Neben der weltberühmten Schatzkammer der Residenz, in deren zehn Sälen sich viele hundert Kunstgegenstände aus Gold, Silber, Kristall und Elfenbein, dekoriert mit Email und Edelsteinen aus einem ein Jahrtausend umspannenden Zeitraum dem Auge präsentieren, gibt es in der Residenz noch eine weitere, kleinere begehbare Schatztruhe – kleiner und vielleicht nicht so prominent, aber den Besuch nicht weniger lohnend!
Es handelt sich um die sogenannte Reliquienkammer, die sich im Obergeschoss, unmittelbar neben der Hofkappelle hinter einer wehrhaften Tresortür aus Stahl verbirgt. In dem dämmerigen kleinen Raum befindet sich heute, was bis ins 19. Jahrhundert hinein gemeinhin als der „wahre“, der größte Schatz der Residenz erachtet wurde: die beindruckende Sammlung von „Heiltümern“ – segensbringenden Reliquien, also körperliche Überreste der Heiligen. In phantasievoll gestalteten Schatullen, Kapseln und Behältern, die oft die Form von Monstranzen mit ihrem durchsichtigen Zentrum variieren, sind die selbst unscheinbaren Heiligtümer deponiert. Gut sichtbar und oft mir originalen Beschriftungen aus dem 17. Jahrhundert versehen, auf denen Kardinäle und Päpste die Echtheit der Reliquie bestätigen, dass es sich nämlich wirklich um Knochensplitter und Zähne von den Körpern der als heilig erachteten Männern und Frauen handelt, um Fragmente ihrer Schädel oder um textile Reste von Gewändern, die sie getragen haben sollen. Der Blick durch die Kristallgläser der goldenen Gehäuse ist gewöhnungsbedürftig, und was für den einen Objekt der Andacht und Ausdruck einer traditionellen oder immer noch aktiv gelebten Frömmigkeitspraxis ist, mutet den anderen bizarr bis schaurig an.
Das gilt vor allem für „Glanzstücke“ der Sammlung wie den Schädeln zweier heiliger Päpste, Johannes‘ des Täufers und seiner Mutter Elisabeth auf perlbestickten Kissen oder ganzen Händen nebst Unterarmknochen, die graubraun zwischen den Edelsteinen sichtbar werden. Höhepunkt in dieser Beziehung ist sicher der sogenannte „Kindlschrein“ – ein kleiner gläserner Sarkophag mit mumifizierten Körperchen, angeblich von Kindern, die Herodes einst in Bethlehem töten ließ, im vergeblichen Versuch das Erscheinen des prophezeiten Messias zu verhindern.
Dass gerade die Residenz über diese Sammlung verfügt, ist kein Zufall: Neben einem wohl echt empfundenen spirituellen Bedürfnis, diese als heilbringend erachteten Objekte in ihrer Nähe zu wissen, waren die bayerischen Herzöge des späten 16. und des 17. Jahrhunderts stark daran interessiert, ihre politische Rolle als Anführer der katholischen Gegenreformation im Reich anschaulich zu demonstrieren: Die Polemik gegen den Reliquienkult gehörte zu den großen Themen der protestantischen Reformatoren, die vehement die Abschaffung eines solchen modernen „Götzendienstes“ forderten und dies bei den evangelischen Landesfürsten auch durchsetzten. Naheliegend also, dass den „verfolgten“ Gebeinen der Heiligen im Herrschersitz der katholischen Wittelsbacher eine neue Ruhestätte bereitet wurde, denn hier wollte man mit Nachdruck auf die fortdauernde Gültigkeit der jahrhundertealten Verehrungsform pochen. Es war Herzog Wilhelm V. („der Fromme“), der vom Papst die Erlaubnis für die umfängliche Erwerbung von Reliquien erbat und erhielt.
Für die Ausstattung seiner Kapellen und seine Stiftung, die Jesuitenkirche St. Michael, trug er eine große Anzahl heiliger Überreste zusammen und ließ sie kostbar in kunsthandwerklich vollendete Gehäuse umbetten. Es war bekannt, dass man mit einem entsprechenden Geschenk im Gepäck bei dem frommen Wilhelm daher immer zu reüssieren vermochte: So verehrte ihm sein Bruder, der Erzbischof von Köln, ein künftiges Glanzstück für seine Heilutssammlung – einen Knochen des heiligen Drachentöters St. Georg, für den Wilhelm ein wundervolles figürliches Reliquiar anfertigen ließ, das heute zu den bekanntesten Kunstschätzen der Residenz gehört.
Wilhelms Sohn Maximilian I. setzte die väterliche Tradition mit Begeisterung fort. Mit Rosenkränzen aus Gold und Email wurden Schädelknochen bekrönt und eine riesige, figurengeschmückte Monstranz mit Reliquien der Passion Christi angefertigt: Ab 1607 ließ er die ererbten und neu erworbenen religiösen Schätze in der von ihm in Auftrag gegebenen Reichen Kapelle, seinen Privatoratorium ausstellen, zunächst noch in einem eigenen Schrank an der Westwand.
In diesem Raum, in dem der Fürst mit seinem Schöpfer via Gebet Zwiesprache hielt, massierte sich so die geballte Segenskraft der versammelten Gemeinschaft der Heiligen – wie (so wohl der Hintergedanke) sollten also hier durch Maximilian Fehlentscheidungen in Hinblick auf Bayern, auf die Landes- und Religionspolitik getroffen werden?! Auch Maximilians Nachfolger ließen sich, wenn auch weniger vehement, die Vermehrung ihres spirituellen Schatzes angelegen sein – mit den Jahren wurde es in der eher kleinen „Reichen Kapelle“ immer reicher – sprich: voller. 1938 wurden die Reliquien daher schließlich in eine neu eingerichtet „geistliche Schatzkammer“ überführt, die dann allerdings in Folge des Kriegsausbruchs auch schon gleich wieder geschlossen wurde. Dauerhaft zugänglich wurde die Sammlung letztlich erst mit der Neueröffnung des Residenzmuseums. Seitdem erwarten die Reliquien die Besucher im sakralen Dämmerlicht – zur gläubigen Verehrung oder zum andachtsvollen Kunstgenuss, gern auch zu beidem!
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