So mancher, der heute durch die über 120 Schauräume unserer Residenz wandert und die oft gleich mehrfach vorhandenen, prachtvoll ausgestatteten Schlafzimmer, Schreibkabinette, Festsäle und Vorzimmer bewundert, vermisst in diesem ganzen höfischen Ausstattungsluxus oft zwei Sorten von Gemächern, die mittlerweile zum wohnen einfach dazugehören: Badezimmer und ein Raum für die täglichen Mahlzeiten. Das Fehlen von repräsentativen und kommoden Badezimmern in unserem Schloss ist ein betrübliches und etwas anrüchiges kulturhistorisches Thema, das demnächst einmal in einem eigenen Beitrag behandelt werden soll. Die vergebliche Suche nach einem gemütlichen Esseckchen für den bayerischen Kurfürsten und seinen Hofstaat hat hingegen seine eigene Geschichte:
Obwohl die deutschen Höfe der Frühen Neuzeit im benachbarten Ausland generell als ziemlich verfressen und insbesondere was den Alkoholkonsum bei Tisch anging, sogar für pathologisch gehalten wurden, hatte der fürstliche Esstisch bis ins 18. Jh. hinein keinen eigentlichen „festen“ Platz: Speiste der Herrscher „in publico“, also vor den Augen des (hungrigen) Hofstaats und mit dem ganzen Pomp des Zeremoniells, das jedes Heben des Glases und jeden Tellerwechsel in einen sakralen Staatsakt verwandelte, schlug man die Tafel in den großen Festsälen wie dem Antiquarium oder dem Herkulessaal auf.
Auch die Vorgemächer der Herrscherwohnung, die vielen Schaulustigen und dem langen Zug der Aufwartenden Platz boten, kamen in Frage. Wenn möglich, gingen die Münchner Wittelsbacher diesem Aufwand, der den Appetit wenig förderte, jedoch gern aus dem Weg und speisten „in der Cammer“, also auf provisorisch gedeckten Tischen in ihren Privatgemächern allein oder mit ihrer Familie bzw. wenigen ausgewählten Vertrauten.
Der Wunsch und die Möglichkeit, mit einer größeren Anzahl von Gästen gesellig und im Rahmen einer gelockerten Etikette zu verkehren, wuchs im Laufe des Jahrhunderts und setzte sich zunächst in den Landschlössern durch, wo während der höfischen „Sommerferien“, den „Campagnen“, weniger strenge zeremonielle Auflagen galten. Hier also tauchen zunächst eigene Speisesäle auf, in denen Herrscher und Höflinge entweder nach sozialem Rang geordnet oder sogar munter vermischt, auf alle Fälle aber gemeinsam Platz nahmen – eine klassische Rokoko-Idee, die sich eine Generation zuvor wohl kaum durchgesetzt hätte! Klar also, dass, als die neue Mode auch in die Residenz überschwappte, der Meister des höfischen Rokoko François Cuvilliés von seinem Brötchengeber, Kurfürst Max III. Joseph (reg. 1745-1777) beauftragt wurde, einen solchen Speisesaal zu gestalten. Für wie wichtig man das neue Projekt erachtete, ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass Cuvilliés, um den nötigen Platz nahe dem Herrschaftsappartement zu gewinnen, eine seiner früheren Raumschöpfungen zerstören musste, nämlich das den Quellen zufolge überaus wohlgelungene Prunktreppenhaus, das vom Erdgeschoss der Residenz in die Grüne Galerie führte! In die vormalige obere Treppenhalle wurde nun 1764 der neue Saal eingebaut, der durch zwei geschnitzte Türen in der Ostwand der Galerie erreicht werden konnte:
Fast quadratisch und von fünf Fenstern erleuchtet, prunkte er mit Wänden aus weißem Stuckmarmor und insgesamt zwanzig umlaufenden korinthischen Säulen samt Dekor aus vergoldeten Lorbeerzweigen. Dazwischen standen auf Sockeln vier Büstenpaare von der Hand des Hofbildhauers Charles de Groff, die die vier Erdteile darstellten, jeweils vertreten durch Mann und Frau, wobei die Fleischpartien, die Gewänder und der jeweilige Kopfputz aus farbigen Steinsorten zusammengesetzt waren. Dabei ging es weniger darum, den Gästen Lust auf asiatische Küche, amerikanisches Fast-Food oder orientalische Süßigkeiten zu machen, sondern den idealerweise universellen Machtanspruch des hier tafelnden Herrschers zu illustrieren, der auf die Luxusprodukte der diversen Kontinente zugreifen konnte.
Ihren Höhepunkt erreichte die glorifizierende Ausstattung in dem gewaltigen Deckenfresko des Hofmalers Balthasar Augustin Albrecht (1687-1765). Kurz vor seinem Tod schuf er hier noch einmal ein letztes Meisterwerk, das heute leider nur noch durch eine schöne Zeichnung in der Staatlichen Graphischen Sammlung München dokumentiert ist. Dargestellt war die göttliche Vorsehung, eine von Engeln getragene, verschleierte Matrone, die befahl, den Kopf einer üppigen Dame mit einem Sternendiadem zu bekrönen. Diese verkörperte das bayerische Kurhaus und saß in einem goldenen Wagen, den vier Wappen-Löwen zogen, deren Zügel niedliche Putten hielten. In rasanter Fahrt donnerte das Gefährt über die Personifikationen des Neides und der Zeit hinweg, so rasch, dass die Göttinnen des Überflusses und des Friedens mit ihren Gaben kaum Schritt halten konnten. Die Botschaft über den Köpfen der Tafelnden, die vor lauter Betrachten hoffentlich das Essen nicht vergaßen, war eindeutig: Gott selbst verlieh der Herrschaft der Wittelsbacher hier ewige Dauer! Wenn das nicht den Appetit anregte, was dann?
Leider war unserem schönen Speisesaal keine ewige Dauer beschieden: Schon die Errichtung des Königsbaus ab 1826 durch Leo von Klenze, der nicht grade als Liebhaber des Rokoko in die Architekturgeschichte einging, führte fast zur Vernichtung der Grünen Galerie und der angrenzenden Raumteile. Den endgültigen Todesstoß für den bereits Jahrzehnte zuvor nicht mehr benutzten Saal bedeutete schließlich der Einbau der neobarocken neuen Schatzkammer im Auftrag des Prinzregenten Luitpold ab 1896 (heute befindet sich hier die Museumskasse).
Heute muss man die wenigen erhaltenen Bruchstücke der einstigen Pracht suchen: Die Erdteil-Büsten stehen im Vestibule des Residenzmuseums. Die Zeichnung des Deckengemäldes verwahrt die Graphische Sammlung. Einige Stühle aus Max III. Josephs „Tafelzimmer“ finden sich heute im Neuen Schloss Bayreuth. Geblieben sind die Berichte von Cuvilliés untergegangener Schöpfung und die Frage, wo man in der Residenz denn dann im 19. Jh. speiste – aber das ist eine Frage für einen zukünftigen Bericht!