Niemand hätte es für möglich gehalten – sie selbst wohl am allerwenigsten. Auf Knien dankte Maria Alexandrowna „der guten Vorsehung“, sie zur Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha, eines winzigen deutschen Fürstenstaates gemacht zu haben. Ein noch winzigerer Sommersitz erschien ihr, die im gigantischen Winterpalast zu St. Petersburg das Licht der Welt erblickt hatte, geradezu paradiesisch:
„Dir an einem himmlischen Morgen von unserer geliebten Rosenau aus schreiben zu können, ist wie ein schöner Traum. Die Vögel zwitschern, die Fontäne plätschert sanft und man erneuert emsig die Linien für das Lawntennis. Ich war ganz betäubt von dem scheußlichen London mit all seinen Ermüdungen, all seinem Schmutz.“
Die Ankunft in Franken war für die 40-Jährige ein Befreiungsschlag. Mehr noch, sie war eine Heilung, denn England, die Nation ihres Ehemannes, war ihr zutiefst verhasst. Zwei lange Jahrzehnte hatten nicht ausgereicht, Heimatgefühle in ihr zu erzeugen und alles, alles dort empfand sie schlicht als unzumutbar: London („intrigant, bitterkalt, windig, düster – schrecklicher, als ich erwartet hatte!“), das Essen, die Temperaturen, die späten Bettzeiten bei Hof, die Tatsache, dass sie nicht im Stande war, während eines Balles zu rauchen, ohne einen gesellschaftlichen Skandal mittleren Ausmaßes herauf zu beschwören. Vor allem aber missfiel ihr eine: Königin Victoria – die Schwiegermutter. Es war ein Kampf der Titanen: auf der einen Seite die Herrscherin, die nicht allein einem Weltreich vorstand, sondern mit fest-pedantischer Hand auch ihrer zahlreichen Nachkommenschaft. Auf der anderen Maria Alexandrowna, Großfürstin von Russland, eine Zarentochter aus dem Hause Romanow, die der unerschütterlichen Überzeugung war, nichts und niemand in dieser Nation sei ihr ebenbürtig. Sie war, so erinnerte sich ihre älteste Tochter später, unter den Mitgliedern der weitverzweigten Familie die einzige, die es wagte, in offenen Konflikt mit der Queen zu treten – und standhielt. Nach außen von eiserner Haltung („jeder Zentimeter eine Großfürstin“) schrieb sie verzweifelte Briefe in ihre russische Heimat.
„… jahrelang litt ich in höchstem Maße an Heimweh, an einer Sehnsucht nach der Umgebung, in der ich aufwuchs und der ich angehöre. Und dieses Heimweh wurde, trotz meines sonst ruhigen und vernünftigen Charakters, zu einer wahren Krankheit. Das Einzige, was mich in diesem qualvollen Erleben aufrecht erhielt, war die Aussicht, nach Russland zu reisen. Niemals hätte ich die langen Monate in England ertragen, ohne diese Aufenthalte in einer russischen Umgebung, mit meiner Familie, meinen Freunden. Sie allein gaben mir die Kraft und Courage, nach England zurückzukehren und meine Pflicht zu erfüllen.“
Der „Horror“ vor dem Inselstaat und seinen Gewohnheiten, nie verging er und erzeugte eine innere Spannung, die auch ihrer Umwelt nicht verborgen blieb: die junge Frau wurde als hochgebildet und belesen beschrieben, als Dame von charmanten Umgangsformen, in mehreren Sprachen fließend konversierend, als liebevoll-hingebende Mutter von fünf Kindern – und als gefühlskalt, äußerst dominant, ja furchteinflößend und brutal. Dabei hatte sie ihr Schicksal selbst gewählt.
Ein Leben voller Konflikte
Maria Alexandrowna kam 1853 als sechstes der acht Kinder von Zar Alexander II. zur Welt. Sie war unter sechs Söhnen die einzig überlebende Tochter und genoss somit – in jeder Hinsicht – eine Sonderstellung „an einem Hof, dessen Pracht man gesehen haben musste, um an seine Existenz glauben zu können“. Eine Fürstenehe aber, das hatte sie früh realisiert, basierte nur höchst selten auf Gefühlen romantischer Natur. Nach der Geburt ihres jüngsten Bruders hatte der Vater die schwer tuberkulosekranke Mutter ignoriert und mit seiner Mätresse eine zweite Familie gegründet. Ihren eigenen vier Töchtern riet Maria später unverblümt: „Verliert nicht euer Herz. Die Männer sind es nicht wert. Hättet ihr wirkliche Einsicht in deren Leben, angeekelt würdet ihr euch abwenden, da man dort nichts findet als Dreck und nochmals Dreck.“ Starke Zweifel an der Ehe prägten das junge Mädchen. Und doch war es erzogen worden, darin eine Pflicht zu sehen, der es zu genügen galt. So war sie gewillt, ihr Schicksal, soweit irgend möglich, selbst zu bestimmen: Ausgewählt wurde, des anfänglichen Widerstandes beider Familien ungeachtet, Prinz Alfred, der zweitälteste Sohn der englischen Königin. An seiner Seite führte die 21-Jährige 1874 Duchess of Edinburgh – ein Leben voller Konflikte.
„Ich gelte hier als wahre Kuriosität,…“
„…da ich weder intrigiere, noch mich in die Intrigen der Hofdamen und der Dienerschaft verwickeln lasse; dies ist der Grund, warum die englische Familie mich wenig schätzt…“
Vergeblich bestand Maria darauf, dass ihr, der Tochter des „Beherrschers der russischen Erde“ und damit des größten Territorialstaates, Vorrang vor ihrer Schwägerin, der Prinzessin von Wales gebühre, die schließlich „nur einen unbedeutenden Monarchen“, den König von Dänemark, zum Vater habe. Sie verlangte weiterhin als „Kaiserliche Hoheit“ und nicht, ihrem neuen Rang gemäß, „lediglich“ als „Königliche Hoheit“ tituliert zu werden. Ihr außerordentlicher Reichtum spielte dabei keine geringe Rolle. Durch die Mitgift seiner einzigen Tochter hatte Alexander II. eindrucksvoll die finanzielle Überlegenheit Russlands demonstriert: mit einer Summe von einer Million Rubel, umgerechnet 100.000 britischen Pfund und einer jährlichen Zahlung von umgerechnet 30.000 Pfund (die königliche Jahresapanage ihres Ehemannes betrug gerade die Hälfte) stellte die Großfürstin alle anderen Mitglieder des englischen Hofes finanziell in den Schatten. Und so ereiferte sich die Königin über die Tatsache, dass ihre Schwiegertochter ihre „zu prächtigen“ Juwelen permanent zur Schau stelle und das ihr als Wohnsitz zugewiesene Clarence Haus als „dunkle, enge Grotte“ bezeichnete. Auch die Tatsache, dass Maria ihren Kindern selbst die Brust gab und sich damit „zu einer Kuh“ mache, missfiel auf das Äußerste. Von Alfred, ihrem Ehemann, war offenbar keine Unterstützung zu erwarten; die junge Frau fasste seine Haltung recht bald als „meines Gatten Charakterschwäche“ zusammen.
Und noch Jahre später, als die Queen ihren Hofmaler Carl Sohn mit einem Familienporträt beauftragte, machte Marias Reaktion den schwelenden Konflikt der beiden Frauen überdeutlich:
„Ich bin unfassbar wütend: abgesehen davon, dass ich die langen Sitzungen hasse, missfällt mir die Tatsache, dass mein schweineartiges Gesicht auf Leinwand gebannt und so der Nachwelt übereignet werden muss. Wäre ich noch das schlanke, junge Ding von einst, es würde mir wenig ausgemacht haben – aber jetzt?! Seine erste Skizze von mir ist grauenhaft, da die Königin ihn mit den scheußlichsten Fotographien versorgt hat, die je von mir gemacht wurden. Ich war so erfüllt von Horror, dass ich es nicht verbergen konnte und der arme Mann weiß nicht recht, was er von der ganzen Angelegenheit halten soll.“
Franken – die Erlösung
Längere Aufenthalte auf Malta, wo ihr Gemahl 1886 zum Oberbefehlshaber der Mittelmeerflotte ernannt worden war, leiteten einen Wandel für die Zarentochter ein. Es war jedoch ein Todesfall, der sie endgültig aus ihrer Misere befreien – und dauerhaft in das beschauliche Franken bringen sollte. 1893 starb der kinderlose Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha und sein Neffe Alfred erbte den Thron des kleinen, aber souveränen Herzogtums. Maria war selig, als er verkündete, die Herrschaft nicht von England aus, sondern an Ort und Stelle ausüben zu wollen: „ein herrliches Land ist nun unser!“
Zufrieden konstatierte die neue Herzogin noch im gleichen Jahr, ihr Gatte fühle sich so wohl, dass er gar nicht daran denke, nach England zurückzukehren. Sie hatte sich befreit: In ihre Briefe begannen sich zahlreiche deutsche Worte und Passagen zu mischen, sie liebte fränkische Volkslieder und genoss es, dass sich die „ruhigen Coburger“ bis zur Erde vor ihr verneigten. Zahlreiche Schlösser und Landsitze standen ihr künftig zur Verfügung – darunter die „herrliche, geliebte“ Rosenau, die zu ihrem Lieblingsaufenthalt wurde.
Den Anspruch einer Zarentochter legte sie jedoch auch in ihrer neuen Heimat nicht ab. Wiewohl beeindruckt von der Größe des Gothaer Residenzschlosses Friedenstein, fand sie dessen Räume ungemütlich und düster, die Korridore eiskalt und die Fenster in zu dicke Mauern eingelassen. Ihrer Tochter schrieb sie: „Ich glaube, ich werde mich hier niemals wohlfühlen. Beständig bin ich ermüdet, da die Wege außerordentlich lang sind – ich laufe einen halben Kilometer, um überhaupt ins Freie gelangen zu können […] Wir hatten einen großen Empfang, solche Ordnung und gutes Benehmen und die Damen überhaupt nicht so übel angezogen; einige erschienen mir sogar recht intelligent. Die Herren waren deutlich lächerlicher anzusehen, da sie allen möglichen Klassen entstammten, Schulmeister, Kleriker und Kaufleute.“ Es war das fränkische Land, in dem sie sich nicht zurückgesetzt fühlte, sondern, ihren eigenen Worten gemäß, als „grande personnage“ gelten und regieren konnte. Wann immer sie von unvermeidlichen Reisen nach England zurückkehrte, gab sie sich erleichtert, empfand endlich auch außerhalb Russlands Heimatgefühle.
Die Revolution des Jahres 1918 aber beraubte die Herzogin in vieler Hinsicht ihrer Existenz: der Zusammenbruch der Monarchie bedeutete auch das Ende der adeligen Standesprivilegien. Vermögenswerte wurden enteignet und ein Verbleiben im revolutionären Coburg verbot sich fortan. Der Weg in das ebenfalls revolutionäre Russland war unmöglich, als deutsche Fürstin war selbst an eine Rückkehr in das ihr so verhasste England nicht zu denken. Maria Alexandrowna floh schließlich in die Schweiz, wo sie in einer Suite des Züricher Grand Hotel Dolder – in ihren Augen eine „schäbige kleine Pension“ – ihre letzte Wohnung nahm. Dort starb Ihre Kaiserliche und Königliche Hoheit die Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha, Duchess of Edinburgh und Großfürstin von Russland bereits 1920 an den Folgen eines Herzinfarktes. Seine Ursache soll der Legende nach – ein böser fränkischer Abschiedgruß? – ein schlichtes Telegramm gewesen sein, adressiert an: „Frau Coburg“.
Titelbild: Großherzogin Maria Alexandrovna (1853-1920), 1873. Royal Collection Trust. © Her Majesty Queen Elizabeth II 2021.