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Leben für die Demokratie gestern und heute – Biografische Schlaglichter auf den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee

Ausstellung_Plenarsaal Herrenchiemsee Söder Aigner Steinmeier

Die Bayerische Schlösserverwaltung und die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit begehen heute den Internationalen Tag der Demokratie auf der Verfassungsinsel Herrenchiemsee. Wir wollen an die rund 30 Demokraten erinnern, die hier 1948 eine neue Verfassung für Deutschland beraten und ausgearbeitet haben. Auch heutige Demokratinnen und Demokraten interessieren sich für ihre Geschichten und können von ihnen lernen – wie unsere vier hohen Gäste bei der Eröffnung des neuen Museums.

In diesem Blogbeitrag geben wir einen Einblick in die biografischen Hintergründe der damaligen Konventsteilnehmer – so könnt ihr euch in ihre Situation und ihren Kampf für Demokratie in schwierigen Zeiten hineinversetzen.

Biografische Erfahrungen beim Verfassungskonvent von Herrenchiemsee

Beim Verfassungskonvent von Herrenchiemsee kamen Verfassungsexperten – Staatsrechtler, Verwaltungsbeamte und Politiker – zusammen, die allesamt auf demokratische Erfahrungen in der Weimarer Republik (1919–1933) zurückgreifen konnten. Allerdings waren ihre Biografien sämtlich auch geprägt von der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. So wollten sie die Fallstricke der Weimarer Verfassung vermeiden.

In der neuen Dauerausstellung werden sechs verschiedene Biografien im Detail vorgestellt. Von allen weiteren Teilnehmern gibt es Kurzbiografien in einer Medienstation. Hier widmen wir uns nun drei Biografien, die sich Zeit ihres Lebens für die Etablierung einer demokratischen Staatsform in Deutschland stark gemacht haben.

Otto Suhr – Plädoyer für die deutsche Einheit

Als Vertreter Berlins beim Verfassungskonvent war Otto Suhr (1894–1957) nicht stimmberechtigt, aber beratend tätig. Sein parteipolitisches Engagement in der SPD und seine Vorstandschaft in der Berliner Stadtverordnetenversammlung seit 1946 hatten seine Teilnahme beim Konvent veranlasst.

Verfassungsversammlung auf Herrenchiemsee Otto Suhr

Otto Suhr im Sitzungssaal, Foto: picture-alliance / dpa / dpa dena

Otto Suhr hatte in Leipzig Geschichte, Volkswirtshaft und Zeitungswissenschaft studiert. Er war als Soldat im Ersten Weltkrieg und trat anschließend (1919) in die SPD ein. Zunächst arbeitete er beim Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, später beim Allgemeinen Freien Angestelltenbund. Parallel lehrte er ab 1922 an der Wirtschaftsschule in Thüringen, an der Betriebsräteschule, an der Universität Jena, an der deutschen Hochschule für Politik und an der Berliner Gewerkschaftsschule. 1921 hatte er Susanne Pawel geheiratet. Neben Suhrs politischer Orientierung war die Ehe mit ihr wegen ihrer jüdischen Herkunft Grund für seine Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Ab 1933 schrieb Otto Suhr als Redakteur sowie als freier Wirtschaftspublizist für verschiedene Zeitungen. Vor Kriegsbeginn forderte ihn die „Reichsschrifttumskammer“ auf, sich von seiner Ehefrau zu trennen, um weiter arbeiten zu können. Otto Suhr lehnte dies kategorisch ab und blieb dank Intervention der Frankfurter Zeitung weiterhin publizistisch tätig. Er wurde mehrmals von der Gestapo gesucht, konnte aber zeitweise untertauchen. 1944 sollte Suhr zur Organisation Todt – berüchtigt für den Einsatz von Zwangsarbeit – eingezogen werden, Ehefrau Susanne war mittlerweile akut von Deportation bedroht. Als ihm gegen Ende des Krieges die Verhaftung drohte, gelang ihm im letzten Augenblick die Flucht. Er und seine Frau fanden Unterschlupf bei einer Bekannten.

Nach Kriegsende fungierte Suhr als Herausgeber der Zeitschrift „Das Sozialistische Jahrhundert“. Außerdem beteiligte er sich am Wiederaufbau der SPD, zog 1946 als Abgeordneter in die Berliner Stadtverordnetenversammlung ein und wurde zu deren Vorsteher gewählt. Dieses Amt behielt Suhr auch in West-Berlin. Der Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone widersetzte er sich.

Beim Konvent auf Herrenchiemsee engagierte er sich u.a. für den provisorischen Charakter der neuen Verfassung und für die Beteiligung Berlins am neuen Staat. Aber auch die Gleichberechtigung von Frauen stand auf seiner Agenda. Außerdem lehnte er eine weitere Stärkung der Länderrechte in Fragen der Finanzverfassung ab.

Beim Parlamentarischen Rat war Suhr ebenfalls als einer von fünf Beteiligten aus West-Berlin vertreten. Auch gilt er als einer der Väter der Ende 1950 in Kraft getretenen West-Berliner Verfassung. Von 1949 bis 1952 war er Mitglied des Bundestages. Von 1951 bis 1954 war er Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Zugleich war er Direktor der Hochschule für Politik in Berlin und später Honorarprofessor für politische Theorie an der FU Berlin. Seit 1955 bis zu seinem Tod war er Regierender Bürgermeister von Berlin.

Otto Suhr kann uns als Beispiel und Vorbild dafür dienen, wie man auch in Zeiten, in denen die Demokratie am Boden und das eigene Leben bedroht ist, für andere einstehen und andere beschützen kann. In der Lehre konnte er sein Wissen und seine Erfahrungen weitergeben.

Hans Nawiasky – Bewahrer der föderalen Tradition

Hans Nawiasky (1880–1961) zählte 1948 bereits zu den renommiertesten Staats- und Verfassungsrechtlern. Er war als Sachverständiger von der bayerischen Staatskanzlei zum Konvent geladen. Schon zuvor hatte er an einem bayerischen Entwurf für das neue Grundgesetz gearbeitet.

Hans Nawiasky, 1948

Hans Nawiasky beim Verfassungskonvent, Foto: SZ Photo/Süddeutsche Zeitung Photo

Ursprünglich stammte Nawiasky aus Graz. Er studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Wien und Berlin und schloss mit einer Promotion ab. Während des Ersten Weltkriegs diente er als Offizier der österreichisch-ungarischen Armee.

In der Zeit der Weimarer Republik war Nawiasky Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Sommer 1931 löste eine nationalsozialistische Kampagne gegen ihn die sog. Münchner Universitätskrawalle aus. Die Studenten schmähten Nawiasky mit Parolen wie „Juda verrecke“ und „Nawiasky verrecke“, darunter mischten sich „Heil-Hitler“-Rufe. Das Hauptgebäude wurde zwangsweise geräumt und die Universität für einige Zeit geschlossen.

1933 begab sich Nawiasky noch vor Bekanntgabe der Wahlergebnisse der Reichstagswahl nach St. Gallen (Schweiz) ins Exil. Die SA drang im Zuge der Machtübernahme gewaltsam in sein Haus in München ein. Er wurde von seinen Dienstpflichten an der Universität entbunden, seine Bezüge wurden gestrichen. In der Schweiz erhielt Nawiasky einen Lehrauftrag, später eine Professur an der Handelshochschule St. Gallen. Auch lernte er den späteren bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner kennen. Gemeinsam arbeiteten sie an einem Entwurf für die neue bayerische Verfassung.

Ab 1946 nahm Hans Nawiasky auch seine Lehrtätigkeit an der LMU München wieder auf. Beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee argumentierte er – auch aufgrund seiner Erfahrungen in der Weimarer Zeit – gegen ein Notverordnungsrecht und gegen eine herausgehobene Stellung des Bundespräsidenten. Wie die bayerische Delegation beim Konvent war er ein Vertreter der Debellationstheorie, wonach der deutsche Staat durch die Niederlage im Zweiten Weltkrieg nicht mehr existiere und sich nur aus den einzelnen Ländern neu gründen könne. Dadurch wollte er die föderale Tradition in Deutschland stärker betonen.

In den 1950er Jahre arbeitete er an einem Entwurf zu einer europäischen Verfassung mit und engagierte sich beim Aufbau der Hochschule für Politische Wissenschaften und der Akademie für politische Bildung in Tutzing.

Nawiaskys Biografie zeigt, dass er sich trotz aller Widrigkeiten und Probleme in seinem Leben nicht von seiner demokratischen Gesinnung, seiner Arbeit für eine ordentliche Verfassung und die Weitergabe seines Wissens an jüngere Menschen abbringen ließ.

Helene Weber – Streiterin für weibliche Gleichberechtigung

Eine Demokratin, die zwar nicht am Verfassungskonvent, später aber beim Parlamentarischen Rat als Vertreterin der CDU teilnahm, war Helene Weber (1881–1962). Sie setzte sich zeit ihres Lebens für die Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Leben ein.

Helene Weber Foto. Haus der Geschichte

Helene Weber, Foto: Stiftung Haus der Geschichte; EB-Nr. 1997/06/0039

Geprägt waren ihre politischen Ziele von ihrem katholischen Glauben und ihrer ursprünglichen Tätigkeit als Lehrerin. Somit war ihr die staatsbürgerliche Erziehung von jungen Mädchen ein Anliegen. Helene Weber war Mitglied in mehreren politischen Frauenorganisationen.

1918 – Frauen erlangten in diesem Jahr das aktive und passive Wahlrecht – begann ihre politische Karriere in der katholischen Zentrumspartei. Sie war in der Nationalversammlung beteiligt an der Verabschiedung der Weimarer Verfassung. Während der Weimarer Republik war sie zunächst Mitglied im Preußischen Landtag und später im Reichstag. In dieser Zeit stand sie für gelebte demokratische Praxis, Kompromissfindung und Verhandlungsbereitschaft.

Zwar lehnte Helene Weber 1933 das Ermächtigungsgesetz persönlich ab, beugte sich in der entscheidenden Abstimmung jedoch dem Fraktionszwang ihrer Zentrumspartei. Das NS-Regime entließ sie aus dem Staatsdienst. Sie konzentrierte sich auf die Frauenverbandsarbeit in der Kirche.

1945 gründete sie die Christlich Demokratische Union (CDU) mit. 1948 lieferte sie den Anstoß zur Gründung der „Frauenarbeitsgemeinschaft der CDU/CSU“ und blieb bis 1958 deren Vorsitzende. 1949 wurde sie zur Abgeordneten in den Parlamentarischen Rat gewählt. Während dort in der ersten und zweiten Abstimmung der Gleichberechtigungsartikel abgelehnt wurde, war es in der dritten Sitzung auch Helene Weber, die die Zustimmung ihrer CDU zum Passus „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3, Abs. 2 GG) aushandelte. Ab 1949 war Weber Mitglied im Deutschen Bundestag und ab 1950 Delegierte im Europarat. Noch 1961 setzte sie sich persönlich dafür ein, dass Konrad Adenauer eine erste weibliche Bundesministerin ins Kabinett berief.

Bis zu ihrem Tod blieb Helene Weber also ihren demokratischen Werten treu und engagierte sich für Teilhabe und Mitbestimmung von Frauen in der Politik und in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.

Biografien heute – der Tag der Demokratie 2023

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Mit Playmobil-Figuren wird der Verfassungskonvent erklärt; v.l.n.r.: Adolf Süsterhenn, Hermann Brill, Carlo Schmid, Anton Pfeiffer, Otto Suhr, Hans Nawiasky, Foto: Michael Sommer

Macht eure eigenen Lebensläufe zu demokratischen Biografien und setzt euch für eure Freiheit und Werte ein – so die Botschaft zum Tag der Demokratie 2023. Wir machen die demokratischen Anfänge der Bundesrepublik Deutschland für euch erlebbar und wollen euch zum Nachdenken über unsere heutige Demokratie anregen!

Daher bietet die Schlösserveranstaltung zum Internationalen Tag der Demokratie auf Herrenchiemsee ein buntes Programm: Ihr könnt euch von unseren Expertinnen und Experten Fragen in der Ausstellung beantworten lassen, mit den Kuratorinnen eine exklusive Führung machen oder euch mit kurzen Videoclips die deutsche Verfassungsgeschichte im Schnelldurchlauf ansehen. Der YouTube-Videopublizist und Preisträger des Grimme Online Award Michael Sommer präsentiert seine kurzweiligen Erklärungen zur Geschichte, Vorgeschichte und den Nachwirkungen des Verfassungskonvents.

 


Titelbild: Heutige Demokratinnen und Demokraten im Gespräch im historischen Plenarsaal des Verfassungskonvents (v.l.n.r.): Dr. Markus Söder, MdL, Bayerischer Ministerpräsident; Ilse Aigner, MdL, Präsidentin des Bayerischen Landtags; Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident; Elke Büdenbender, Richterin. Quelle: Bayerischer Landtag, Foto: Stefan Obermeier