Wenn sich heutige Besucher unter der beeindruckend breiten Wölbung des Antiquariums aus der Höhe herab beobachtet fühlen, trügt sie dieses Gefühl nicht. Denn während die Aufseher nur mit freundlicher Diskretion darauf achten, dass niemand die breite Sitzbank aus rötlichem Marmor als Spazierweg missdeutet und aus den kalten Marmoraugen der aufgereihten Kaiserbüsten allein blasiertes Desinteresse gegenüber dem des höfischen Lateins kaum kundigen Fremdling strahlt, spähen vom Scheitel des Gewölbes 16 kritische Augenpaare auf ihn herab.
Dort nämlich lagern auf Holz gemalt allegorische Frauengestalten zwischen Wolken. Allein – es sind nicht irgendwelche Nymphen, sondern die Powerfrauen einer symbolischen Bilderwelt, die von Alters her bekannt, sich in der Frühen Neuzeit, in Renaissance und Barock zu voller Pracht entwickelte. Es handelt sich um sinnbildliche Darstellungen der Tugenden. Was die strengen Damen an der Decke eines Gebäudes zu suchen haben, das der Bauherr, Bayernherzog Albrecht V. (reg. 1550-1579), als Aufstellungsort für seine antiken Sammlungsschätze plante (woher der von eiligen Fremdenführern gern zu „Aquarium“ verballhornte Name Antiquarium rührt), ist rasch erklärt: Albrechts Sohn und Nachfolger Wilhelm V. (reg. 1579-1597) ließ die väterlichen Altertümer meistenteils umquartieren und nutzte das repräsentativen Gewölbe als Bankettsaal. Zu diesem Zweck ließ er den Raum üppig dekorieren und von seiner italienisch- niederländischen Mannschaft von Hofkünstlern mit einem Bildprogramm ausstatten, das auf ihn als erfolgreichen und gottgewollten Landesherrn zugeschnitten war.
Während die längs der Wände gereihten Imperatorenbüsten einen ideellen Anspruch der Wittelsbacher auf die von den Römern ererbte Kaiserkrone anmeldeten, eröffnete der Blick in die Fensternischen eine Übersicht der bayerischen Hausmacht in Gestalt der dort gemalten Städte, den (zumindest im Bilde) wehrhaften Burgen und befestigten Plätze.
Dass auch der göttliche Zuspruch und die moralische Eignung zur Herrschaft nicht fehlten, sollte schließlich der gemalte Katalog der Tugenden ausdrücken, die sich über Wilhelms Haupt in seiner prächtigen Wohnstatt versammelten. Und zwar mit dem typisch bajuwarischen Hang zur Bescheidenheit ein rechter Haufen – denn bei der Tugend macht eben die Masse die Klasse – wiewohl streng hierarchisch geordnet: Die Hauptrolle spielen die drei „theologischen“ Tugenden, die der Apostel Paulus schon in seinem Brief an die Korinther hervorhebt: Glaube, Liebe, Hoffnung. Es folgen wie an der römischen Kurie hinter dem päpstlichen Chef die eher weltlich ausgerichteten „Kardinals“-Tugenden, die die Serie zur symbolischen Siebenzahl ergänzen: Klugheit, Mäßigung, Gerechtigkeit und Stärke bzw. Tapferkeit.
In München kommt nun aber zu diesen herrschaftlichen „Alltagstugenden“, die sich alle in der westlichen Saalhälfte über dem einstigen Standort der Fürstentafel versammeln, noch einmal eine ganze Mannschaft der Damen hinzu, die einer oder mehreren der Haupttugenden assoziiert sind, sodass die Decke des lang gestreckten Saalbaus gleichmäßig bevölkert werden kann. Es treten auf: Standhaftigkeit, Wahrheit, Keuschheit, Demut, Mildtätigkeit, Geduld, Enthaltsamkeit und Gehorsam. Im Zentrum der Decke schwingt die Ruhmesgöttin Fama mit starker Lunge und aufgeblasenen Backen, allerdings ohne Presseausweis, ihre Trompete, um die Vorbildlichkeit, mit der in München regiert wurde, aller Welt bekannt zu machen. Und Famas Aufgabe ist nicht einfach – denn wie sollen dem Betrachter die abstrakten Begriffe, die hier miteinander in komplexe Beziehungen treten, in allgemein verständlicher Form im Medium der Malerei verdeutlicht werden? Hierfür kam eine unendliche Fülle von sprechenden Bildzeichen zum Einsatz, um das durchgehende Motiv – Frauengestalt zwischen Wolken – als jeweils eindeutig benennbare Personifikation zu charakterisieren. Zu großen Teilen verwertete diese Symbolsprache die Ergebnisse humanistischer Erforschung der antiken Schriften und Kunstwerke. Die Antiquariumsmalereien erschienen so seinerzeit als hochmoderne Kunstschöpfungen auf der Höhe aktueller Mode und Studien:
Beispielsweise posaunt die kräftige Fama, deren fliegender Körper in kühner perspektivischer Verkürzung gezeigt wird, den Wittelsbacher Ruhm mit einer Trompete aus, die mit Augen und Ohren verziert ist. Damit greift der Maler wörtlich die Beschreibung der Göttin auf, wie sie die antiken Dichter Ovid und Vergil geben: Letzterer schildert Fama, das Gerücht, wenig freundlich als „Ungeheuer, schrecklich, unmenschlich groß, an dem so viele Federn sind, so viele wachsame Augen sind darunter, so viele Zungen, ebenso viele Münder ertönen, so viele Ohren spitzt sie…“
Erst ein Jahrzehnt, nachdem die Erstausmalung des Antiquariums 1583 in Angriff genommen worden war, sollte die rätselhafte Bildwelt der frühneuzeitlichen Allegorien schriftlich fixiert und lexikalisch aufgearbeitet werden in der vielfach übersetzten „Iconologia“ des Cesare Ripa (Erstausgabe 1593). Noch heute hilft uns das seinerzeit immens einflussreiche Nachschlagewerk, die starken Frauen im alten Festsaal der Residenz zu bestimmen: Da gießt „Temperantia“, die Mäßigung, aus einer Kanne Wasser in ihren Wein, und die vertrauensvolle „Spes“ lehnt sich auf ihren sprichwörtlich gewordenen Anker der Hoffnung.
Auch die „Justitia“ mit der Wage der Gerechtigkeit und die (Nächsten)Liebe „Caritas“, die sich um ihre kleinen Puttenkinder kümmert, sind einigermaßen schnell zu identifizieren. Es gibt aber auch härtere Brocken, wie die „Demut“ – „Humilitas“: Die hat man mal so eben zu erkennen an ihrem aschenfarbenen Gewand, der Krone, die sie von sich tritt, und dem Lamm als Symbol Christi, der demütig den menschlichen Opfertod am Kreuz akzeptiert. Auch die Standhaftigkeit – „Constantia“ – ist eher kniffelig: Ihr Charakter drückt sich durch den stabilen Steinquader auf dem Knie aus, dem die rinnende Sanduhr – Zeichen der Vergänglichkeit – nichts anzuhaben weiß.
So stellt sich der Gang durchs Antiquarium als Rate- und Lesestunde in der Kunst der frühbarocken Emblematik dar, aus der sich zahlreiche alte Überzeugungen und bis heute geltende Sprichwörter und Metaphern erhellen. Einmal „eingelesen“ wird man denselben Symbolen an unterschiedlichsten Stellen wiederbegegnen – den Kardinaltugenden etwa schon beim Verlassen der Residenz über den Portalen der Westfassade oder im Bildprogramm des Kaisersaals.
Schließlich sind sogar die himmlischen Damen im Antiquarium mit ihrer unausgesprochenen Mahnung an den Betrachter immer wieder verjüngte Abbilder ihrer selbst: Der ersten Freskoausführung durch die Mitarbeiter des Friedrich Sustris unter Wilhelm V. folgte eine Neufassung des Tugendzyklus unter Maximilian I. um 1615/20, diesmal von der Werkstatt des Pieter Candid auf Holz gemalt, die erst im frühen 20. Jh. wieder von der Decke genommen und eigelagert wurde. Zum Glück: Denn als die wilhelminischen Originalfresken im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt wurden, waren es die maximilianischen Holztafeln, die man hervorholte, um bis heute an Ort und Stelle die nur wenig älteren Wandmalereien zu ersetzen – wer sagt da noch, Tugend könne weder dauern, noch sich erneuern?