Vielen Besuchern der neuen Silbersammlungsräume im Obergeschoss des Königsbaus der Residenz fällt als Erstes ein überaus reich verzierter, runder Deckeltopf aus vergoldetem Silber mit Schöpfkelle und Untersetzplatte auf: Über und über sind die schimmernden, gewölbten Flächen mit kunstvoll ineinander verschlungenen Flechtmustern verziert. Sie ermöglichen eine Datierung ins frühe 18. Jahrhundert und erweisen das kostbare Stück als ein künstlerisches Produkt des sogenannten „style Bérain“ (nach dem einflussreichen Dekorationskünstler Jean Bérain) bzw. des „Régence-Stils“ (nach dem Regenten Philipp II. von Orléans, der 1715/23 in Paris die Regierung für den unmündigen König Ludwig XV. führte). Diese Jahre markieren in Frankreich den Übergang vom festlich-schweren Barock Ludwigs XIV. zum beschwingten Rokoko. Angefertigt wurde der zwar kleine, aber prunkvolle Silbertopf für Bayerns Kurfürsten Max Emanuel (reg. – mit Unterbrechungen – 1679 bis 1726), dessen zeitweiliges „Arbeits-Wappen“ als nomineller Gouverneur der Spanischen Niederlande (Belgiens) mittig auf der Wandung prangt.
Französische Silberwaren konnte sich Max Emanuel in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts besonders leicht beschaffen, da er sich aufgrund seiner hasardierenden Kriegspolitik damals im französischen Exil aufhielt und dem damals schon recht glanzlosen Sonnenkönig auf den Nerven und der Tasche lastete. Kein Grund jedoch für den aus Bayern vertriebenen, aber in Wartestellung verharrenden Wittelsbacher, auf Luxus und modernste Tafelzier zu verzichten. Und um solche handelt es sich bei dem schmucken Silbergefäß, den letzten Schrei, bzw. den Umständen angemessen, den „dernier cri“ aktueller Tischkultur: Es ist ein „pot d’ouille“, bestimmt für die angemessen edle Darreichung der einst international berühmten „spanischen Suppe“ – „Olla podrida“ oder im feinen Französisch: „ouille“!
Wie kam’s? Alles fing bescheiden und vermutungsweise mit viel leckerem Knoblauch an: Parallel zum Aufstieg Spaniens und der dort regierenden Habsburger zur beherrschenden Weltmacht des 16. Jahrhunderts begann auch der Siegeszug eines am Madrider Hof beliebten Gerichts, das bald als fashionabler Höhepunkt der Speisefolge auf vielen europäischen Herrschertafeln regelmäßig seinen Platz finden sollte: – bewusster Suppe nämlich. An sich ein erstaunliches Phänomen, hatten doch ordinäre Suppen ursprünglich auf den Tischen des Adels, der stolz auf sein Jagdrecht war und vor allem Fleisch-und Wildgerichte favorisierte, nicht zu suchen! Und tatsächlich handelt es sich bei der aromatischen Brühe mit wechselnder Einlage im Kern eigentlich ursprünglich um ein abgewandeltes und verfeinertes Eintopfgericht der bäuerlichen Küche.
Dort wanderte nämlich letztlich früher oder später alles Verwertbare (oder was so aussah) in den einzigen, Tag und Nacht über dem Feuer hängenden Kessel, in dem schließlich Vieles von Vielem in wechselnder Zusammensetzung schwamm. Das duftete wohl so manches Mal höchst appetitanregend. Andererseits lässt es tief auf den ungewissen Grund besagten Kessels blicken, dass „Olla podrida“ wörtlich als „verfaulter Topf“ übersetzt wird… Allerdings verabschiedete sich das Gericht, je ferner es den Hütten und näher an den Palästen aufgetischt wurde, von seinen Salmonellenlastigen Wurzeln und kombinierte zunehmend Masse mit Klasse: Bereits im 16. Jahrhundert beeindruckte das künftige Prestigeessen durch eine mittlerweile ziemlich abnorme Anzahl benötigter Zutaten, die mit dem fortlaufenden Aufstieg der „Olla“ zu höfischen Ehren immer exquisiter wurden. So listete der Mainzer Hofkoch Marx Rumpolt, dem wir ein 1581 gedrucktes „new kochbuch“ verdanken, darin sage und schreibe 90 Zutaten für die südliche Suppe auf, die er „gut für König und Kaiser, für Fürsten und Herren zu geben“ befand.
Neben vielerlei Gemüse, Innereien und Geflügel verlangte er auch nach so rare Einlagen wie Fleisch vom Steinbock, dem Krammetsvogel und der Gams, die der Jäger ja auch erst einmal erwischen musste. Dazu reichlich von den duftenden, würzigen Erzeugnissen „der Indien“: teuren Muskat, Ingwer, Safran… Später nahm die Anzahl der Zutaten zwar ab – die Gams durfte leben. Dafür wurden die verbleibenden Ingredienzen aber eher noch hochwertiger. Selbst an der Wende zum 20. Jahrhundert wanderten für das am Wiener Kaiserhof favorisierte Rezept immerhin noch 29 verschiedene Fleisch- und Gemüsesorten in den Kochtopf!
Doch bis dahin sollte es noch dauern, denn der Weg in den Suppenhimmel führte nicht primär über Wien, sondern, wie für Haute Cuisine üblich, über Frankreichs gourmetbelagerte Herdstellen: Es war die Versailler Tafel Ludwigs XIV., der mit einer spanischen Prinzessin verheiratet war, und dessen Hof spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in Fragen der Mode und des Geschmacks international den Ton angab, von wo aus die kostspielige Edelsuppe endgültig auf den regulären Speiseplan europäischer Fürstlichkeiten gelangte.
Und es war auch in Frankreich, wo spätestens um 1670 dann auch erstmals eigene, kostbare Gefäße für die neue Luxusspeise auftauchten: Runde Deckeltöpfe aus Silber, die „pot d’ouille“, also „Topf für die Olla“, genannt wurden. Angeblich ging es dabei nicht nur ausschließlich um Pracht, sondern auch um Küchentricks: Denn schließlich wurden die Zutaten nicht nur viele Stunden langsam über mildem Feuer ausgekocht, um auch die feineren Aromen aus ihnen herauszulösen und zu einer vielfältigen Geschmacksmischung zu vermählen. In in der letzten Phase der Zubereitung sollte die Suppe zudem eigens in silbernen Gefäßen erhitzt werden, weil das Anhängen an der Edelmetallwandung dem Gericht geschmacklich den letzten, den entscheidenden Pfiff verlieh (vermutlich ein – offenbar gesuchter – bitterlicher Beigeschmack, der oft beim Speisen auf Silbertellern bemerkt wird).
Es waren die anfänglich noch kleinen Pots d’ouille, aus denen sich im Lauf mehrerer Jahrzehnte die reich geschmückten Deckelterrinen aus Silber oder Porzellan entwickelten, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert zum zentralen Blickfang der festlichen Tafel wurden – zumindest während des ersten Ganges, denn die teure Spanische Suppe war ein klassisches Eröffnungsgericht.
Erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor diese Fürstenspeise ihre einstmals beherrschende Stellung, aber noch 1858 führt der Münchner Hofkoch Rottenhöfer in seinem erfolgreichen Kochbuch ein immens aufwendiges Rezept für die heiße würzige Brühe auf – als klassisch-festliches Zwischengericht der gehobenen Gesellschaft…