Residenz München

„Ghost in a shell“ – Wunder aus Muscheln, Mexiko und München: Die Kunstkammer der bayerischen Herzöge

Zierkanne Residenz München

5. Februar 1598 – auf diesen Tag (einen Donnerstag) hat der bayerische Hofrat und vormalige Prinzenerzieher Johann Baptist Fickler (1533–1610) den Beginn seiner mühevollen Riesenaufgabe datiert: die Inventur der weitläufigen Kunstkammer der bayerischen Herzöge. Die ist unfern der „Neuveste“, dem Ursprungsbau der heutigen Residenz, in einem eigenen Gebäude (dem heutigen Landesamt für Denkmalpflege) untergebracht: In Schränken und auf Schautischen sind dort mehrere tausend Objekte in einer großzügigen Raumfolge versammelt, die um einen hübschen Arkadenhof herumläuft, in dessen Erdgeschoss Schätze auf vier Beinen – die herzoglichen Rosse – untergebracht sind (die Vorliebe der Wohlhabenden, Luxusgüter und teure PS möglichst gemeinsam zu präsentieren, lässt sich also schon bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen…).

Alte_Münze_München

Blick in den Renaissance-Arkadenhof der einstigen Kunstkammer, die im 19. Jh. das Münzamt beherbergte – und heute die bayerische Denkmalpflege! Foto: Wikipedia, HinricusLeo.

Auftraggeber der Inventur war der neue Herr im Haus: Maximilian I. (1573-1651), der nach einer kurzen Phase der Co-Regentschaft mit seinem an „Melancholey“ leidendem Vater Wilhelm V., am Vortag, dem 4. Februar, die alleinige Herrschaft als neuer Herzog angetreten hatte. Angesichts riesiger Schuldenberge und des drohenden Staatsbankrotts lag ein genauer Blick auf die vorhandenen Schätze nahe. Und da gab es so einiges, wie Fickler und seine Schreibgehilfen mühselig auf mehreren hundert Seiten festhalten sollten – ein wahres Mammutprojekt! Womit wir übrigens gleich mittendrin sind – denn so ein rechtes, urzeitliches Mammut, eine exotische, nie gesehene Rarität aus fernen Ländern oder ferner Vergangenheit, wäre ein typisches Glanzstück in einer Kunst- und Wunderkammer der Frühen Neuzeit gewesen. Wenn man auch solche mumifzierten Reste mangels Kenntnis vielleicht eher als „Olifant mit Haarkleidt“ und die Stoßzähne als (ziemlich grobschlächtige) Überreste legendärer Einhörner katalogisiert hätte. Leider gab es in München nichts dergleichen, aber immerhin eine ähnlich spektakuläre Attraktion: Einen ausgestopften Elefanten…

Ahnengalerie_Albrecht V. residenz München

Stolzer Sammlungschef: Herzog Albrecht V., Bildnis in der Ahnengalerie der Residenz

Gegründet hatte die Kunstkammer (eventuell unter Einbeziehung älterer Bestände) Maximilians sammelwütiger Großvater, Albrecht V. (reg. 1550-1579), dem die Residenz und München auch die Antiken im Antiquarium, den Gründungsbestand der Schatzkammer sowie den der bayerischen Staatsbibliothek verdanken. Sehr zum Unwillen der herzoglichen Räte übrigens, die sorgenvoll den lustvollen Umgang ihres Herrn mit Geld, das nicht vorhanden oder für anderes vorgesehen war, verfolgten. Aber das Sammeln von Kostbarkeiten als Ausdruck humanistischer Bildung und fürstlicher Repräsentation schwebte als Zeittendenz in der Luft: Mit der Einrichtung seiner Kunstkammer lag der Wittelsbacher voll im Trend, holte sozusagen die Welt ins (auch schon nach damaligen internationalen Maßstäben nicht gar so große) Bayern. Denn darum ging es: Die Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts stehen am Anfang des modernen Museums als kulturelle Institutionen und Orte der Wissensvermittlung: Von heute üblichen Spezialsammlungen – Gemäldegalerien, technischen oder Naturkundemuseen – unterschieden sie sich vor allem durch ihren ganzheitlichen Ansatz: Im räumlichen Kontext dieser Sammlungen, im beziehungsreichen Nebeneinander der dort angehäuften Objekte wurde versucht, ein „Theatrum“ der Welt als Ganzes zu schaffen. Wie auf einer Schaubühne sollten möglichst alle Phänomene, alle lehrreichen und faszinierenden Objekte der Schöpfung und der menschlichen Erfindungsgabe in ausgewählten Exemplaren vereint und als untereinander verbundene Erscheinungen eines übergreifenden Systems erfahren werden: Ein geordneter (Mikro-)Kosmos, der – so konnte scharfsinnig gefolgert werden – vom fürstlichen Sammler kontrolliert wurde, der dann wohl auch über das große Ganze, Staat und Regierung, verfügen können müsse.

Wichtig für einen solch enzyklopädischen Ansatz war letztlich eine organisierende Struktur – auch hier kam der Münchner Sammlung gewissermaßen eine Schlüsselstellung zu, da hier ein wichtiger Stichwortgeber wirkte: der aus Antwerpen gebürtige Samuel Quiccheberg (1529-1567), der zunächst für die Fugger tätig war und über sie Kontakte mit dem bayerischen Hof knüpfte. In seinem Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“ (1565) entwarf er ein ideales Museum, das in vielerlei Aspekten der Kunstkammer Albrechts V. ähnelte, sowohl in der räumlichen Organisation wie der Zusammensetzung ihres Bestandes.

Maximilian I. Ahnengalerie Residenz München

Schon zwei Generationen nach Gründung der Kunstkammer hatte sich die Grundlagen repräsentativen Sammelns modifiziert: Die im frühen 17. Jh. eingerichtete „Kammergalerie“ Maximilians I. „spezialisierte“ sich bereits auf Kunstwerke im engeren Sinne: Malerei, Skulptur, Goldschmiedearbeiten….]

Viel ist diskutiert worden, ob Quiccheberg hier die Henne und die herzogliche Wunderkammer das Ei gewesen sei, oder umgekehrt. Auf jeden Fall befanden sich beide zur gleichen Zeit im gleichen Stall – München – und katapultierten die bayerische Residenzstadt an die Spitze der (zugegebenermaßen noch nicht existenten) Museumsszene im deutschsprachigen Raum. Quicchebergs Traktat, in gelehrtem, aber schon den Zeitgenossen zu verschwurbeltem Latein verfasst, wurde zwar zunächst nicht breit rezipiert, doch zeigt die Drucklegung, dass man sich in München der Bedeutung der Sammlung bewusst war.

Zudem geht auf seine und seiner Mitdenker Überlegungen im Grundsatz die bis heute viel besprochene Zusammensetzung eines klassischen Wunderkammerbestandes aus „Naturalia“, „Exotica“, „Artificialia“ und „Scientifica“ zurück. Vergröbert gesprochen: Charakteristische oder wundersame Objekte und Funde aus der Natur sowie fernen Weltgegenden, die teilweise durch menschliche Kunstfertigkeit weiter veredelt wurden, daneben preziöse Kunstobjekte aus Vergangenheit und Gegenwart nebst Instrumenten der Wissenschaft und Technik.

In ihrer ganzen, fragilen Pracht bestand die Münchner Kunstkammer leider nur wenige Jahre: Schon Albrecht V. selbst bestückte neben dieser Sammlung ja zugleich auch seine 1565 gegründete Kollektion von Schatzkunst im Silberturm der Neuveste. Vor allem Enkel Maximilian I. übernahm dann zahlreiche Prunkstücke in seine private Kunstgalerie, die er direkt neben seinen Gemächern einrichten ließ. Das entscheidende „Aus“ bedeutete aber wohl die Einnahme Münchens durch die Truppen des Schwedenkönigs Gustaf Adolf im Jahr 1632, die die Bestände gründlich plünderten. Von diesem Schlag erholte sich die einstmals so bedeutende Sammlung nicht mehr. Zierkanne Residenz MünchenDie bis heute in München erhaltenen Restbestände wurden spätestens im 19. Jh. auf die neu aufkommenden Spezialmuseen der mittlerweile königlichen Residenzstadt verteilt. So gibt uns heute an besten noch das (zum Glück mittlerweile editierte) Fickler-Inventar und die hymnische Beschreibung des Augsburger Kunstagenten Philipp Hainhofer (der die Sammlung mit Maximilians Erlaubnis 1611 ausführlich besichtigen durfte) einen Eindruck vom Glanz dieses frühneuzeitlichen Universalmuseums. Und dazu kommt natürlich  noch speziell bei uns in der Residenz eine weiterhin beachtliche Anzahl von Stücken in der Schatzkammer, die dort bis heute die Erinnerung hochhalten – zum Beispiel „Ain großer Schneckh von Berlmueter, mit verguldtem silber verfaßt, einer Gießkanten gleich“: Der berühmte Nürnberger Goldschmied Wenzel Jamnitzer fertigte um 1570 das fantastisch geformte Ziergefäß aus den schimmernden Gehäusen exotischer Turboschnecken, die auf einem wirklichkeitsgetreu geformten Schneckenleib ruhen, der zusätzlich einen Adler trägt, der das Perlmuttgefäß trägt, das eine Chimäre trägt, die auf den Schultern einen Menschenkopf trägt… – ein klassisches Beispiel, in dem die Naturschönheit des vorgefundenen exotischen Objekts durch das künstlerische Geschick des Goldschmieds überhöht wird, wobei die „bizarre“ Gestaltung die kapriziöse Naturform weiter steigert. „Naturalia“ und „Artificialia“ durchdringen sich hier in charakteristischer Weise!

Trinkschale Schatzkammer MünchenÄhnliches kann man wohl von dem prächtigen „überlengt geschirr von Dattelbaumwurzen geschnitten, welches durchauß zu einem stain worden“ behaupten: Seine prächtige figürliche Fassung aus vergoldetem Silber erhielt das schiffsförmige Gefäß aus versteinertem Palmholz erst um 1612 durch den Augsburger Bildhauer-Goldschmied Johannes Lencker, als Maximilian I. das rare Naturwunder in seine Kammergalerie übernahm. Seitdem stemmt ein muskulöser Triton den ursprünglichen Palmenstamm empor, auf dem das petrifizierte Trinkschiff ruht. Am Heck prangt unübersehbar das Wappen des stolzen Besitzers und eine umlaufende Inschrift kündet von der wundersamen Verwandlung aus Holz in Stein, die das menschliche Ingenium nun noch durch die Verwandlung in ein Prunkgefäß ergänzt!

Ring Schatzkammer MünchenZu den klassischen „Exotica“ zählt hingegen ein aus der „Neuen Welt“ als Beutegut herbeigeschaffter „alter guldiner braiter ring […] vornen daran ein Adlerskopf“, der wohl 1566 als Diplomatengeschenk an Albrecht V. nach München gelangte. Die fremdartige Ästhetik dieser mixtekischen Goldschmiedearbeit, eines der raren Stücke, die den Schmelzöfen der Eroberer entging, musste die privilegierten Besucher der Wunderkammer faszinieren – und ihre staunende Fantasie mit Spekulationen über die unbekannten „Heiden“
jenseits des Atlantiks erfüllen.

Schwert Christophs Schatzkammer MünchenFamiliärer fühlte man sich da wohl bei Stücken, die die eigene Geschichte und das eigenen Herrscherhaus im Gedächtnis hielten – zum Beispiel das „groß, beydhändig schwerdt“, von dem Fickler bündig bemerkt „hat Herzog Christoffen von Bayrn zugehört“. Das war der rebellische Bruder Herzog Albrechts IV. (1447-1508), der den „starken Christoph“ (ohne sein üppig verziertes Schwert), ein paar Jahre lang im ehrenhalber „Christophsturm“ benannten Teil der Neuveste gefangen hielt. Ein rührendes Stück Familiengeschichte, das beim Anblick der mit Ranken und kleinem Getier überreich dekorierten Prunkwaffe memoriert werden konnte!


 

Wer außerhalb der Schatzkammer weiter in der Münchener, oder den anderen berühmten Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts herumstöbern will, dem sei z.B. ein Besuch in der wunderbaren Sammlung von Schloss Ambras bei Innsbruck empfohlen. Etwas näher wird es kunst- und wunderlich im Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums auf der Landshuter Burg Trausnitz.

Und speziell für die Scientifica unter uns lohnt sich natürlich ein virtueller Spaziergang durchs Buch: Dorothea Diemer / Willibald Sauerländer (u.a.), Die Münchner Kunstkammer. 3 Bde. (Bayerische Akademie der Wissenschaften Phil.-Hist. Klasse, Abhandlungen NF 129), München 2008.