Wer im noblen Obergeschoss der Residenz das prunkvolle Paradeappartement der 1730/37 ausgestatteten „Reichen Zimmer“ betritt, wird über den in einer Sichtachse geöffneten Türen sogleich kritisch in den Blick öl-gemalter Augen genommen: Dort, in den sogenannten „Supraporten“, sind Bildnisse römischer Kaiser des ersten Jahrhunderts angebracht, genauer gesagt die kanonischen ersten zwölf Imperatoren. Das sind zunächst die Mitglieder der julisch-claudischen Dynastie, beginnend mit Julius Cäsar (C[K]äsar = Kaiser = Zar) und seinem Adoptivsohn Octavian („Augustus“). Es folgten dann, befeuert von „Cäsaren-Wahnsinn“ und grassierenden Herrschermorden, in schneller Abfolge weitere Anwärter auf den kaiserlichen Lorbeer, bis mit dem listigen Vespasian und seinem Sohn Titus wieder etwas mehr Ruhe auf den Stufen zum Thron einkehrte.
Ihren bis heute andauernden Ruhm sowie ihre übliche Zusammenfassung zum berühmtesten „dreckigen Dutzend“ der antiken Geschichte verdanken die Cäsaren nicht zuletzt ihrem Biografen Sueton (⁎um 70 – †nach 122). Dessen achtbändige Sammlung „De vita Caesarum“ wurde vermehrt ab dem 15. Jh. von Renaissance-Humanisten verschlugen und prägte entscheidend das frühneuzeitliche Bild von der Wandlung der mächtigen und tugendhaften römischen Republik in ein weltumspannendes Imperium voller Sex and Crime („Star Wars“ lässt heftig grüßen…).
Die Münchner Bildnisse spiegeln diese Rezeptionsgeschichte wider: Fies blickt der aufgedunsene Pyromane und Muttermörder Nero (und ähnelt tatsächlich etwas seinem viel jüngeren Schauspieler-Double Peter Ustinov).
Augustus, erster „Princeps“ und „Vater des Vaterlandes“, kokettiert dagegen mit Hipster-Bart und Weltkugel. Misstrauisch blickt derweil sein Adoptivvater Julius Cäsar aus den Augenwinkeln, als ob er die Dolche der mordlustigen Senatoren schon blitzen sieht, und scheint nervös zu murmeln: „Lasst dicke Männer um mich sein“. Den Wunsch erfüllt im Nachbarzimmer der korpulente Vitellius mit seinem von Sueton lustvoll beschriebenen Toupet, während sich der vierschrötige Titus mit Kommandostab auf die Eroberung Jerusalems vorbereitet – und so weiter und so fort…
Unser Münchner Zyklus ist berühmt – nicht so sehr wegen der Originaliät der Bildfindungen, sondern eher sogar aus gegenteiligem Grund: Tatsächlich handelt es sich bei den Porträts nämlich „nur“ um Kopien, allerdings um sehr frühe Kopien nach sehr prominenten Vorbildern: Gemälde, die niemand Geringerer als Maler-Abgott Tizian in den späten 1530er-Jahren als Ausstattung für das sogenannte „Camerino dei Cesari“ im Palast seines Gönners Federico II. Gonzaga (1500-1540), des Herzogs von Mantua, schuf.
„Er [Tizian] begleitete diesen Fürsten nach seinen Staaten und malte sein Bildnis so treu, dass es wie lebend erscheint, auch das von dem Kardinal, seinem Bruder, und nach dessen Vollendung zwölf sehr schöne Brustbilder von zwölf Kaisern zum Schmucke eines Zimmers zwischen denen, welche Giulio Romano verziert hat. Dieser malte späterhin unter jedem Kaiser ein Bild von dessen Taten.“
So überliefert es der „Vater der Kunstgeschichte“ Giorgio Vasari in seinen berühmten Künstlerviten (1568). Also leider nur sehr knapp – vielleicht auch, weil Vasari, dem Florentiner Hofkünstler und in der Wolle gefärbten Anhänger Michelangelos, die Farbenpracht und der freie Malduktus des Venezianers Tizian innerlich letztlich fremd blieb. Sehr schade! Denn sonst wüssten wir vielleicht mehr über diesen Bilderzyklus, der vielfach kopiert, aber bereits im 18. Jh. zerstört wurde: 1628 hatte der Erbe der Gonzaga die berühmten Köpfe an den englischen Stuart-König Karl I. verkauft. Als dieser wiederum ein paar Jahre später sein melancholisches, von Van Dyck vielfach porträtiertes Haupt auf Cromwells Schafott legen musste, wurde seine „Royal Collection“ zerstreut und Tizians Zyklus gelangte 1652 in die Hände des kunstbeflissenen spanischen Königs Philipp IV. Dieser war wie schon sein Großvater Philipp II. ein großer Tizian-Fan und füllte mit der prominenten „Dutzendware“ einige weitere Quadratmeter Wand des weitläufigen Alcázar von Madrid. „Leider!“ muss man sagen – denn als dieses Schloss im Jahr 1734 abbrannte, gingen mit unzähligen anderen Kunstschätzen auch die Mantuaner Kaiser in Flammen auf.
Dass wir heute dennoch einen Eindruck von den verlorenen Kunstwerken haben, verdanken wir den um 1593 gefertigten Kupferstich-Reproduktionen des Aegidius II. Sadeler (der die Cäsaren zugleich um zwölf Fantasieporträts ihrer Gattinnen ergänzte) sowie gemalten Kopien. Und deren wohl bedeutendste Serie hängt bereits seit dem 16. Jh. in der Münchner Residenz, worauf schon der Maler und Kunstgelehrte Ernst Förster in seiner kommentierten Vasari-Übersetzung von 1849 hinwies.
Erstmals dokumentiert finden sich unsere Kaiser im 1598 angelegten Inventar des herzoglichen Kunstkammergebäudes südlich des Residenzareals. Mit diversen Fragezeichen versehen ist hingegen das Warum und Wie die Bilder in Wittelsbacher Besitz gelangten. Vermutlich handelt es sich um den ersten Satz von Kopien, die der Maler Bernardino Campi (um 1522-1591) ab 1562 anfertigte – und der den Zyklus bei dieser Gelegenheit auch gleich vervollständigte: Aus unklaren Gründen (vermutlich bot das „Camerino“ zu wenig Platz) hatte Tizian selbst nämlich ursprünglich nur elf Cäsaren geliefert. Nummer zwölf, das Porträt des gemeinhin wenig geliebten Christenverfolgers Domitian, wurde nun erst von Campi „nachgeliefert“ (in der üblichen Zählung aber Tizian zugeschlagen).
Als ebenso prachtvolles wie anspielungsreiches Geschenk gelangten Campis kopierte Kaiser wenig später an den Wiener Hof ihres „Nachfolgers“ Ferdinand I., selbst römisch-deutscher Kaiser und seit 1546 Schwiegervater des bayerischen Herzogs Albrecht V. (reg. 1550-1579). Es ist daher zu vermuten, dass die „Cesari“ als fürstliches Präsent Ferdinands oder als Erbe seiner Tochter Anna von Österreich nach München gelangten. Dafür spricht auch, dass Albrecht V. im Jahr 1567 den aus Mantua gebürtigen Antiquar Jacopo Strada, der sowohl den Wiener Kaiserhof als auch die Wittelsbacher in Kunstfragen beriet (und von Tizian in einem berühmten Porträt verewigt wurde), zwar beauftragte, Kopien der Malereien im „Camerino dei Cesari“ zu beschaffen, aber nur von den ergänzenden Historienbildern des Giulio Romano, weshalb anzunehmen ist, dass sich die Porträts damals bereits in Albrechts Besitz befanden.
Anhand der Münchner Gemälde erhellt sich so schlaglichtartig auch sehr schön der enge kulturelle Austausch zwischen den Höfen des 16. und 17. Jh.: Wittelsbacher, Habsburger und Gonzaga waren vielfach untereinander verbunden und verwandt, und nicht nur Albrecht V. ließ sich von Mantuaner Schlossräumen inspirieren – sein niederbayerischer Onkel Ludwig X. „der Reiche“ ließ gleich seine halbe Landshuter Stadtresidenz als freie Kopie des berühmten „Palazzo del Te“ errichten, den Federico II. Gonzaga von Giulio Romano hatte entwerfen und ausmalen lassen.
Dass Tizians Kaiser so schnell so viel Interesse erregten, hatte neben dem bewunderten Künstler auch mit dem repräsentativen Sujet zu tun: Von jeher nutzten Europas Herrscher den Bezug auf die zwölf Cäsaren, um kühn genealogische Abstammungen zu konstruieren und ein kulturelles wie machtpolitisches Kontinuum zwischen dem antiken römischen Weltreich und der eigenen Herrschaft zu behaupten.
Vor allem gilt dies für ihre selbst ernannten Rechtsnachfolger, die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aus dem Hause Habsburg, die ab dem 15. Jh. das eigentlich durch Wahl verliehene Königs- und Kaiseramt faktisch als Familienerbe zu vereinnahmen suchten. Schon die Einrichtung des Mantuaner „Camerino“ muss in engem Zusammenhang mit den Besuchen Kaiser Karls V. am Hof seines Verbündeten Federico II. gesehen werden. Aber nicht nur Freunde, auch die Konkurrenten der Habsburger stellten ihre eigene Kaiserwürdigkeit gerne durch künstlerische Inanspruchnahme der antiken Imperatoren heraus: Das galt für die machtvollen Könige Frankreichs genauso wie für kleinere Rivalen Habsburgs aus den Reihen der eigenen Königswähler, also der Kurfürsten. Und unter diesen besonders für die bayerischen Vettern aus dem Hause Wittelsbach, denn die hatten zumindest schon einmal im 14. Jh. mit Ludwig IV. „dem Bayern“ einen römisch-deutschen Kaiser gestellt und wurden nicht müde, diesen erfolgreichen Testlauf dem historisch interessierten Publikum immer wieder unter die Nase zu reiben. Auch ihr berühmtes „Antiquarium“, das Albrecht V. etwa zu der Zeit, als die Tizian-Kopien München erreichten, von Jacopo Strada konzipieren ließ, präsentierte sich spätestens ab Ende des 16. Jh. als „kaiserliches Refugium“: Unter einer ans Gewölbe freskierten Verherrlichung der Wittelsbacher Herrschertugenden nebst einer gemalten Topografie des bayerischen „Weltreichs“ thronten auf stuckierten Sockeln antike Büsten sämtlicher römischer Imperatoren (darunter allerdings auch einige bislang namenlose Steinköpfe, die mit Fantasie und gravierten Inschrifttafeln zu kaiserlichem Rang und Namen „befördert“ wurden).
Eine vergleichbare propagandistische Bedeutung unserer Münchner „Cesari“ lässt sich aus der mehrfach aktualisierten Inszenierung der Gemälde ablesen. Schon in der herzoglichen Kunstkammer waren die Bilder in einem der großen Sammlungssäle prominent als gliedernder Raumschmuck entlang der Fensterpfeiler angebracht worden, jeweils kombiniert mit Steinreliefs, die gleichfalls die Kaiser zeigten, und den 1567 für Albrecht V. kopierten Bildszenen, die Episoden aus ihrem Leben schilderten.
Unter Albrechts Enkel Maximilian I. (reg. 1597-1651), der die Residenz modernisieren und umfänglich erweitern ließ, wurde die Serie zwischen 1615 und 1644 in dessen reich ausgestatteten Neubauten transferiert: Hier schmückte sie zu ebener Erde den weitläufigen „Saal der vier Schäfte“ (= Säulen), die prachtvolle Eingangskulisse bei kaiserlichen Staatsbesuchen.
Unter den kritischen Blicken ihrer antiken Vorgänger erklommen bei solcher Gelegenheit die Oberhäupter des Reichs von hier aus die üppig mit Tugendallegorien und – natürlich – der Statue des Bayern-Kaisers Ludwig IV. belebte Prunktreppe zum festlichen „Kaisersaal“, dessen gemaltes Bildprogramm verkündete, dass die Wittelsbacher selbst zwar (noch) nicht Kaiser seien, aber für dieses hohe Amt schon sehr, sehr geeignet…
Noch ein weiteres Mal spielten die kopierten Cäsaren „Bäumchen wechsel Dich“ dann im 18. Jh. – erneut, um Wittelsbacher Machtansprüchen künstlerischen Ausdruck zu verleihen: Das damals absehbare Aussterben der Habsburger im Mannesstamm beflügelte die ehrgeizigen Hoffnungen des Kurfürsten Karl Albrecht (reg. 1726-1745), endlich selbst die Kaiserkrone zu erlangen.
Im Vorgriff ließ er ab 1730 die Repräsentationsräume der Residenz durch François Cuvilliés und seine Mitarbeiter in ein zeitgemäßes Prunk- und Zeremonial-Appartement kaiserlichen Ranges umwandeln. Um den dort manifesten Griff nach der Krone und dessen historische Legitimität auch dem letzten Höfling und Diplomaten zu veranschaulichen, wurden die Tizian-Kopien aus ihrem frühbarocken Ausstattungskontext am maximilianischen Kaiserhof herausgelöst und über die Türen versetzt, die von den Vorzimmern aus zu Karl Albrechts Rokoko-Audienzgemach führten. Hierzu mussten die ursprünglich hochrechteckigen Bilder durch Anstückungen ins Querformat verbreitert werden, was sich noch heute vor Ort bei seitlichem Lichteinfall gut erkennen lässt.
Beziehungsreich ergänzte man zugleich auch die zwölf antiken Herrscherbildnisse durch ein dreizehntes Kaiserporträt zu Seiten von Karl Albrechts Thronbaldachin. Erneut handelte es sich um die Wiederverwendung eines älteren Werks, das rund ein Jahrhundert zuvor im Auftrag Maximilians I. von dessen Hofmaler Peter Candid geschaffen worden war: Ein weiteres Mal zeigte es den Wittelsbacher Kaiser Ludwig IV. (†1347). Geschmückt mit den altertümlichen Reichsinsignien, den imperialen Adler zur Seite, posierte er hier als bajuwarischer Erbe des antiken Cäsaren-Weltreichs, um die im Jahr 1742 schließlich (wenn auch nur kurzzeitig) erreichte Realisierung eines Wittelsbacher Kaisertums als historische Notwendigkeit vor Augen zu führen!