Derzeit wirkt die Fassade entlang der Residenzstraße für den aus Norden kommenden Wanderer oder Radfahrer etwas schlichter als sonst. Schon seit einiger Zeit fehlen über dem linken Portal, das Zugang zum Kaiserhof gewährt, die sonst auf dem Gebälk lagernden Frauengestalten.
So wie im letzten Jahr die vier Löwen, die vor den Toren Wache halten, restauratorisch behandelt und abgeformt wurden, um die gefährdeten Originale durch Kopien aus künstlich patinierter Bronze ersetzen zu können, sind in einer derzeit laufenden Kampagne die darüber angebrachten allegorischen Skulpturen an der Reihe. Auch sie haben jahrzehntelang unter der zunehmenden Umweltbelastung gelitten und sind mehr als fällig, in die Werkstatt zu wandern. Anders als die Löwen, die noch im Ausgang des 16. Jahrhunderts gegossen wurden, und ursprünglich für ein anderes Projekt – das (unvollendet gebliebene) Grabmal Wilhelms V. – vorgesehen waren, sind die vier überlebensgroßen Bronzejungfrauen so wie die Muttergottes in der zentralen Fassadennische um 1616 fertiggestellt worden. Damals kamen die Arbeiten an der von Maximilian I. (reg. 1597-1651) in Auftrag gegebenen neuen Westfassade der unter ihm großzügig erweiterten Residenzanlage zum Abschluss. Der bronzene Figurenschmuck bildete bei der Gestaltung dieser langen, nur durch Architekturmalerei gegliederten Fassade, die man auch damals nur in der Schrägsicht von der engen „Schwabinger Gasse“ (der heutigen Residenzstraße) wahrnehmen konnte, das wichtigste Element.
Mit den bedachtsam angeordneten Skulpturen formulierte Maximilian nämlich an prominenter Stelle und für jeden Betrachter gut sichtbar sein Verständnis von Herrschaft. Natürlich sind die vier Damen, die die Tore bewachen und dem Eintretenden hoheitsvoll auf den Scheitel blicken, nicht irgendwer, sondern die Crême der la Crême der symbolischen Verzierungen. Es handelt sich um die vier weltlichen Kardinaltugenden, die die drei vom Apostel Paulus aufgezählten „theologischen“ Tugenden – Glaube, Liebe, Hoffnung (genau: „diese drei“ aus dem Konfirmandenspruch…) ergänzen: Nämlich Prudentia „Klugheit“ und Gerechtigkeit „Justitia“ über dem linken Portal und Stärke „Fortitudo“ sowie Mäßigkeit „Temperantia“ über dem rechten, südlichen.
Klar, dass diese vier guten Eigenschaften, über die den Quellen zufolge auch schon der eine oder andere Heide verfügte, für den frommen Maximilian als einem wichtigen Exponenten der Gegenreformation ohne die Stütze der Religion wenig galten: Entsprechend sind die vier Tugenden um ihre Herrscherin, Maria, die das segnende Christuskind trägt, und durch die Inschrift als „Patrona Boiariae“, als Patronin des Bayernstamms, ausgewiesen ist, angeordnet. Maximilian und seine Berater wünschten aber, dieses stringente, aber noch etwas allgemeine Regierungsprogramm, zusätzlich inhaltlich etwas zu unterfüttern: Deshalb wurden den Löwen Kartuschenschilde in die bronzenen Pfoten gedrückt, auf denen sinnbildliche Reliefdarstellungen die Wirkung der jeweils darüber thronenden Tugend noch etwas illustrierten und mit kurzen lnschriften dem Lateinkundigen ein paar Nüsse zu knacken gaben: So umfasst zum Beispiel die (derzeit abgebaute) Figur der Klugheit das Steuerruder, mit dem sie das Staatsschiff lenkt. Auf ihrer Brust glänzt ein Stern. Das Kartuschenrelief darunter zeigt ein Schiff, dessen Steuermann sein Ruder nach dem Stern über ihm ausrichtet, dem „Meerstern“, Stella Maris, – ein Ehrentitel Mariens.
Die Justitia neben ihr ist etwas rabiater: Sie droht mit dem Richtbeil und einem Kranz bitterer Wermutblätter, die dem Schuldigen sauer aufstoßen sollen: Die Sonne zwischen den Pfoten des Löwen hilft da wenig: Der lateinische Spruch „Supera simul et infera“ – sie bescheint/trifft Hohe und Niedrige, klingt zwar gerecht, hat aber einen säuerlichen Beigeschmack, der perfekt zum Regierungsstil des strengen und den Quellen zufolge komplett humorfreien Maximilian passt.
Dass stetes Mahnen müde macht, wissen nicht nur die Eltern Dreijähriger, und so freuen wir uns, unserem allegorischen Damenquartett, das die Passanten stets zu moralischen Höchstleistungen auffordern muss, etwas Wellness nach den Jahrhunderten sittlicher Observanz gönnen zu können – wir hoffen auf eine baldige, erfrischte, vielleicht etwas milder gestimmte? Wiederkehr!