1948 tagte der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee im „Alten Schloss“ auf der Herreninsel, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Prachtbau Ludwigs II. Damals diskutierten rund 30 Experten über die Zukunft und Verfassung der deutschen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg. Was heute „Grundgesetz“ heißt, entstand zum großen Teil auf der bayerischen Urlaubsinsel – und hält uns den Spiegel vor, um über aktuelle Fragen des demokratischen Zusammenlebens im ganzen Land nachzudenken.
Herrenchiemsee heute und damals
Mit rund 350.000 Besucherinnen und Besuchern im Jahr (vor der Pandemie) zählt das Königsschloss Ludwigs II. auf Herrenchiemsee zu den meist besuchten Touristenattraktionen der Bayerischen Schlösserverwaltung. Und das zurecht, denn durch die besondere Insellage ist ein reichhaltiger und gelungener Ausflugstag garantiert.
Doch was viele nicht wissen: Vor knapp 75 Jahren war die Insel Schauplatz einer ganz besonderen Expertenrunde. Vom 10. bis 23. August 1948 tagte hier der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee. Damals ging es weit beschaulicher zu. Lediglich ein paar wenige Touristen, einheimische Fischereifamilien und Beschäftigte der Schlösserverwaltung und Schlosswirtschaft weilten hier. Dies war ein Grund, weshalb Herrenchiemsee als Beratungsstätte ausgesucht wurde. Der damalige Ministerpräsident Hans Ehard lud die Tagungsteilnehmer an „einen ruhigen Ort in Bayern“ ein, um in der Abgeschiedenheit an der neuen Verfassung für Deutschland zu arbeiten. Außerdem war in der ländlichen Region Oberbayerns weit weniger zerstört als in den großen Städten, und die Versorgungslage auf dem Land war etwas besser.
Bayern und Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Vor der Währungsreform 1948 war die Versorgungslage kritisch, und es herrschte massive Wohnungsnot. Displaced Persons und Flüchtlinge aus dem Osten hatten ihre Heimat verloren und blickten einer unsicheren Zukunft entgegen. Das Land war von den alliierten Mächten besetzt und in vier Besatzungszonen geteilt. Die Hauptkriegsverbrecher standen vor Gericht, doch die weiter reichende Entnazifizierung betraf viele Familien und nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. In dieser Situation galt es, sich Gedanken über die Zukunft des Staates zu machen.
13 Tage im August: Verfassungsdiskussionen auf der Insel
So kamen Abgesandte aus allen westlichen Ländern sowie aus Berlin zusammen, um ihre Vorstellungen von Grundrechten, Regierung, Gesetzgebung, föderalistischen und rechtsstaatlichen Strukturen zu koordinieren. Die Diskussionen waren zum Teil kontrovers und fanden auf höchstem Niveau statt – davon zeugen die Protokolle des Konvents. Neben den eigenen Ideen der Delegierten spielten Verfassungsentwürfe von Parteien, Vorbilder anderer Länder (z.B. der USA und der Schweiz) sowie historische Vorläufer, vor allem die Weimarer Verfassung, eine Rolle bei der Konzeption des späteren Herrenchiemseer Verfassungsentwurfs.
Die wichtigsten Fragen des Verfassungskonvents
Zentrale Themen, welche die Konventsteilnehmer 1948 umtrieben, die aber auch heute noch gesellschaftliche Relevanz besitzen, waren: (1) die Menschenwürde, die vor dem Hintergrund der Nazi-Barbarei auf Herrenchiemsee zum unumstößlichen Leitsatz erklärt wurde; (2) der Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten vor dem Zugriff des Staates; (3) die offene Frage des Umgangs mit der deutschen Schuld und der Positionierung Deutschlands im internationalen Staatengefüge; (4) die sich anbahnende Teilung Deutschlands in Ost und West aufgrund unterschiedlicher Interessen der Besatzungsmächte; (5) die föderalistische Tradition und Ausgestaltung des neu zu schaffenden Staatsgebildes; und schließlich (6) die Frage, wer überhaupt über eine Verfassung bestimmen durfte: die Besatzungsmächte? Das gesamte Volk? Gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten?
Zeitgeschichtliche und politische Themen für die bayerischen Schlösser
Diese Fragen stellen sich aufgrund aktueller weltpolitischer Herausforderungen und vermehrter Angriffe auf die Demokratie, ihre Institutionen und Vertreterinnen und Vertreter auch für die Aufarbeitung der Geschichte der Herreninsel. Denn nicht in allen Häusern der Schlösserverwaltung erschöpft sich die Bedeutung der historischen Orte in ästhetischer Raumkunst. Viele Besucherinnen und Besucher interessieren sich für die geschichtliche und politische Aufarbeitung der Gebäude und des Gezeigten. Mehrere Schlösser haben angefangen, ihre jüngere Vergangenheit stärker zu kontextualisieren: so die Bedeutung der Burg Lauenstein als Schauplatz demokratischer Aushandlungsprozesse in der Weimarer Republik, die Umgestaltung der Kaiserburg in Nürnberg während der NS-Zeit; oder die Nutzung der Cadolzburg für die Hitlerjugend. Herrenchiemsee wird nun als positiver Erinnerungsort in diese Liste aufgenommen – und zwar als bedeutender Ort der Demokratiegeschichte.
Ein Blick nach vorn
Herrenchiemsee und das Alte Schloss sollen Lernorte für die Demokratie werden. Hier entstanden weite Teile des heute noch gültigen Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, sprich: der deutschen Verfassung. Neben der Vermittlung der historischen Ereignisse wird zukünftig ein intensives Nachdenken über aktuelle Fragen des demokratischen Zusammenlebens ermöglicht: In welchen Situationen handelt Ihr demokratisch? Welche Werte aus dem Grundgesetz sind Euch wichtig? Wie begegnet Ihr Gefährdungen der Demokratie heute? In Kooperation mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit geht die Bayerische Schlösserverwaltung das neue Projekt an – die Neukonzeption der Dauerausstellung zum Verfassungskonvent von Herrenchiemsee. Am Internationalen Tag der Demokratie (15.9.) wird dieses Jahr mit einem Aktionstag auf der Insel darauf hingewiesen.