Bayern: traditionell mit Leder behost, aber das brandaktuelle Laptop unter dem Arm – so spektakulär vielschichtig präsentiert sich der weißblaue Freistaat heutzutage gern in der Öffentlichkeit. Aber auch schon sein Vorgänger, das alte Herzog-, später Kurfürstentum, war bemüht, sich ein Image als innovativer Standort von Kultur und (künstlerischer) Innovation zwischen Inn und Isar maßzuschneidern und diesen Ruf über den unmittelbaren Einflussbereich der Wittelsbacher hinaus zu verbreiten. Wichtiger Anteil kommt dabei dem kurfürstlichen „Stuckathor“ und Ausstattungskünstler Wilhelm Pfeiffer zu, dessen Tod im Januar 1669 sich heuer zum 350. Male jährt!
Das internationales Standing und Branding am besten an der eigenen Person ansetzt, demonstrierten Wilhelm und die Seinen schon früh mit einer eleganten Namensänderung, indem sie aus dem musikalischen Pfeiffer Anfang des 17. Jahrhunderts ein in elegantes Latein übersetztes, weltmännischen „Fistulator“ machten, den Namen, unter dem die Künstlerfamilie heute bekannt ist (und ähnlich wie zum Beispiel der etwas ältere Philipp Schwarzerdt aus Bretten, der sich als guter Kenner des Altgriechischen zum schicken Herrn Melanchthon gräzisiert in die Geschichte der Reformation einschrieb).
Am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs, unter der Herrschaft des ehrgeizigen Wittelsbachers Maximilian I. (reg. 1597–1651, seit 1623 als Kurfürst) war Wilhelm wie vor ihm schon sein Vater Blasius maßgeblich für den weithin hallenden Ruf der Münchner Residenz als prunkvollster und ambitioniertester Schlossanlage im Reich verantwortlich. Denn (zumindest in dieser Weltgegend) beherrschte nur die Künstlerdynastie Fistulator das eifersüchtig gehütete Geheimnis, leuchtend bunte Bilder aus „Scagliola“ herzustellen. Hierbei handelt es sich um verblüffend plastisch und tiefenräumlich wirkende Wand- und Möbeldekorationen aus Hunderten von gegossenen und ausgeschnittenen Stuckmarmorplättchen, die ähnlich wie hölzerne Intarsien auf einem Untergrund eingelegt und zu ornamentalen oder gegenständlichen Darstellungen zusammengesetzt werden. Im Vorfeld gilt es, gebrannten Gips und unterschiedliche Farbpigmente unter Zuhilfenahme von Leimwasser miteinander zu verkneten, um unterschiedliche Marmorierungseffekte zu erzielen. Anschließend werden die schlierigen „Marmorkuchen“ zu flachen Platten ausgestrichen und in die benötigten Formstücke geschnitten, die nach dem Trocknen steinhart werden. Wie Puzzle kann man diese nach Gusto und künstlerischem Bedürfnis gefärbten und gemusterten Stuckteile auf einem haftenden Putzgrund bündig miteinander versetzen. Dann allerdings hat der kreative Spaß ein Ende, und die Arbeit beginnt – eine endlose, kräftezehrende und eintönige Abfolge von Schleifvorgängen mit immer feinkörnigeren Materialien, um die typischen, vollkommen ebenen, fugenlosen und spiegelglänzenden Oberflächen einer Scagliola, die den Namen verdient, zu erzielen!
Ganze Raumfluchten seiner Münchner Residenz, die Maximilian zu Beginn des 17. Jahrhunderts neu ausstatten bzw. um den neuen Kaiserhof herum neu errichten ließ, wurden flächendeckend von der Firma „Fistulator und Söhne“ mit diesen spektakulären Marmorintarsien dekoriert. Obwohl Vieles in den Jahrhunderten seitdem und namentlich im Zweiten Weltkrieg verloren ging, machen allein die erhaltenen Arbeiten die Residenz bis heute zu einem internationalen Zentrum und Höhepunkt dieser einzigartigen Kunstgattung, die die Betrachter durch ihre optisch-haptischen Effekte seit jeher fasziniert – und die zugleich höchsten Repräsentationswillen ausdrückt: Die spiegelnd polierten Einlegearbeiten im Antiquarium, an den Wänden der sogenannten Trier- und Steinzimmer (den offiziellen Prunk- und Gästeappartements der frühbarocken Residenz), oder den Kabinetten der Kurfürstin sollten einen wahrhaft kaiserlichen Glanz ausstrahlen. Denn aus antiken Quellen wussten Maximilians Zeitgenossen, dass einst nur die Paläste der römischen Cäsaren mit farbigen Marmordekorationen geschmückt werden durften! Man wollte in München also in imperiale Fußstapfen treten (nicht zuletzt mit einem herausfordernden Seitenblick auf die Habsburger Vettern in Wien, die seit dem 16. Jahrhundert ununterbrochen die Kaiserkrone trugen). Und so freute man sich diebisch, wenn die Illusion gelang und erzählte das brühwarm weiter – etwa dem Augsburger Kunstagenten Philipp Hainhofer, der 1611 berichtete: „…vnd sein wol dess Keysers stainschneider von dieser arbeit (die sie für lauter natürliche Edelgestein gehalten vnd schon eingelegt zu sein vermaint) betrogen worden.“ Zugleich verrät der Hinweis auf das scheinbare „Edelgestein“ ein weiteres viel bewundertes Vorbild für die Münchner Stuckmarmorkunst, denn die Fistulator suchten mit ihren Arbeiten auch selbstbewusst die Konkurrenz mit den berühmten großherzoglichen Hofwerkstätten der Medici in Florenz: Von dort kamen die europaweit begehrten Einlegearbeiten aus „pietre dure“, Schmuckplatten und Reliefs, die aber im Unterschied zur Scagliola nicht aus gefärbten und gehärteten Gips-Teigen, sondern tatsächlich aus buntfarbigen, „harten“ Steinen und Mineralien gefertigt wurden.
Vielleicht also ist die Technik, die – wie das Fremdwort Scagliola („Splitter“) bereits verrät – nicht in München, sondern in Italien aufkam und in der Residenz erstmals um 1607, da aber bereits in hoher Vollendung, auftritt, ursprünglich als Notbehelf gedacht gewesen: Steinbrüche mit Buntmarmorvorkommen waren in Altbayern rar gesät. Schnell aber erkannte man in München das Potential einer Kunsttechnologie, die man – sorgfältig gefördert – zur Perfektion zu bringen vermochte – und dann exklusiv anwenden konnte: „made in Bavaria“ als frühneuzeitliches Gütesiegel! Kein Wunder also, dass die Technik der Scagliola-Herstellung mit allen Mitteln („Ihrer Durchlaucht ernstlich Straff und Ungenad“) allein für das bayerische Herrscherhaus reserviert bleiben sollte. Per Eid verpflichteten sich Wilhelm und seine Nachfolger, „die kunst kheinem menschen, so gahr kheinem brueder [wohl vor allem im Sinne von „Zunftbruder“, „Kollegen“], noch befreindten nit offenbaren, zaigen, lehrnen oder sehen lassen, auf welcherlay weis, das immer geschechen möge, noch vill weniger dieselbe ausserhalb ihrer Churfürstlichen durchlaucht diensten treiben“ zu wollen und ihr Handwerk nur genehmigte Mitarbeiter, primär aus der eigenen Familie, zu lehren. Diese Beschränkung auf das eigene Umfeld eröffnete aber auch so manche unerwartete Perspektive: So wurde Wilhelms Frau Barbara, geb. Hackl, zu einer erfolgreichen Stuckatorin ausgebildet!
Die strenge Kontrollstrategie zeitigte Erfolge, hieß es doch von Wilhelm, dass er „in ganz Römischen Reich in der marmoratur seines gleichen nit gehebt“! Ihren Höhepunkt erreichte die Münchner Scagliola-Kunst um 1632: Als Dank an die Gottesmutter, der er die Verschonung seiner Hauptstadt durch die schwedischen Truppen Gustav Adolfs zuschrieb, ließ Maximilian I. die sogenannte „Reiche Kapelle“ der Residenz, die den Wittelsbacher Reliquienschatz beherbergte, von Wilhelm Fistulator mit einem bedeutenden Zyklus von Stuckmarmor-Bildtafeln ausstatten. Nach berühmten Vorlagen, nämlich der Holzschnittfolge des „Marienlebens“ von Albrecht Dürer (1501/11), schuf der „Hofstuckathor“ miniaturhaft kleine und doch detailreichste Szenen aus der legendhaften Vita der Jungfrau.
Um das Bildpotential der Scagliolakunst auszunutzen, löste Wilhelm die Figuren aus den Dürer’schen Hintergründen und verortete sie stattdessen in unendlich fluchtenden Säulenhallen und bizarren Gebirgslandschaften, die in der Ferne in bläulichem Marmordunst aufscheinen.
Neben diesen erzählenden Bildszenen strecken verblüffend plastisch wirkende Blumen vor nachtschwarzen Hintergründen ihre Blütenköpfe aus elegant geformten Vasen empor, von winzigen Marmorinsekten umsummt…
Während die originalen Fistulator-Werke in den prunkvollen „Steinzimmern“ schon 1674 bei einem Residenzbrand vernichtet wurden und die faszinierenden Perspektivbilder in den Räumen der Kurfürstin im 2. Weltkrieg untergingen, vermag der Blick in die nach Teilrekonstruktion und Restaurierung wieder vollständig mit Scagliola verkleidete Prunkapelle so heute noch (und wieder) einen Eindruck vom wahrhaft „kaiserlichen Können“ der Familie Fistulator vermitteln!
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