig abspiele und auf ein paar berühmte Bälle konzentriere, galten die Münchner unter der Herrschaft des strengen und bigotten Maximilian I. (reg. 1597-1651) international als dröge Spaßbremsen, die lieber in der Messe als beim „Zoch“ stünden.
Besonders auffällig wurde das im Jahr 1650/51: Damals reiste der bayerische Hofmeister Maximilian Freiherr Kurtz von Senftenau nach Turin, die Hauptstadt des Herzogtums Savoyen, um für den Sohn Maximilians I., den Erbprinzen Ferdinand Maria, um die Hand der Prinzessin Henriette Adelaide anzuhalten. Der Turiner Hof war weder riesig, noch besonders mächtig, betrieb aber im Ausgleich dafür eine sehr erfolgreiche politische Selbstdarstellung mittels einer weithin berühmten Festkultur. In den Wochen, in denen sich die bayerischen Gesandten in dem Herzogtum aufhielten, wurden sie beinahe täglich überschwemmt mit ihnen ganz unbekannten Spektakeln: Theater- und Ballettaufführungen, an denen – Kulturschock pur – die Hofdamen und selbst die Prinzessinnen mitwirkten, Reiterspiele in allegorischen Kostümen, festliche Umzüge, Feuerwerk… Kurtz geriet in Panik und schrieb nach Hause, wenn im folgenden Jahr Henriette Adelaide zur feierlichen Vermählung nach Bayern käme und die Augen der adeligen Welt sich mit hochgezogenen Augenbrauen auf München richten würden, müsse man dort dringend eine Schippe Kohlen auflegen, um im internationalen Vergleich der Spaßkulturen mitziehen zu können.
In der Residenz reagierte man gewohnt humorlos, gab sich aber einsichtig und setzte mit dem Eifer von Dilettanten alle Hebel in Bewegung – in einem alten Kornspeicher an der nah gelegenen Salvatorkirche wurde mit dem Bau eines ersten bayerischen Opernhauses begonnen. Man studierte ein mythologisch-allegorisches Stück ein, das die Hochzeit verherrlichte und für den Anlass eigens geschrieben – besser: zusammengeschmiedet wurde. Auch sonst legte man sich ins Zeug, dennoch war der Anfang holperig: Kurz vor Henriette Adelaides Ankunft starb ihr Schwiegervater Maximilian, die Hoftrauer bremste die geplanten Feierlichkeiten ziemlich aus. In den Folgejahren aber legte München, tatkräftig angeleitet von der neuen Kurfürstin aus Savoyen, energisch nach und entwickelte sich zu einem festlichen Hot Spot innerhalb des Alten Reiches. Und die Hauptsaison war eben die Karnevalszeit, in der ausgelassenes Feiern, das Spielen mit Grenzen und deren Übertretung ein Stück weit institutionalisiert waren – als vorgreifende Kompensation für die lange, rigide Zeit der vorösterlichen Askese.
Das Theater und besonders die neue Kunstform der Oper standen auf der Liste der alljährlichen Karnevalsvergnügen weit oben an der Spitze – gingen doch hier Hochkultur und spektakuläre Herrschaftspropaganda zusammen mit einer leichten Anrüchigkeit: Künstler aus dem fremden, also vermutlich sündhaften Italien, Männer in Frauenkleidern (Kastraten), illusionistisch gemalte Bühnenbilder, die sich durch das unsichtbare Wirken einer unverständlichen Mechanik wie durch Zauberhand ständig verwandelten – es war prickelnd und wie heutiges Blockbuster-Kino: je nach betriebenem Aufwand „Star Wars“ plus „Herr der Ringe“ – LIVE…
Für diejenigen, die dem fremdsprachigen Gesang und dem stundenlangen Stehen in dem überhitzten, ungelüfteten Opernhaus weniger abgewinnen konnten, bot die Winters- namentlich die Karnevalszeit aber auch noch ein anderes, hoch beliebtes Highlight:
Gruppenausfahrten in prächtig dekorierten Prunkschlitten, von Pferden gezogen über Schnee und Eis, am liebsten aber im raschen Tempo quer durch die Münchner Straßen und an den Augen der neidischen Bürger vorbei! Anders als im Falle der spektakulären barocken Theateraufführungen, von denen nur noch die meist unvollständig überlieferten Partituren und die Kupferstiche der verschiedenen Bühnenbilder ein schwaches Echo vermitteln, können wir uns von dieser „Münchner Version“ kostümierter Faschingsumzüge heute noch ein gutes Bild machen: Im Marstallmuseum in Schloss Nymphenburg haben sich mehrere dieser barocken Prunkschlitten des kurfürstlichen Hofes aus dem 17. und 18. Jh. erhalten. Verziert mit mythologischen Figuren wie Herkules, Diana und dem frechen Liebesgott Amor, farbig gefasst und vergoldet, vermitteln die reich geschnitzten und weich gepolsterten Gefährte einen lebhaften Eindruck von dem prachtvollen Anblick, den eine solch prächtige Kavalkade im Fackelschein auf dem weißen Schnee, untermalt von Schellengeläut und Fanfarenstößen geboten haben muss. Nach drei Jahren aufwendiger Restaurierungsarbeiten können die Prunkschlitten übrigens seit ein paar Tagen in neuer musealer Präsentation im Marstallmuseum bewundert werden. Warum also den persönlichen Faschingszug nicht mal auf einen närrischen Abstecher Richtung Nymphenburg steuern!