Residenz München

Von Rosen aus Jericho und bayerischen Herzkapseln – die Hofkapelle der Residenz

„Der Frühling hat begonnen, die Bäume schlagen aus“ – eine saisonale, froh-gewalttätige Dynamik, die alle und alles ergreift, unserer Besucherstatistik nach allerdings keine klassischen Impulse auslöst, ins Museum zu gehen und sei es so ein fantastisches und vielfältiges wie die Münchner Residenz. Aber: Es ist auch Fastenzeit und fast schon wieder Ostern, Zeit also, sich (etwas) zu kasteien, geistig die Fühler auszustrecken und sich dabei auf Künftiges zu freuen. Auch moderne, den Religionen entfremdete Fastler nutzen diese Phase gern zur Selbstbesinnung, sei es bei mehr oder minder gehaltvollen Pflanzenaufgüssen oder beim medidativem Eierfärben. So mancher und manche gelobt asketisch in den Wochen zwischen Karneval und Karsamstag auch statt des Verzichts auf fleischliche Genüsse den begrenzten Smartphonegebrauch und nutzt die freigewordene Zeit für den Versuch, der täglichen Umwelt und den kleinen Dingen genauer und intensivere Aufmerksamkeit zu schenken.
Auf diesen froh in Richtung Feiertage ratternden Zug spiritueller Achtsamkeit springen wir gerne auf und widmen uns heute einer etwas versteckten Schönheit unseres Schlosses: Aus passendem Anlass gehen wir wieder mal in die Kirche – genauer: in die alte Hofkapelle!

 

Heutige Besucherinnen und Besucher erleben diesen für die Residenzler von einst ganz zentralen und täglich besuchten Ort im wörtlichen Sinne vor allem „im Vorübergehen“: Die komplizierte Logistik der Museumsrundgänge lässt derzeit noch keine ebenerdige Begehung des mächtigen, tonnengewölbten Raumes zu. Stattdessen quert man das frühbarocke Kirchenschiff auf Höhe des Obergeschosses über die Empore der nördlichen Eingangsfront – quasi als Durchgangsraum. Diese Situation schadet leider bis zu einem gewissen Grade der Wahrnehmung, denn unsere Kapelle ist eine strenge, vielleicht ein wenig spröde Schönheit, die ihre Reize letztlich erst bei eingehenderer Betrachtung enthüllt.

Wie so viele Raumkunstwerke der barocken Residenz, die unter der Herrschaft des umtriebigen Maximilian I. (reg. 1597-1651, ab 1623 als erster Kurfürst) entstanden, ist die Kapelle primär nach innen, auf die exklusive Sphäre des Herrschers und seiner Höflinge hin ausgerichtet: Von außen, im nach ihr benannten Kapellenhof, verraten weder die schlichte graue Putzfassade, noch das simpel bekrönte Portal etwas von dem stuckierten Pomp im Inneren. Eine barocke, von Engeln und Schnörkeln wimmelnde Schaufront wie an der nur wenige Schritte entfernten (jüngeren) Theatinerkirche, die das gemeine Volk zu Messe und Heiligenverehrung locken soll, gibt es nicht. Das erklärt sich nicht zuletzt aus der Baugeschichte, in deren Zuge der junge Maximilian Anfang des 17. Jahrhunderts seine umgestaltete ehemalige Prinzenwohnung an der damaligen Schwabinger Gasse (heutige Residenzstraße) mit den älteren Bauten seines Vaters Wilhelm V. und der weiter östlich gelegenen Neuveste, dem „ursprünglichen Residenzschloss“ zusammenband. Im Zuge dessen wurden angrenzende Freiflächen eingehegt und dabei der charakteristische, zur Bürgerstadt hin abgeschottete Gebäudekomplex um mehrere Binnenhöfe herum ausgebildet, als der sich die Residenz im Wesentlichen bis heute präsentiert.

 Der Außenzugang zur neuen Kapelle, deren Langhaus zwischen 1601 und 1603 entstand, und – wohl aus Platzgründen – eine für Kirchen ungewöhnliche Nord-Süd-Ausrichtung aufweist, war also insofern ein Stück weit „out of sight“ und bedurfte keiner Außenrepräsentation. Auch das Innere präsentierte sich zunächst wohl vergleichsweise schlicht: Erst um 1614 wurde der den heutigen Eindruck prägende Deckenstuck ausgeführt und weitere 15 Jahre dauerte es, bis Maximilian I. 1630 als südlichen Abschluss einen aufwendigen, in der Dekoration den älteren Bauteilen angeglichenen Chor ergänzen ließ. Der reiche, dank der einheitlichen Weißfassung zugleich aber vornehm zurückhaltende Dekor erinnert an den nur wenig älteren Renaissancestuck am Gewölbe der nahegelegenen Jesuitenkirche St. Michael, die Maximilians kunst- und ausgabenfreudiger Vater Wilhelm V. mit horrenden Kosten hatte errichten lassen.

Dass es sich nicht um eine Gemeindekirche handelt, sondern die Kapelle eines Palastes, die einem vielfältigen, hierarchisch abgestuften Hofstaat Raum bot, offenbart schon der Blick auf die mit Engelsbüsten und korinthischen Pilastern rhythmisierte Wandgliederung: Zwei umlaufende Emporenränge mit verglasten Fenstern unterteilen den Kirchenraum in „Stockwerke“ und legen den Vergleich mit den Logenhäusern barocker Theatergebäude nahe: Der Grund für diese Separierung ist in beiden Fällen – dem weltlichen wie dem geistigen Theater – derselbe: der Wille, die ständisch geprägte Gesellschaft der Frühen Neuzeit, die sich in verschiedene Ranggruppen aufteilte, räumlich abzubilden, und Dienerschaft, Höflinge und Herrscherfamilie gemäß ihrem sozialen Status im Rahmen der gemeinsamen Messfeier höher oder tiefer, vor allem aber gesondert zu platzieren. Vorbilder für diese höfischen Emporenkirchen fürstlicher Paläste finden sich bereits im Mittelalter und besonders in Frankreich: Die mehrfach umgestaltete, natürlich ungleich prächtigere Chapelle der Könige Frankreichs in Schloss Fontainebleau bei Paris mag als ein annähernd zeitgenössisches Vergleichsbeispiel dienen (vor allem im zweiten Drittel des 17. Jh. unterhielt Maximilian I. enge Verbindungen mit dem französischen Hof).

Blick in die Anfang des 17. Jh. umgestaltete Schlosskapelle von Fontainebleau

Für heutige Sehgewohnheiten überraschend an dieser architektonischen Logik ist vor allem, dass der Kurfürst und die Seinen nicht, wie eigentlich zu erwarten, in der Mittelempore über dem Hauptportal Platz nahmen, von wo ein ungestörter Blick auf das zentral ausgerichtete Hochaltargemälde und den zelebrierenden Priester möglich war. Vielmehr befanden sich die fürstlichen Plätze – mit teils verstelltem „Seitenblick“ – in den ziemlich engen (dafür allerdings beheizbaren) und verglasten Oratorien des Chors, rechts und links des wandfüllenden Altaraufbaus: Gemäß barocker Wahrnehmung höfischen Lebens als permanenter Repräsentation vor den Augen der Welt (oder hier: Gottes) war es wichtig, den frommen Fürsten beim Vollzug seiner religiösen Pflichten für den ganzen Hofstaat sichtbar zu machen und ihn in unmittelbare Nähe zur heiligen Handlung nur wenige Meter unter ihm zu rücken, um der Auffassung seiner Herrschaft als himmlisch legitimierte Stellvertreterschaft „von Gottes Gnaden“ sinnliche Anschaulichkeit zu verleihen.

An dem gewählten Standort ergänzte bzw. ersetzte Maximilians neuer, mit vier Fensterachsen großdimensionierter Sakralbau ältere Münchner Hofkirchen: die traditionsreiche gotische Lorenzkapelle im südöstlich benachbarten „Alten Hof“ und die teilweise aufwändig ausgestatteten Georgs- und Katharinenkapellen der zuletzt großartig im Renaissancestil umgebauten Neuveste im Nordosten.

Als namhafter Befürworter der Gegenreformation und passionierter Verehrer der Gottesmutter, deren monumentale Bronzedarstellung als Himmelskönigin und „Patrona Boiariae“ er 1615 an der neuen Westfassade der Residenz anbringen ließ, weihte Maximilian die neue Kapelle der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Dieses Patrozinium der Jungfrau erleben Besucherinnen und Besucher der Kapelle übermächtig und allumfassend, denn sie werden beim Eintritt gleichsam in einen gebauten Lobpreis Mariens aufgenommen, der sie von allen Seiten umgibt und im wörtlichen Sinne überwölbt:

Der heute leicht angegraute, einst aber in jungfräulichem Weiß strahlende Deckenstuck zeigt großformatige Felder, in denen unter Ehrenbaldachinen fast dreidimensional ausmodellierte Engelsgestalten in prächtig flatternden Gewändern schweben, die sich mit allerlei, zunächst rätselhaften Utensilien abschleppen. Was dem frommen Latinisten die beigefügten Schriftkartuschen enthüllen, erläutern wir gerne den wenigen anderen: Es handelt sich hier um Illustrationen der sogenannten „Lauretanischen Litanei“, einer populären gemeinschaftlichen Anrufung der Gottesmutter unter verschiedenen, den heiligen Schriften entnommenen Ehrentiteln, die in dieser Form erstmals 1531 im italienischen Marienwallfahrtsort Loreto ausgebildet wurde. Vor allem die Verherrlichung der bildgewaltig besungenen Geliebten im alttestamentarischen „Hohen Lied“ hat hier Verwendung gefunden. In der älteren Schriftauslegung und der mittelalterlichen Mystik wurden die plastischen Metaphern, die Schönheit, Reinheit und Unberührtheit der „sponsa“, der Braut des Hohen Lieds, hervorheben, gemeinhin auf Maria bzw. die Kirche als himmlische Partnerin Christi bezogen. Und so tragen unsere Münchner Engel schwer an den Symbolen einer antik-vorderorientalischen Erotik, die die demütige Jungfrau und Gottesmutter mit dem „versiegelten Brunnen“ und dem „fleckenlosen Spiegel“ vergleicht, mit dem wuchtigen „Turm Davids“ und dem „Tempel Salomons“, zum Glück aber auch mit der duftenden „Rose von Jericho“ und der schlanken „Zeder des Libanon“.

Inmitten dieser (stuck)plastisch gewordenen Verherrlichung Mariens erhebt sich der (nach Kriegszerstörung weitgehend rekonstruierte) Altaraufbau mit dem erhaltenen Gemälde des Münchner Hofmalers Hans Werl von 1600. Gemäß dem Kapellenpatronat der „Unbefleckten Empfängnis“ zeigt es Maria nicht als Mutter des Jesuskindes, sondern als jungfräuliche Himmelskönigin, umschwirrt von Engeln und auf golden schimmernden Wolken thronend. So schwebt sie aus der göttlichen Sphäre, wo ihr im Auszug die gemalte Dreifaltigkeit den „Platz frei hält“, herab in einen angedeuteten Kirchenraum, der strukturell der gebauten Kapelle ähnelt. Im huldvollen Niedersinken reicht sie eine Ehrenkrone den angesichts der Himmelsvision versammelten heiligen Jungfrauen, die zu Maria als ihrem Vorbild emporblicken: Der feinen Atmosphäre des bayerischen Hofs entsprechend knien in der ersten Reihe natürlich die aristokratischen „Virgines capitales“ – die alexandrinische Prinzessin Katharina mit Rad und Schwert sowie die englische Königstochter Ursula mit ihrem Märtyrersymbol, dem Pfeil.


Die beiden Seitenaltäre sind eineinhalb Jahrhunderte jünger und wurden 1748 unter Maximilians I. Nachfolger und Ururenkel, einem weiteren, dritten Maximilian (reg. 1745-1777), eingebaut. Der namhafte, auch andernorts in der Residenz wie auch in Nymphenburg tätige Rokokokünster Johann Baptist Zimmermann und sein Sohn Franz haben sie geschaffen und harmonisch in das strenge, ältere Dekorationssystem integriert. Auch die Zimmermanns modellieren weiße Stuckengel mit flatternden Banderolen, doch verwandeln sie die starren Architekturrahmen ihrer Altäre in sahneweich fließende, organische Geschlinge, die sich den umschlossenen Gemälden gleichsam anschmiegen. Dargestellt ist links erneut die Jungfrau, hier allerdings als mädchenhafte Nebenperson, die im Kindesalter von ihrer greisen Mutter, der heiligen Anna, welcher der Altar geweiht ist, das Lesen lernt. Ein Nähkörbchen zu Annas Füßen beruhigt dahingehend, dass auch die hausfraulichen Handarbeitsübungen nicht vernachlässigt werden. Rechter Hand verteilt der heilige Bischof Maximilianus aus dem dritten Jahrhundert großzügig Almosen an die Armen. Mit Maximilian und Anna werden an den beiden Rokoko-Altären die Namenspatrone der Auftraggeber, Max III. Joseph und seiner Gemahlin Maria Anna von Sachsen-Polen, verehrt und somit die enge Verknüpfung von Religion und Herrscherdynastie innerhalb der Hofkapelle ein weiteres Mal gut sichtbar.

Weitere „Schmuckstücke“ der Kapellenausstattung sind für die Besucher von der Nord-Empore aus leider noch schwerer zu erkennen – dazu gehören zwei kleine, aber prachtvoll und nuanciert ziselierte Reliefs aus vergoldeter und versilberter Bronze zu Seiten des Hochaltars. Entstanden im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, stammen sie aus der Werkstatt des Hofbildhauers Guillaume de Groff (1676-1747), den Kurfürst Max Emanuel (reg. 1679-1726) aus seiner flämischen Heimat an den Münchner Hof gezogen hatte. Sie zeigen die Gottesmutter als neue, sündenlose Eva auf der Erdkugel thronend, einmal freudig mit ihrem kindlichen Sohn, einmal trauernd mit dem Leichnam Jesu im Schoß. Die zertretene Satansschlange zu ihren Füßen deutet an, dass mit der Ankunft und dem Opfertod Christi die Erbsünde der „alten Urmutter Eva“ nunmehr getilgt ist.

Ähnlich bedeutungsschwer präsentieren sich zwei weitere zierliche Werke der Metallkunst, die in seitlichen Nischen der Chorwand aufgestellt sind: Dort umfassen einmal zwei kleine bayerische Löwchen mit Kronen und goldenem Fell, einmal zwei silberne Engelsmädchen zwei faustgroße, gravierte Kapseln in Herzform: Tatsächlich handelt es sich um die Herzurnen zweier jung verstorbener Kinder des ersten bayerischen Königs Max I. Joseph (reg. 1799-1825) und seiner Gemahlin Karoline von Baden, die älteren Traditionen folgend den Körpern entnommen und separiert an einem besonders verehrten Ort bestattet wurden: Die Löwen beschützen das Herz des kleinen Prinzen Max (1800-1803), die Engel das seiner Schwester Maximiliane (1810-1821), der jüngsten Tochter des Königspaars.

Doch nicht dem karfreitäglichen Frust von Tod und Sterben soll der Abschluss unserer kleinen Kapellenrundschau gewidmet sein, sondern österlichem Jubilieren! – immerhin feiert 2023 die seinerzeit weithin berühmte Münchner Hofkapelle – die einst um Ludwig Senfl und später Orlando di Lasso gruppierten Sänger und Instrumentalisten – ihr 500jähriges Gedenkjubiläum! Daran erinnern wir an ihrer ehemaligen Wirkungsstätte, der gebauten Hofkapelle, mit einem Blick auf die dort erhaltene Orgel, einer musikalischen Kostbarkeit des frühen 17. Jahrhunderts, die mit Muskelschmalz betriebenen Windbälgen und einem nach wie vor intakten Werk einen weiteren, äußerlich unscheinbaren, aber geschichtsschwer und volltönenden Schatz unserer alten Residenzkirche darstellt.