Wer heute als Besucher der Residenz durch die sogenannten Kurfürstenzimmer aus der Mitte des 18. Jh. wandert, wundert sich vielleicht, dass sich in der Mitte der Raumflucht die ansonsten weiträumigen Gemächer, in die regelmäßig eine übliche Münchner Single-Wohnung inklusive Flur-Küche-Bad-Minibalkon zu passen scheint, auf einmal zu zwei vergleichsweise engen Zimmerchen zusammenziehen.
Tatsächlich stießen ursprünglich an dieser Stelle die gegenläufig angelegten Wohnbereiche des Kurfürsten Max III. Joseph und seiner Gemahlin, der sächsischen Prinzessin Maria Anna (1728-1797), aneinander. Die Nahtstelle bildeten zwei Kabinette, durch die man einander – falls denn der Wunsch bestand – besuchen konnte. In den architektonischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts bezeichnete innerhalb der Anlage einer fürstlichen Wohnung mit ihrer Abfolge von Vor- und Empfangszimmern und dem Schlafgemach das Kabinett einen rückwärtig gelegenen, vergleichsweise privaten Rückzugsraum. Während die anderen kurfürstlichen Wohnräume gemäß dem höfischen Protokoll jeweils einer mehr oder minder großen Anzahl von Menschen tagtäglich öffentlich zugänglich waren, sollten hier wirklich nur noch wenige ausgewählte Besucher oder sogar niemand mehr eintreten dürfen. In den Kabinetten wurden deshalb auch gern die kostbarsten Besitztümer aufbewahrt und ausgestellt. Auch unsere beiden kleinen Räume sind jetzt noch mit edlem Mobiliar bestückt und mit kostbaren farbigen Stoffen bespannt. Trotzdem erinnert heute vor Ort außer dem kleineren Raumformat nur noch wenig an ihre einstige Funktion. Hier hatte sich einst nämlich der Zugang in eine andere, exotische Welt eröffnet: Um 1763/64 ließ Max III. Joseph das östliche der beiden Zimmer durch François Cuvillies als Teekabinett für seine Gemahlin einrichten.
Das hieß aber nicht, dass man einfach Tisch, Stuhl, Kanne, Rechaud und einen Schwung Tassen bereit gestellt hätte. Der ganze Raum wurde vielmehr zu einer Art Erlebnisort ausgestaltet, der sich thematisch auf Asien, den Herkunftsort des exotischen Getränks, konzentrierte. Tatsächlich setzte sich der unter hohen Kosten damals hauptsächlich aus China importierte Tee erst im Laufe des 18. Jahrhunderts an den deutschen Höfen durch – hier kämpfte man noch ziemlich, Geschmack an den auch ebenfalls ziemlich neuen osmanischen Kaffeebohnen zu entwickeln. Die Vorstellung, mit dem Genuss des heißen Kräutersuds gleichzeitig am Leben des fernen, legendenumwobenen Kaiserhofs von „Cathai“ – China – teilzunehmen, das in den Reiseberichten missionierender Jesuitenpater anschaulich (und stellenweise mit etwas Phantasie) geschildert wurde, machte Brühen, Aufgießen und schluckweises Verkosten trotz aller Bitterstoffe zum Ereignis. Cuvilliés und die von ihm befehligten Kunsthandwerker griffen dieses Gefühl auf: Die Decke des Kabinetts mit seiner ausschwingenden Ofennische wurde mit modellierten und gemalten „Chinoiserien“ aus Stuck geschmückt– figürlichen Darstellungen aus einem erträumten, erfundenen China, dessen Motive sich an den Malereien importierter Porzellane, Wandschirme und Lackschatullen inspirierte.
Da man in Europa das ferne Land für reich und klimatisch besonders begünstigt hielt und die Kaiser für weise, väterliche Despoten mit dekorativen Rauschebärten erachtete, wurden die „Chineser“ selbst als sorgenlose, verspielte Gesellen dargestellt, die sich ganztägig mit Tanz, dem Füttern von Papageien, Äffchen und Seidenraupen, dem Malträtieren von fremdartigen Musikinstrumenten und sonstigen anspruchsvollen Erbaulichkeiten beschäftigten.
Ob dem Betrachter am Münchner Hof dies als Ideal erschien, oder ob er seine eigene Lebensweise von einer solchen exotischen Dasein abgrenzen wollte, ist nicht eindeutig – beides wird eine Rolle gespielt haben.
Der so dekorierte Raum war bestückt mit kostbaren Möbeln mit „Indianischem Holz“, was auf die Verwendung ostasiatischer Lacktafeln schließen lässt. Dazu kamen natürlich zahlreiche Teeutensilien aus Porzellan, das man ursprünglich ebenfalls aus Asien eingeführt hatte, bis es unter dem Großvater der bayerischen Kurfürstin, August dem Starken von Sachsen-Polen, in Meißen gelang, es auch in Europa herzustellen.
Doch so bezaubernd die Vision einer friedlichen, spielerischen Welt an den Wänden des Kabinetts auch gewesen sein mag, sie entging dennoch nicht der Vernichtung im Zweiten Weltkrieg: Zusammen mit den übrigen Kurfürstenzimmern brannte der Raum aus, ging die Ausstattung, bis auf das rechtzeitig geborgene Mobiliar verloren. In der Phase des Wiederaufbaus entschied man sich dann später, die Raumfolge nicht zu rekonstruieren, sondern die Gemächer nur in Anlehnung an den Vorzustand vereinfacht wiederherzustellen. Doch können hier und dort erhaltene Fotos und Berichte immer noch ein spätes Echo dieses einstigen Abbilds einer bewunderten exotischen Phantasiewelt vermitteln.
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