Das Grundgesetz, dessen 75. Jubiläum in diesem Jahr groß gefeiert wird, klingt zunächst wie ein rein deutsches Produkt. Schließlich soll es doch das gesellschaftliche und politische Zusammenleben in Deutschland regeln. International scheint das Grundgesetz auf den ersten Blick nicht zu sein. Doch weit gefehlt!
Das Grundgesetz und seine Ursprünge
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt es die politische Landschaft in Deutschland neu zu regeln. Schon bald stellte sich heraus, dass die Pläne und Vorstellungen der Westmächte sich von denen der Sowjetunion grundlegend unterschieden. Somit ging die Neustrukturierung des Landes bald zweigeteilte Wege. Im Westen bildete sich 1948 auf Anweisung von Frankreich, Großbritannien und den USA ein Gremium zur Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung.
Im August 1948 tagten für zehn Tage dreißig Experten aus den westlichen Bundesländern auf Herrenchiemsee, um einen ersten Entwurf zu verfassen. Dieser sollte dem Parlamentarischen Rat als Grundlage dienen und bildete das Fundament für das Grundgesetz. Mit im Gepäck hatten die auf Herrenchiemsee tagenden Experten u.a. die Schweizer Bundesverfassung sowie die Verfassungen der USA, Großbritanniens sowie aus weiteren Ländern des Commonwealths.
Somit ist das Grundgesetz in seinen Ursprüngen sowohl international angeordnet als auch inhaltlich durch verschiedene internationale Verfassungsvorbilder beeinflusst. Gleichzeitig hatte und hat es heute noch eine nicht zu unterschätzende internationale Wirkung.
Der demokratische Neuordnungsprozess als internationales Vorbild
Viele Artikel des Grundgesetzes, insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, entstanden als Reaktion auf die schweren Jahre unter der NS-Diktatur. Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war die Menschenwürde mit der Charta der Vereinten Nationen in das internationale Recht eingeführt worden. Vier Jahre später wies das Grundgesetz der Menschenwürde einen zentralen Platz zu: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Art 1, Abs. 1, GG).
Während wir heutzutage den Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes meist als direkte Reaktion auf den Holocaust verstehen, war der damalige Gedanke, die gesamte Bevölkerung vor dem totalen Anspruch einer Diktatur zu schützen. Dies zeigt sich sehr gut an der Formulierung im Herrenchiemseer Verfassungsentwurf: „[1] Der Staat ist um des Menschen Willens da, nicht der Mensch um des Staates willen. [2] Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar.“ Die letztendliche Platzierung der Menschenwürde an erster Stelle im Grundgesetz hat weltweite Beachtung gefunden.
Auch die allgemeine Aufwertung der Grundrechte sorgte international für Anerkennung und Nachahmung. In der Weimarer Verfassung waren diese zwar verankert gewesen, konnten aber zu leicht ausgehebelt werden. Die Grundrechte sollten fortan an zentraler Stelle stehen und stärker abgesichert werden. Ursprünglich bezogen sich die Grundrechte auf die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern, doch bereits in den 1950er- und 1960er Jahren fanden die Grundrechte ihre Anwendung auch im Privatrecht. Diese sogenannte Drittwirkung der Grundrechte strahlte als juristische Doktrin in viele Länder aus, insbesondere nach Südafrika. Aus Sorge, dass die Apartheidpolitik nach der offiziellen Abschaffung im Privaten weitergelebt werden würde, sieht die südafrikanische Verfassung explizit vor, dass die Rechtsprechung „den Geist, die Bedeutung und die Ziele“ der Grundrechte zu beachten habe.
Doch zurück nach Herrenchiemsee: Den Experten war es wichtig zu verhindern, dass jemals wieder ein Diktator auf legalem Wege, durch geschicktes Ausnutzen der gesetzlichen Lücken, an die Macht gelangen kann, wie dies im Falle Hitlers geschehen war. Eine tragende Rolle hatte dabei der letzte Reichspräsident der Weimarer Republik gespielt. Aus diesem Grund sprachen sich die Experten auf Herrenchiemsee für eine Beschneidung der präsidentiellen Rechte aus, die Notfallverordnungsrechte sowie die Bundesexekution entfielen. Dem Staatsoberhaupt sollten fortan vor allem repräsentative Aufgaben zufallen. Auch der Föderalismus wurde gestärkt mit dem Zweck, das Entstehen einer künftigen Diktatur zu verhindern. Eine Gleichschaltung der Länder sollte nicht mehr möglich sein.
Insgesamt zielte der Entwurf von Herrenchiemsee ebenso wie das sich daraus speisende Grundgesetz darauf ab, die Entstehung einer neuen Diktatur zu verhindern und eine stabile Demokratie zu gewährleisten. Der Wandel Deutschlands von der nationalsozialistischen Diktatur hin zur bis heute anhaltenden Demokratie galt vielen anderen Länder als Vorbild. Auch in Italien, Spanien, Griechenland und Portugal sowie in Osteuropa fanden im Laufe des 20. Jahrhunderts Diktaturen ihr Ende und eine neue Verfassung musste geschrieben werden, ebenso in vielen lateinamerikanischen Ländern.
Zahlreiche Verfassungen, die sich andere demokratische Staaten im 20. Jahrhundert gaben, orientieren sich am Grundgesetz und den dahinterstehenden Ideen. Die Prinzipien des Föderalismus, die strikte Trennung der drei Gewalten (Exekutive, Legislative und Judikative) sowie die Etablierung des Bundesverfassungsgerichts als obersten Wächter der Bundesrepublik wurden weltweit imitiert: von den ehemaligen Ländern der Sowjetunion über den Balkan und Afrika bis nach Lateinamerika. Natürlich ist das deutsche Grundgesetz in allen Fällen nicht die alleinige Quelle, sondern eine von mehreren – wenn auch mit großen Einfluss. Neben den juristischen Fakten gilt auch die deutsche Erinnerungskultur als Vorbild: Der Gedanke des „Nie wieder“ fand auch in Südafrika sowie in Argentinien, Chile und weiteren lateinamerikanischen Staaten Nachahmung.
Von der Franco-Diktatur zur heutigen spanischen Demokratie
Besonders groß war der Einfluss des Grundgesetzes auf die Verfassungsgestaltung in Spanien. Die Verkündung der spanischen Verfassung im Dezember 1978 gilt als Höhepunkt der sogenannten transición – des Übergangs Spaniens nach dem Tod des Diktators Francisco Franco im Jahr 1975 zur Demokratie. Der Beistand aus Deutschland war in diesem Übergangsprozess zur Demokratie essenziell: Die deutschen Parteien unterstützten die Neubildung der spanischen Parteienlandschaft und das deutsche Grundgesetz bildete die größte Inspiration für die Neugestaltung der spanischen Verfassung, aber natürlich nicht die einzige.
Der Verfassungsjurist und Direktor der Königlichen Spanischen Akademie (Real Academia Española) Santiago Muñoz Machado hebt in einem Interview drei Themenbereiche hervor, in denen der deutsche Einfluss stark zu spüren ist: den verstärkten Schutz der Grundrechte, den Vorrang der Verfassung gegenüber den Gesetzen sowie eine effektivere Gewaltenteilung. Besonders deutlich wird dies bei der Rollenverteilung. Der König als Staatsoberhaupt (Jefe de Estado) hat hauptsächlich repräsentativen Aufgaben, angelehnt an die Figur des deutschen Bundespräsidenten. Der Regierungschef (Jefe de Gobierno) lenkt – wie der deutsche Bundeskanzler – die Geschicke der Exekutive und verantwortet sich vor dem Parlament. Des Weiteren wurde in der spanischen Verfassung die aus Deutschland stammende Idee eines Misstrauensvotums aufgegriffen.
Auf den ersten Blick lassen sich auch im strukturellen Aufbau der beiden Länder viele Parallelen erkennen. Die Comunidades Autonómas ähneln den deutschen Bundesländern, allerdings ist in Spanien im Gegensatz zu Deutschland der Föderalismus nicht in der Verfassung verankert. Stattdessen hat man einen Estado de autonomías mit unterschiedlichen Autonomiegraden je nach Region gewählt. Was Spanien hingegen fast wortwörtlich aus dem Grundgesetz übernommen hat, ist Artikel 37:
„Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetz oder einem anderen Bundesgesetz obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwangs zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.“ (Art. 37, GG)
In der spanischen Verfassung ist in Artikel 155 folgendes festgehalten:
„Wenn eine Autonome Gemeinschaft die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, dass ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen das allgemeine Interesse Spaniens darstellt, so kann die Regierung nach vorheriger an den Präsidenten der Autonomen Gemeinschaft gerichteten Aufforderung, und falls dieser nicht Folge geleistet wird, mit Billigung der absoluten Mehrheit des Senates die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Autonome Gemeinschaft zu der zwangsweisen Erfüllung dieser Verpflichtungen anzuhalten oder um das erwähnte Interesse der Allgemeinheit zu schützen.“ (Art. 155, CE)
Während in Deutschland der Bundeszwang bisher nicht zum Einsatz gekommen ist, wurde er in Spanien während der Katalonien-Krise angewandt. Und wie steht es im Falle Spaniens eigentlich mit der viel zitierten Menschenwürde? Auch diese hat ihren Eingang in die spanische Verfassung gefunden, wenn auch in abgewandelter Form:
„Artikel 10.
Die Würde des Menschen, die ihm zustehenden unverletzlichen Menschenrechte, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Achtung des Gesetzes und der Rechte anderer sind Grundlage der politischen Ordnung und des sozialen Friedens.“ (Art. 10, CE)
Die auf Herrenchiemsee entwickelten Ideen zur demokratischen Neugestaltung des eigenen Landes haben weitreichende Auswirkungen gehabt. Wie diese Ideen entstanden sind, wer daran beteiligt war und welche Diskussionen in Herrenchiemsee auf dem Weg zum Entwurf unseres heutigen Grundgesetzes geführt wurden, erfahrt ihr im 2023 neu eröffneten, interaktiv gestalteten Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Auch gesellschaftspolitische Fragen, die heute für uns noch von Relevanz sind, werden angesprochen – ein Besuch lohnt sich also in jeder Hinsicht!
Literatur
Boletin Oficial de Estado: Constitución Española – Die Spanische Verfassung. Online.
Deutscher Bundestag: Vom Provisorium zum deutschen Exportschlager. Online
Knoch, Habbo: Mut zur Würde. Eine gesellschaftspolitische Grundnorm im Gegenwind. In: Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte. 75 Jahre Grundgesetz, S. 4-12.
Konrad-Adenauer-Stiftung: „Das Grundgesetz wurde maßgeblich von den Amerikanern beeinflusst“. Online
Kurtenacker, Sabine: Die Vorberatungen zum Grundgesetz. Reflex oder Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur. In: Einsichten + Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte. 75 Jahre Grundgesetz, S.52-60.
Torrico, Ana: 40 aniversario de la Constitución La inspiración alemana en la Constitución española. Online