„Et ego in Arcadia“: „Auch ich [bin/war] in Arkadien“ – so hat es Goethe der 1816/17 erschienenen Publikation der „Italienischen Reise“ vorangestellt, seinen (redigierten) Erinnerungen an den lang ersehnten Aufenthalt in Rom und Neapel in den Jahren 1786/88, – wobei die paradiesische Hirtenlandschaft des griechischen Arkadien (im 18. Jh. übrigens ein eher trister Landstrich) symbolisch für Italien als den ewigen Sehnsuchtsort der deutschen Künstler steht. Dabei hätte der berühmte Dichter aber auch gut im Kleingedruckten noch ein „et ego in Monaco“ einschieben können, denn auf der hastigen Hinreise in den Süden besuchte er auch kurz München!
Goethe war zu dem Zeitpunkt 37, also zumindest für damalige Verhältnisse nicht mehr taufrisch. Er war einflussreicher Hofrat in Weimar, zwar noch nicht der spätere Dichterpatriarch und „Olympier“, aber schon einer, wenn nicht der bekannteste Schriftsteller Deutschlands – und in einer veritablen Sinn- und Schaffenskrise! Ausgepowert von seinen diversen Pflichten und der ebenso enervierenden wie platonischen Dauerbeziehung zu Charlotte von Stein nutzte er einen Aufenthalt im böhmischen Carlsbad, um im Spätsommer 1786 in einer Nacht- und Nebel-Aktion allein und fluchtartig nach Süden aufzubrechen. Sein Ziel war, so schnell wie möglich die Alpen zu überqueren und frühestens in Venedig kurz zu verschnaufen. Es war mithin klar, dass auf dem Weg zum Brenner für einen Aufenthalt in der Residenzstadt des Kurfürstentums Bayern nur wenig Zeit bleiben würde.
Aber was wurde eigentlich dem international tourist traveller, der im 18. Jahrhundert München besuchte, als „must see“ empfohlen? Blicken wir in das beliebte Kompendium von Joseph Sebastian Rittershausen „Die vornehmsten Merkwürdigkeiten der Residenzstadt München für Liebhaber der bildenden Künste“ (Ausgabe 1787), so stellen wir voll Stolz fest, dass (vielleicht in Ermangelung des noch nicht eingeführten Oktoberfests) – als erstes Highlight „Die kurfürstliche Burg“, also die Residenz, auftaucht. Danach werden dem Reisenden die „bequem erreichbaren“ Kirchen und die dort verwahrten Kunstschätze aufgelistet, Augustinerkirche, Dom, St. Michael, Bürgersaal, Kapuzinerkirche usw. Die zweite Hälfte des Führers füllt die Beschreibung des „Saales der Altertümer“, d. h. des Antiquariums in der Residenz, und der kurfürstlichen Gemäldegalerie am Hofgarten. Vor allem an diesen zweiten Teil des Buchs scheint Goethe sich gehalten zu haben – Kirchen interessierten ihn später in Rom meistens auch nicht übermäßig, und die Residenz zu besichtigen war nur mit einigem Vorlauf und in Begleitung eines Hofbedienten, der entsprechend bezahlt werden musste, möglich.
Richtig eingeschlagen – man muss es leider so sagen – hat die Stadtbesichtigung bei dem Dichter nicht. Vielleicht war er auch müde: Am 5. September war er mittags von Regensburg aufgebrochen und am nächsten Morgen um 6 Uhr in München angekommen – trotz der sehr guten, glatten Straße (Goethe lobt sie ausdrücklich) natürlich keine ideale Voraussetzung für den folgenden Marathon. Lassen wir den Meister selbst zu Worte kommen:
„…nachdem ich mich zwölf Stunden umgesehen, will ich nur weniges bemerken. In der Bildergalerie fand ich mich nicht einheimisch; ich muss meine Augen erst wieder an Gemälde gewöhnen. Es sind treffliche Sachen. Die Skizzen von Rubens von der Luxemburger Galerie haben mir große Freude gemacht. Hier steht auch das vornehme Spielwerk, die Trajanische Säule in Modell. Der Grund Lapislazuli, die Figuren verguldet. Es ist immer ein schön Stück Arbeit, und man betrachtet es gern.“
Das hört sich nur so là-là an: Die Gemäldesammlung, die ein halbes Jahrhundert später in die unter Ludwig I. errichtete Pinakothek umziehen sollte, war während der Herrschaft des Kurfürsten Karl Theodors (reg. 1777-1799) noch nicht lange im nördlichen Galeriebau des Hofgartens untergebracht. Goethe favorisierte zu diesem Zeitpunkt noch eindeutig die niederländische Malerei, die er in seiner Jugend in Frankfurt kennen und schätzen gelernt hatte. Vermutlich sprachen ihn daher primär die (natürlich wirklich wunderbaren, aber relativ kleinen) Rubensskizzen für den einstigen Bilderzyklus des Pariser Palais de Luxembourg an – bis heute ein besonderer Schatz der Alten Pinakothek. Die vergoldete Miniaturkopie der römischen Trajanssäule galt ihm hingegen natürlich schon als erster Gruß vom ersehnten Reiseziel und wurde deshalb wohlgefällig, wenn auch mit etwas maliziösem Unterton vermerkt. Heute steht das kostbare, 1774/80 gefertigte Stück in der Schatzkammer der Residenz – und beeindruckt immer noch durch die akribische Feinheit seiner Ausführung.
Mit Blick auf das Antiquarium, das dem Reiseführer Rittershausen „die Seele erschütterte“, vermerkte Goethe:
„Im Antikensaale konnte ich recht bemerken, dass meine Augen auf diese Gegenstände nicht geübt sind, deswegen wollte ich nicht verweilen und Zeit verderben. Vieles sprach mich gar nicht an, ohne dass ich sagen könnte warum. Ein Drusus erregte meine Aufmerksamkeit, zwei Antonine gefielen mir und so noch einiges. Im Ganzen stehen die Sachen auch nicht glücklich, ob man gleich mit ihnen hat aufputzen wollen, und der Saal oder vielmehr das Gewölbe ein gutes Ansehen hätte, wenn es nur reinlicher und besser unterhalten wäre.“
Die sublime Sprache des Dichterfürsten heruntergebrochen hieß das wohl, dass eine seiner ersten Begegnungen mit der geliebten Antike, auf die das ganze italienische Reiseprojekt ja hinzielte, sich als kompletter Reinfall erwiesen hatte: Der klassizistischen Kunstanschauung Goethes war die frühbarocke Ästhetik des unter Wilhelm V. und Maximilian I. Ende des 16./Anfang des 17. Jh. eingerichteten Sammlungs- und Festsaals offensichtlich ein Graus, oder doch zumindest unverständlich.
Schon am nächsten Tag ging es dann weiter, der Sonne folgend auf dem Weg in den Süden. Auch später in Rom hat der Dichter übrigens das „moderne“, also das barocke Rom mit seinen wenig geliebten Bauten, die ihm den Blick auf das antike Ruinen-Erbe versperrten, stets geschickt wegimaginiert, oder in der „Italienischen Reise“ zumindest seinen Lesern gegenüber diesen Eindruck erweckt.
Die künstlerischen Impressionen, die Goethe in Bayern empfangen hat, bleiben demnach überschaubar – wir sind aber trotzdem stolz auf den literarisch dokumentierten Besuch des berühmten Mannes und dichten froh (und grammatikalisch frei): „Et in Residenz(ium) Goethe!“