Lässig auf schimmernden Wolken zurückgelehnt schwebt Minerva, die Göttin der Weisheit, der Staats- und Kriegskunst, zu uns herab – wie vom Schnürboden eines barocken Theaterhimmels. Der pompöse Federbusch wallt über ihrem „attischen Helm“ und birgt in seinem Schatten eine kluge Eule, die – wie wir spätestens seit der Harry Potter-Lektüre wissen – das Symboltier jeder gestandenen Lehrerin ist. Denn als solche tritt die Minerva aus vergoldeter Bronze auf, die sich an eine große, in den 1770er Jahre geschaffene Prunkuhr in der Sammlung der Münchner Residenz lehnt.
Als versierte Pädagogin weist sie mit schön modelliertem Arm den Zögling zur ihrer Rechten auf höhere Ziele und die Zukunft hin. Zugleich präsentiert sie auf dem nur nachlässig verhüllten Dekolletée das plattgedrückte Haupt der schrecklichen Medusa, um sich den gehörigen Respekt zu verschaffen. Das scheint nötig, denn auch ihr Schüler ist in voller Rüstung zum Unterricht erschienen: Zwar barhäuptig, mit modisch gepuderter Perücke samt Zopf und gerollten Locken, sonst aber im Harnisch eines antiken Feldherrn, wendet sich der junge Mann der imposant thronenden Göttin zu. Beide lehnen sich über einen glänzenden Globus, dessen drehbarer Meridian als Zeitanzeiger des Uhrenmechanismus dient. Die polierte Kugel symbolisiert die mit Sternen besetzte Hülle des Kosmos, dessen ewige Gesetze wohl auch Gegenstand des Lehrgespräches sind – es geht also erkennbar um große Dinge!
Denn schließlich ist die tickende Uhr ja das gewichtige Manifest des Lebenslaufs schlechthin, Symbol getakteter Ordnung und universal gültiger Regelungen. Als raffinierter Mechanismus verkörpert sie zugleich das frühneuzeitliche Bild vom Staatswesen, das des kenntnisreichen Uhrmachers auf dem Thron bedarf, der sich seiner Maschine aber auch unterwirft: Das Pendel schlägt unerbittlich für Disziplin, Gleichmaß und Pünktlichkeit, die es im kurzen Menschenleben pflichtschuldig einzuhalten gilt! Insofern verkörpert unsere Uhr ein neues Fürstenideal: Ein Jahrhundert zuvor hätte Minerva dem Monarchen einfach einen Lorbeerkranz aufs Haupt gesetzt, und gut…
Zu Füßen des jungen Jedi – äh: Schülers – lehnt dessen mit Löwenköpfen verzierter Kriegsschild, auf dem ein fein ziseliertes, kleinteiliges Wappen prangt: Es ist das der Pfalzgrafen und Herzöge von Zweibrücken und gibt uns so Auskunft über die Identität des Rokoko-Imperators: Es ist Herzog Karl II. August (1746-1795), ein Fürst aus der hoffnungslos unübersichtlich verzweigten Pfälzer Linie des Wittelsbacher Stammbaums. Leider ging der Kommandostab, welchen der bronzene Herzog einst in die Hüfte stützte, verloren, so dass die rechte Hand heute etwas affektiert und scheinbar ohne Motivation in der Luft hängt – im historischen Rückblick allerdings kein gänzlich unzutreffender Bildkommentar zur Biographie dieses Mannes, der in bewegten Zeiten herrschte und eigentlich Kurfürst von Pfalz-Bayern hätte werden sollen, den aber zuvor die Französische Revolution von seinem Zweibrücker Thron(chen) fegte!
Zum Glück weiß der Karl August auf unserer Residenzuhr, die wohl im Zusammenhang mit dem Regierungsantritt im Jahr 1775 angeschafft wurde, von diesem Schicksal noch nichts. Vielmehr vermittelt das ebenso pompöse wie repräsentative Prunkstück, das ursprünglich im Paradeappartement von Karl Augusts luxuriöser Schlossanlage Karlsberg bei Homburg glänzte, eine Botschaft der Stabilität, die zwischen der Herrschaftsidee des Absolutismus – dem Gottesgnadentum – und den zeitgenössischen Idealen aufgeklärter Staatsrechtler vermittelt: Die göttliche Weisheit selbst inspiriert und leitet die Handlungen des regierenden Monarchen zum Wohle der Untertanen…
Dass eine Frau, und sei es eine mit Eulen-Helm, den künftigen Landesvater die Staatskunst lehrt, scheint ein für das 18. Jahrhundert untypisches Verhältnis der Geschlechter zu propagieren – schließlich wurden die kleinen Söhne des europäischen Hochadels ihren weiblichen Betreuerinnen regelmäßig schon im Alter von sechs oder sieben Jahren weggenommen und einem männlichen Hofmeister samt Erziehern anvertraut. Für Karl August galt das noch viel entschiedener, war doch seine Mutter, die kurpfälzische Prinzessin Maria Franziska Dorothea von Pfalz-Sulzbach, wegen einer folgenreichen Liebesaffäre mit einem Schauspieler in den 1760er Jahren vom Zweibrücker Hof verbannt worden!
Dennoch erweist sich das Bildprogramm der Karlsberger Uhr als fest in der Tradition verankert:
Schließlich ist Minerva (bzw. die griechische Pallas Athene) nicht irgendeine Frau, sondern Lieblingstochter und Vertraute des Göttervaters Jupiter/Zeus und als solche nicht nur in der Münchner Residenz fast allgegenwärtig: Verkopft im wahrsten Sinne des Wortes (die kleine Athene entsprang dem Haupt ihres gedankenschwangeren Papas, die Entbindung erfolgte mittels Hammerschlags auf die göttliche Fontanelle!) flog sie einst als Schutzherrin der Künste über die bemalte Decke des alten Residenztheaters und hilft noch heute, zusammen mit Bruder Merkur in die Gewölbe am Grottenhof freskiert, dort dem griechischen Heros Perseus auf die heldenhaften Sprünge. Nur wenige Meter weiter bringt eine Minerva in der Ahnengalerie den Wittelsbacher Stammbaum zur Blüte, obwohl sie selbst ewig unvermählt und keusch gepanzert bleibt – in der grausamen Auffassung früherer Jahrhunderte ein „spätes Mädchen“.
Das unmittelbarste Vorbild unseres Motivs ist jedoch die Erziehung, welche die griechische Athene dem Sohn ihres Lieblings Odysseus zuteilwerden ließ, verkleidet als dessen weiser Lehrer Mentor (dessen Name auf diesem Weg Eingang ins pädagogische Vokabular gefunden hat). Dieser Erzählstrang aus der „Odyssee“ des Homer war Karl August und seinen Zeitgenossen vor allem in der freien literarischen Bearbeitung des Erzbischofs von Cambrai, François Fénelon (1651-1715), bekannt: Dieser hatte zur Unterweisung seines Zöglings, dem Enkel des Sonnenkönigs Ludwigs XIV., 1694/96 den enorm einflussreichen Bildungsroman „Les Aventures de Télémaque“ verfasst, in dem sich der mythologische Prinz mit göttlicher Hilfe zum idealen, moralisch gefestigten Herrscher mausert und der zu einem vielfach übersetzten Bestseller des 18. Jahrhunderts avancierte. Das dialoglastige Buch fungierte an vielen Höfen als etwas zähe Pflichtlektüre der dynastischen Jugend. Mit Erfolg? Die Nachrichten, die z.B. Karl Augusts Tutoren an den regierenden Onkel ins heimatliche Zweibrücken schickten (die Erziehung erfolgte stilecht in Frankreich) klingen unter aller diplomatischen Wort-Drechselei etwas zwiespältig:
„Je mehr ich den Prinzen prüfe, um so größer ist mein Erstaunen; er ist eine Mischung von Vernunft und Kindlichkeit, von Nachlässigkeit und Aktivität, von Überheblichkeit und Herzlichkeit“.
Aha.
Zum Glück hat Minerva nicht nur schwere Folianten mitgebracht, sondern zeichnet als olympische Strategin auch für die militärische Ertüchtigung verantwortlich: In der Rechten hält sie eine zierliche Turnierlanze für die beliebten Ringrennen. Bei diesen pflegte Europas Adel trainingshalber mehr oder minder geschickt im vollem Galopp aufgehängte Reifen aufzuspießen. Und am Sockel der Uhr sieht man einen Zug Putten, die mit Waffen und Streitwagen ein kindliches Militärlager zum Manöver beziehen. Das aristokratische Bildungssystem war eben dual ausgerichtet und sah Studien „in litterae et arma“ vor. Tatsächlich kann man dem von jeher sehr ambivalent beurteilten Karl II. August nicht vorwerfen, klassische Herrschertugenden der Frühen Neuzeit vernachlässigt zu haben: Der fürstlichen Repräsentation, der „Magnanimité“, hat er als Herzog mit seinem aufwendigen Lebensstil, namentlich mit Bau und Ausstattung von Schloss Karlsberg, mehr als genügt.
Und auch das von Monarchen verlangte Streben nach „Agrandissement“ war ihm eigen: Zielstrebig und konfliktbereit hat er gegen den Chef der kurpfälzischen Wittelsbacher, Kurfürst Karl Theodor, den Zweibrücker Anspruch auf die künftige Nachfolge in Bayern aufrecht erhalten. Von beidem profitierte schließlich sein jüngerer Bruder und Nachfolger Max Joseph (1756-1825), der anstelle des 1795 am „Schlagfluss“ verstorbenen Karl August im Jahr 1799 pfalz-bayerischer Kurfürst, 1806 bayerischer König und schon zuvor Erbe des kostbaren Karlsberger Inventars wurde…
Unser bronzener Karl August ist allerdings nicht Minervas einziger Schüler: Vielmehr reiht sich die Uhr des Residenzmuseums in eine Reihe sehr ähnlicher Prunk-Pendulen ein, die heute in der Londoner Wallace Collection und im Kunsthandel zu finden sind. Die „Ur-Uhr“ dürfte dabei ein Exemplar gewesen sein, das den jungen französischen König Ludwig XVI. (1754-1793) an die Seite der weisen Göttin stellte und wohl um 1774 anlässlich seiner Thronbesteigung, vermutlich von dem Bildhauer L. S. Boizot, entworfen wurde. Ein weiteres Exemplar stellt Ludwigs Bruder dar, den Comte d’Artois (nachmals König Karl X.).
Dass ein am Versailler Hof erfolgreiches Motiv auch im kleinen Zweibrücken reüssierte, ist kein Wunder, denn die kulturelle wie politische Anbindung war von jeher eng – und musste es sein: Schließlich konnte Frankreich jederzeit mit einem beiläufigen Happs das ganze Zweibrücker Territorium schlucken… Karl Augusts Onkel, Herzog Christian IV. (1722-1775), war fast so etwas wie ein Freund des menschenscheuen Ludwig XV. und – letztlich ebenso wichtig – ein Vertrauter von dessen einflussreicher Mätresse, Madame de Pompadour. In Versailles besaß der Herzog eigene Räumlichkeiten und auch in Paris und Straßburg unterhielten die Zweibrücker kostbar eingerichtete Stadtpalais „de Deux-Ponts“.
Wohl vor allem diese illustre Verknüpfung mit der geliebten Welt der französischen Bourbonen inspirierte dann noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bayernkönig Ludwig II. (einen direkten Nachfahren Karl II. Augusts und Max I. Josephs), eine freie Kopie der französischen Minerva-Uhren für seine gebaute Versailles-Adaption auf der Insel Herrenchiemsee anzuschaffen. Noch heute tickt sie dort auf dem Kamin des gigantomanen Prunk-Schlafzimmers als eine Reminiszenz an die bewunderte höfische Kultur der französischen Ludwige, aber auch als Verweis auf die eigene Herkunft: Ganz ähnlich ließ Ludwig II. die Räume der Münchner Residenz, die er für Prinzessin Sophie, seine Kurzzeit-Verlobte, programmatisch im „Style Louis Seize“ einrichten ließ, mit den von Karl II. August ererbten Karlsberger Möbels ausstatten!
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