Otto hat es eilig: Im goldverzierten Harnisch, den Federhelm auf dem Kopf und die Fahne keck geschultert, ist er auf dem Weg in die Zukunft: Die entfaltet sich in diesem Fall im Hintergrund in Gestalt klettergewandter Krieger, die waghalsig auf senkrecht an einer steilen Felswand lehnenden Sturmleitern emporklimmen. Dargestellt ist ein für das Herrscherhaus der Wittelsbacher entscheidender historischer Moment, die Eroberung der Veroneser Klause im September 1155:
Damals blockierten die Gegner Kaiser Friedrich I. Barbarossas den engen Gebirgspass in den Südalpen, sodass der Staufer mit seinem Heer in der Falle zu sitzen schien. Nur der Einsatz seines Bannerträgers, des Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach, der die Höhenzüge in einem mutigen Handstreich besetzen konnte, ermöglichte dem Herrscher die sichere Rückkehr in die Heimat. Nicht zuletzt dieser Tat verdankte Otto einige Jahre später 1180 die Belehnung mit dem Herzogtum Bayern, das dann für siebeneinhalb Jahrhunderte mit wechselndem Glück und Geschick von seinen Nachkommen beherrscht werden sollte.
Kein Wunder also, dass das Andenken an Stammvater Otto von jeher hoch gehalten wurde im Hause Wittelsbach und namentlich in der Münchner Residenz. Und so sind es auch seine Taten, die auf einem der bedeutendsten Kunstensembles unseres Museums verherrlicht werden: Der bis heute in ungewöhnlich gutem Zustand erhaltenen Serie von insgesamt zehn golddurchwirkten Wandteppichen, von denen eine Auswahl heute in den frühbarocken Steinzimmern entlang des Kaiserhofs präsentiert wird. Auftraggeber war, wie so oft in der Geschichte unseres Schlosses, der ehrgeizige Bayernherzog und spätere Kurfürst Maximilian I. (reg. 1597-1651), der neben seinen anderen Kunstinteressen eine wahre, noch heute aus den Quellen (und den erhaltenen Beständen) ersichtliche Leidenschaft für teure Wandbehänge hegte. Zwischen 1604 und 1611 wurden die Otto-Teppiche von dem niederländischen Wirker Hans van der Biest und seinen Mitarbeitern in einer eigens gegründeten Manufaktur in München nach den Entwürfen des Hofmalers Peter Candid angefertigt.
In monumentalen Bildkompositionen und mit einer Fülle lebensgroßer Figuren, die fein in farbiger Seide sowie Gold- und Silberfäden ausgeführt wurden, sollte die Bedeutung des ritterlichen Ahnherrn angemessene Darstellung finden. Hintergrund des Auftrags war Maximilians ehrgeizige Bestrebung, eine dauerhafte Rangerhöhung seines Hauses durchzusetzen, was schließlich 1623 mit der Verleihung der Kurwürde gelingen sollte. Seine Ansprüche unterfütterte er dabei systematisch mit genealogischen und historiographischen Argumenten, die ihm z. B. der Augsburger Humanist und Geschichtsschreiber Marx Welser lieferte und die in der Teppichserie ihre bildliche Umsetzung fanden.
Mit Candid verfügte Maximilian zwar über einen talentierten Maler für die Herstellung der Bildvorlagen, der sogenannten „Kartons“ oder „Patronen“. Erfahrene Fachleute, die in den Niederlanden, dem Zentrum der europäischen Teppichwirkerei, gelernt hatten, konnten für die neue bayerische „Tapeterey“ hingegen nur unter massivem Einsatz diplomatischer Mittel gewonnen werden. Aber bis 1608 hatte man schließlich van der Biests ursprüngliche Mannschaft auf 20 Mitarbeiter aufgestockt, die jeweils zu zweit oder dritt an sieben Webstühlen tätig waren. Spezialisten unter ihnen, wie Lucas van Neuenhofen, waren für die diffizilen Partien, etwa die nuancierte Darstellung der ausdrucksvollen Gesichter, verantwortlich.
Nachlässigkeiten und Mängel in der Herstellung wurden von dem Kontrollfanatiker Maximilian nicht geduldet, der im Zweifelsfall ziemlich lautstark auf Nachbesserungen, z. B. mit besser gefärbten Seidenfäden bestand. Doch in diesem Falle lohnte sich der Arbeitgeber-Terror letztlich: Noch heute erreichen die differenzierten Übergänge und feinsten Farbnuancen der Teppiche die Anmutung sorgfältig ausgeführter Gemälde. Kein Wunder, kamen doch nur edelste Materialien zum Einsatz, vor allem eine wahre Masse von Gold- und Silberfäden, bei denen sich dünne Metallfolie um eine textile „Seele“ windet – und die das Dreifache eines Seidenfadens kosteten, insgesamt ca. 15.000 Gulden!
Mit ihren schimmernden Reflexionen tragen die verwobenen und in reichen Stickeffekten eingebrachten Goldfäden noch heute viel zur lebendigen Wirkung der textilen Historiengemälde bei. Vor allem bei Kerzenschein, der das Gold in vielfältiger Lichtbrechung schimmern ließ, muss der Anblick der damals noch in ungebrochener Farbintensität leuchtenden Behänge von traumhafter Opulenz gewesen sein.
Aufgrund des materiellen Werts und der dynastischen Bedeutung seines Bildprogramms nahm der Zyklus unter den über dreihundert Tapisserien, die 1638 in Maximilians Inventaren verzeichnet sind, fraglos den ersten Platz ein. Als einer der kostbarsten Bestände der Residenz dienten die Otto-Teppiche nicht der täglichen Ausstattung, sondern wurden sorgsam geschont. Nur für höchste Gelegenheiten holte man sie hervor, namentlich anlässlich der Besuche, die die Kaiser aus dem Hause Habsburg bei den bayerischen Vettern, ihren ewigen Rivalen, machten. Die besondere Liebenswürdigkeit bestand dann darin, den Kaiser, also den nominellen Lehnsherren des Wittelsbachers, zwar mit dem besten zu ehren, was man zu bieten hatte, ihm auf den goldschimmernden Teppichen aber zugleich Alter, Ruhm und Verdienste der eigenen Familie in höchster, unverschämter Kunstfertigkeit vor Augen zu führen!