In unserem letzten Beitrag zur Residenz haben wir die Hofkapelle vorgestellt – ein guter Aufhänger, um heute bei diesem Thema erneut einzusetzen, denn die Münchner Kapelle bezeichnete nicht nur einen prachtvollen Bau-, sondern auch einen institutionell wie personell beeindruckenden Klangkörper, der liturgisch ebenso wie weltlich musizierte. In Gestalt des berühmten Bayerischen Staatsorchesters existiert die „Hofkapelle“ letztlich bis heute fort und kann in diesem Jahr 2023 ihren 500. Gründungsgeburtstag feiern!
Wie das bei Jubiläen von ursprünglichen Verwaltungsakten häufig ist, fehlt uns das präzise Datum: Einen wohlklingenden Tusch, mit welchem an dem und dem Tag die „Kantorei unseres gnädigsten Herrn Herzog Wilhelms, vierter des Namens“ im Jahre des Herrn 1523 Anlauf nahm, findet sich in den historischen Dokumenten so wenig, wie zukünftige Forschung wohl später einmal exakt die feierliche landesweite Etablierung der Biotonne wird datieren können. Doch häufen sich 1523 in den herzoglichen Rechnungsbüchern Einstellungs- und Zahlungsbelege für neu auftretende „Musici“, unter denen besonders der zuvor in kaiserlichen Diensten beschäftigte Hofkomponist und „Musicus primarius“ Luwig Senfl (um 1490-1543) zu nennen ist.
Jedoch möchte der Autor, der Musik zwar in konventioneller Liebe huldigt, leider von der Materie aber kaum etwas versteht, an dieser Stelle gar nicht Senfl, den damaligen „Fürsten“ unter den deutschsprachigen Tonkünstlern („In musica totius Germaniae nunc princeps“) ins Auge fassen, sondern seinen international noch einmal ungleich bekannteren Nachfolger in der Leitung der Münchner Hofkapelle: Orlando di Lasso!
Als dieser ebenso vielseitige wie unglaublich produktive (und dank regelmäßig gedruckter Werkausgaben weithin bekannte) Komponist 1556 in den Dienst des bayerischen Herzogs Albrecht V. (reg. 1550-1579) trat, hatte er schon ein beeindruckendes Stück Biographie hinter sich: Geboren wohl 1532 im belgischen Mons, wurde der kleine Roland/Orlando früh als musikalisches Traummaterial erkannt und „ob seiner hellen, lieblichen Stimm“ bereits zweimal von frühmodernen Talentscouts entführt, bevor er 1544 seine Heimat dauerhaft im Gefolge des kaiserlichen Generals und Vizekönigs von Sizilien, Ferrante I. Gonzaga, verließ – zunächst Richtung Italien. Über Mailand und Neapel gelangte das junge Musikgenie entlang verschiedener Dienstverhältnisse ins päpstliche Rom, wo er 1553 mit nur zwanzig Jahren den Prestigejob eines Kapellmeisters der ehrwürdigen römischen Bischofskirche San Giovanni in Laterano erhielt. Vielleicht noch zu etabliert für den rastlosen Musikus? – denn kurz darauf finden wir ihn am englischen Tudorhof, in Frankreich und in der internationalen Handelsmetropole Antwerpen. Wohl hier, wo Orlando wichtige Kontakte zur lokalen Musikalienverlagsszene knüpfte, erreichte ihn der Ruf an den Münchner Hof – hinsichtlich der Urbanität für den universal sozialisierten Italo-Niederländer vermutlich nur bedingt ein attraktiver neuer Lebensmittelpunkt, und doch eine einmalige Chance, um mit der aktiven Unterstützung eines musikalisch lebhaft interessierten Landesherrn und versüßt durch großzügiges Gehalt ein luxuriös ausgestattetes Orchester zu leiten und zu formen.
Und tatsächlich fand Orlando in Albrecht V. sowie dessen Sohn und Nachfolger Wilhelm (V.) zwei Arbeitgeber, wie sie sich ein Hofkünstler der Epoche wohl nicht besser vorstellen konnte: Offen für Neues, begeisterungsfähig und ihrem weitgereisten, ebenso interessanten wie wortgewandten Hofkomponisten fast freundschaftlich verbunden – zumindest soweit es die Vorstellung eines Zeitalters, das in streng hierarchischen Kategorien dachte, zuließ. Vor allem aber waren beide Wittelsbacher, Vater wie Sohn, vollkommen unbedenklich, was die Bereitstellung finanzieller Mittel für ihre diversen Bau-, Sammlungs- und Kunstprojekte – in diesem Fall die machtvoll vergrößerte Hofmusik – anging: Unter Hofintendant Hans Jacob Fugger wurden flämische Sänger und bergamesische Violonisten für hohe Summen dauerhaft nach München engagiert und teure Instrumente aus „Welschland“ über die Alpen herbeigebracht: aus Venedig etwa eine Orgel und ein Manichord für schwindelerregende 200 Golddukaten. Daneben fallen die aus teurem Material gefertigten „helffenpainernen lautten“ und „Zipressen w(v)ieollen“ schon gar nicht mehr ins Gewicht. Der „Star“ der Münchner Musikalienkammer muss das aus dem Feinmechanik-Zentrum Nürnberg angelieferte „Geigen-Clavicymbel“ gewesen sein: ein Tasteninstrument, dessen Saiten wie bei einer Drehleier von einem Rad gestrichen werden und das in jeder Beschreibung der Albertinischen Hofkapelle Erwähnung findet. Täglich erklang nicht nur bei den höfischen Gottesdiensten, sondern auch während der herzoglichen Mahlzeiten Vokal- und Instrumentalmusik: Nachdem die ersten Speisen aufgetragen waren und alles saß, kehrte Ruhe ein, die Diener waren gehalten, regungslos zu verharren sobald die ersten Melodien ertönten. Zeitzeugen berichten voll Anerkennung, dass Orlandos geschulte Sänger den von ihm vorgegebenen Ton „nicht um drei Kommas in Höhe oder Tiefe verfehlten“ und dass der Herzog des Öfteren mit Essen aufhörte, um sich ganz dem Musikgenuss hinzugeben.
Tonlos war hingegen zunächst der Zorn der biederen Münchner Hofräte, die sich mit dem trockenen Alltagsgeschäft der herzoglichen Schuldenverwaltung befassen durften, und der angesichts dieser scheinbaren Geldverschwendung für ein gänzlich immaterielles und damit unnachhaltiges Vergnügen riesig gewesen sein muss. 1557 verschaffte sich ihr Frust schließlich in einer berühmten schriftlichen Kakophonie Luft. Diese Mahnung seiner Finanzverwaltung angesichts landesväterlicher Misswirtschaft perlte zwar weitgehend an Albrechts Selbstbewusstsein ab, veranlasste den ungnädigen Herzog trotz leerer Kasse aber immerhin zu hübschen Auslassungen zugunsten der holden Dame Musica:
„Unns wundert aber gar nitt, das euch das, so unns liebt, misfelt, dann es alzeit der brauch gewest, bey unserm vatter war das jagt, bey uns ist es die music, bey unnsern nachkomen wiert es ein anders sein […] hat nit gmaint, das witzig [= kluge] Leut so thoricht wern, sy wissen nit, das der grost lust musices di cammer music in orbe terrarum ist“.
Wäre Albrecht V. weniger an der Wahrung seiner Hoheitsrechte und mehr auf Ausgleich bedacht gewesen, hätte er als beruhigendes Argument ins Feld führen können, dass er in Gestalt Orlandos auf nur eine Planstelle ein Multitalent mit vielen verschiedenen Einsatzmöglichkeiten für den Hof verpflichtet habe: Dies zeigte sich besonders im Jahr 1568, als sich in München ein hochrangiges internationales Publikum zusammenfand, um die (gleichfalls ungeheuer kostspielige) Hochzeit des Erbprinzen Wilhelm mit Prinzessin Renata von Lothringen zu feiern, die prestigereichste und aufwendigste Festivität des bayerischen Hofes im 16. Jahrhundert: Während der mehrwöchigen Feiern wechselten glanzvolle Empfänge der wichtigsten Gäste, prächtige Gottesdienste, Bankette, Prunkjagden, spektakuläre Ritterturniere nebst burlesken Parodien solcher traditionellen Wettkämpfe in der Münchner Neuveste sowie in den Kirchen und auf den öffentlichen Plätzen der Stadt einander ab. Für die interessierte Nachwelt festgehalten wurde all dies nicht nur als tägliches mechanisches Puppentheater samt Glockenspiel am Münchner Rathausturm (seit 1909), sondern bereits Wochen nach den Ereignissen durch einen offiziellen Festbericht aus der Feder des Hofmusikers Massimo Trojano, der diese Sternstunde bayerischer Selbstdarstellung gebührend herausstrich und ins rechte Licht rückte – nicht auszudenken, In- und Ausland hätten den weißblauen Glanz übersehen!
In seinem dicken Kompendium widmete Trojano den Kollegen aus der Hofkapelle, die in den Tagen und Wochen der Fürstenhochzeit non-stop Dienst taten, nicht nur ein eigenes Kapitel, in dem er übrigens auch die berühmten illuminierten Pracht-Handschriften mit Orlandos Kompositionen beschreibt, die im Auftrag Albrechts V. angefertigt wurden und heute zu den Schätzen der Bayerischen Staatsbibliothek zählen. Er berichtet auch von Orlandos komödiantischem Schauspielertalent, das prominent gegen Ende der Feierlichkeiten zum Einsatz kam: Als sozialisierter Italiener war Orlando mit der dortigen Tradition der „Stegreif-Komödie“, der bis ins 18. Jahrhundert hinein erfolgreichen „commedia dell’arte“ vertraut:
Darin tritt – ein bisschen wie im heutigen Kasperle-Theater – ein fester Kanon von Charakteren aus verschiedenen sozialen Schichten in allgemein bekannten Grundkonstellationen auf, wobei die konkrete Handlung sowie der Text von den Darstellern und Darstellerinnen ohne festes Drehbuch variiert und ausgesponnen bzw. den Umständen der Aufführung angepasst werden: An einem Ende der sozialen Leiter stehen regelmäßig das aristokratische Liebespaar, der reiche, eifersüchtige Alte und der eitle, dumme Nebenbuhler einander gegenüber. Neben ihnen agieren als die „wahren Helden“ die „Zanni“: die männliche und weibliche Dienerschaft aus dem einfachen Volk, unter denen die berühmteste Figur der schlaue und verfressene Arlecchino/Harlekin ist. Er und seine Mitstreiter steuern entweder gutmütig ihre tölpelhaften oder befangenen Herrschaften dem Happy End entgegen, oder nutzen deren Schwächen klug zum eigenen Vorteil (und zur Freude der Zuschauer) aus. Dieses stehende Grundgerüst der Handlung machte die commedia der italienischen Wandertruppen zu einem internationalen Kassenschlager, der auch ohne Sprachkenntnisse funktionierte. Dabei half, dass ein Großteil der Scherze, befeuert durch die Gestik der übrigens durchgehend maskierten Schauspieler, deutlich unter der Gürtellinie stattfand und insofern universell verständlich war – das humoristische Potential sämtlicher Körperöffnungen und Körperflüssigkeiten wurde erbarmungslos ausgeschöpft und riss das Publikum in Hütten und Palästen gleichermaßen hin.
Klar, dass der Münchner Hof an dieser Gaudi Anteil haben wollte, und wie günstig, dass mit Orlando di Lasso ein Kenner der Materie, ein Organisator, Texter, Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person zur Hand war! Als casting director rekrutierte er aus dem Kreis der Hofkünstler und der begabteren Gäste seine sechs Mitschauspieler, die zum Teil mehrere Rollen übernahmen. Am 8. März 1568, Montagabends, war es dann soweit: „In Gegenwart der erlauchten Damen, von denen gleichwohl nicht alle die Sprache verstanden“ wurde die „improvisierte italienische Komödie“, die der Bräutigam Erbprinz Wilhelm befohlen hatte, zur Aufführung gebracht.
Vermutlich versammelte man sich im Georgssaal der Neuveste, einem prächtig ausgeschmückten Renaissance-Raum, der mit dem später errichteten Antiquarium und dem noch jüngeren Kaisersaal zu den großen Festlokalen der Residenz zählte – bis er 1750 (übrigens anlässlich einer höfischen Theateraufführung…) abbrannte. Orlando spielte den „Pantalone“, den komischen Alten und Modenarren, der traditionell in gelben Schuhen, Beinlingen und Wams in Rot nebst schwarzem Umhang auftritt, den Geldbeutel bedeutungsvoll in Höhe des Geschlechtsteils befestigt, mit spitzem Bart und oft mit Brille geziert. 1568 in München ist Pantalone sterblich verliebt in die schöne Camilla, die sich im Lauf der Handlung als ziemlich flatterhafte Person erweist und – wie damals üblich – von einem Mann hinter rosigweißer Wachsmaske verkörpert wurde, in diesem Fall dem Marchese Malaspina. Vor ihrem Haus trifft der ratlose Pantalone unerwartet mit seinem „verlorenen“ Diener Arlecchino zusammen und gemeinsam planen sie die Eroberung der prinzipiell willigen, aber kostspieligen Schönen. Mitbewerber und wechselnde Favoriten in Camillas Gunst sind der attraktive Polidoro sowie der überstolze Kampfhahn Don Diego de Mendoza – und schließlich unerwarteterweise Arlecchino selbst, denn für ihn entzündet sich die Dame ihrerseits, während der „Zanni“ eigentlich vor allem für Käseravioli schwärmt.
In seinem Buch gibt uns Trojano, der gleichfalls mitspielte, die drei Akte der Aufführung in Länge und Breite wieder: Missverständnisse unter Liebenden, verfrühte Heimkehr, feige Duellanten und ein Sack als Versteck spielen wichtige Rollen: Doch es ist ähnlich wie mit einer Shakespeare-Komödie, die heutzutage bei der reinen Textlektüre nur wirklich willigen Lesern ein mühsames Lächeln entlockt – während die gleichen Szenen gespielt noch immer unglaublich komisch wirken können: Der Witz der recht flachen Scherze dieser Münchner commedia erschließt sich aus Trojanos rückblickenden Beschreibung nur schwer. Wir müssen daher darauf vertrauen, dass Orlandos Gags und Zoten vor den Augen und Ohren seines erlauchten Publikums so zuverlässig gezündet haben, wie seine zahlreichen eingestreuten Musikstücke.
Zweifelsohne hat er jedenfalls in Wilhelm und seiner Braut Lust geweckt auf mehr: In ihrer erbprinzlichen Residenz, der Burg Trausnitz ob Landshut, ließ das Paar einige Jahre darauf 1575/79 von italienischen Malern, die später auch im Grottenhof und im Antiquarium der Residenz tätig werden sollten, die berühmte „Narrentreppe“ ausmalen: Lebensgroß und hautnah präsentieren die dortige Fresken das Personal und die Episoden der commedia dell’arte, die auch die Illustrationen für diesen Beitrag bilden. An prominenter Stelle reitet Pantalone, stolz wie ein Turnierritter, auf einem Esel mit Verdauungsproblemen zu den herrschaftlichen Gemächern empor.
Ob dieser krummnasige Alte den 1594 hochgeehrt auf dem Münchner Franziskanerfriedhof (heutiger Max-Joseph-Platz) bestatteten Hofmusikus Orlando di Lasso darstellt? Oder verbirgt er sich vielleicht hinter Pantalones plastischem Miniatur-Alter Ego, das zwei Jahrhunderte später, um 1760, ein weiteres Genie der Münchner Hofkunst, der Porzellanmodelleur Franz Anton Bustelli, grazil und grotesk für die Nymphenburger Manufaktur ausformte? Wer weiß… – wir jedenfalls erinnern uns angesichts dieser lebensvollen Typen des frühneuzeitlichen Theaterspiels gerne an das musikalisch-komödiantische Multitalent aus dem 16. Jahrhundert – und gratulieren seiner (Mit)Schöpfung, der Münchner Hofkapelle zum Jubiläum!