Wer die Tage im Supermarkt an der Kasse Schlange steht und die Blicke schweifen lässt, fühlt es schon: Weihnachten streckt seine schokoladigen Finger nach uns aus. Zuhause dann werden langsam mit den leicht angestaubten Rauschgoldengeln auch die Familienerinnerungen an früher ausgepackt und an die lieben Verwandten gedacht („– müssen wir Tante Gertrud wirklich wieder einladen?“). Ähnlich nostalgisch geht es uns in der Residenz auch – unsere verstaubten Goldengel schweben allerdings in der Ahnengalerie – weshalb wir sie derzeit engagiert und vorsichtig reinigen.
Ihre Fittiche breiten sie nicht über verblasste Familienfotos aus, sondern über 121 Leinwandgemälde, unter deren Firnis mit wachen Augen Wittelsbacher und Wittelsbacherinnen eines Jahrtausends auf die Besucher herabschauen. Zum Glück für die Restauratoren, die derzeit mit den Pflegemaßnahmen an den Bildern beschäftigt sind, ist die Galerie selbst nicht ganz so alt: Es war der bayerische Kurfürst Karl Albrecht, der kurz nach seinem Regierungsantritt im Jahre 1726 befahl, einen zuvor offenen Arkadengang, der Zutritt zum sogenannten südlichen Residenzgarten (heute Königsbauhof) gewährte, zu schließen, um hier Platz für eine gemalte Abfolge seiner illustren Vorfahren zu schaffen.
Bis 1729/30 schuf der in Frankreich ausgebildete Hofbaumeister Joseph Effner, wahrscheinlich schon zusammen mit seinem künftigen Nachfolger, dem jungen François Cuvilliés, ein wunderbar elegantes, dabei zugleich aber auch hochrepräsentatives Raumkunstwerk an der Grenze zwischen Spätbarock und beginnendem Rokoko: Waffentrophäen, Lorbeerzweige und Siegespalmen, römische Adler und bayerische Löwen, groteske Maskengesichter und posaunende Ruhmesgenien, sämtlich kunstvoll geschnitzt oder aus Stuck modelliert, überziehen die Wände und das flache Gewölbe mit einem dichten Relief-Dekor, der den Bildern als Rahmen dient und die Ahnen und Ahninnen miteinander optisch in ein dichtes Netz einbindet.
Bei aller Phantastik im Detail bleibt die Anordnung dabei symmetrisch und letztlich architektonisch, ein Stil, den Effner beim führenden Dekorationskünstler am Pariser Hof, Jean Bérain, kennengelernt hatte und der daher in Frankreich „style Bérain“ oder nach dem damals als Vormund des jungen Königs herrschenden Regenten „Régence“-Stil genannt wird.
Die eingesetzten Gemälde schufen Münchner Hofmaler mit ihren Schülern, vor allem der aus Venedig stammende Jacopo Amigoni und der schwedische Porträtist Georges Desmarées. Dargestellt sind nicht nur die in München regierenden bayerischen Kurfürsten und Herzöge nebst Gattin, sondern auch die Vertreter der Nebenlinien, die zum Teil andere europäische Throne (z. B. in Schweden) besetzten und besonders zahlreich als Kirchenfürsten amtierten (dann natürlich ohne Porträt einer Gemahlin…). Vor allem für die älteren Ahnen stützten die Maler des 18. Jh. sich auf historische Vorlagen, mitunter sogar aus illuminierten Handschriften oder (sehr beliebt) auf die überlieferten Darstellungen auf Grabsteinen und Epitaphien. Denn gefragt war Authentizität: Dem Besucher der Galerie sollte bewusst werden, dass er es hier nicht mit Phantasie-Großvätern und erfundenen Großtanten des regierenden Kurfürsten zu tun hatte, sondern mit legitimen Abbildern vergangener Herrlichkeit. Und da man im Hause Wittelsbach nicht auf charakteristische Familienkennzeichen verweisen konnte, wie die berühmte, wenn auch wenig appetitliche Hängelippe der Habsburger, musste Glaubwürdigkeit nicht nur durch malerische Brillanz, sondern genauso durch Archivrecherche und den Verweis auf historische Bildquellen hergestellt werden.
Dieser hohe Aufwand, der solcherart betrieben wurde, verweist bereits auf die eigentliche Funktion der Ahnengalerie: hier sollte kein begehbares Erinnerungsalbum entstehen, sondern ein machtvolles Symbol für das hohe Alter der Dynastie und ihre durch ununterbrochene Herrschaft legitimierten Machtansprüche. Hiervon galt es die Welt zu überzeugen: Schließlich hatte Karl Albrecht ein hohes Ziel vor Augen – die Kaiserkrone nämlich, die er dann ab 1742 auch tatsächlich tragen sollte, allerdings glücklos und nur bis zu seinem frühen Tod drei Jahre später.
Dass man also in München „Kaiser konnte“, sollte auch die zentrale Bildergruppe an der langgestreckten Nordwand der Galerie aufzeigen: Hier treten unter dem Bild des legendären Stammvaters, des Herzogs Theodo aus dem fünften Jahrhundert, bereits zwei Kaiser den Beweis an: Links Karl der Große, den die Wittelsbacher gern (und mit einigen genealogischen Umwegen) als einen Ahnherren ihres Hauses vereinnahmten, und der skandalumwitterte Kaiser Ludwig IV. „der Bayer“ aus dem 14. Jh. Ihnen gegenüber erstreckt zudem noch ein gezeichneter Stammbaum seine Zweige bis in die Gesimszone, wo Karl Albrecht vorausschauend Platz für die Porträts seiner Nachkommen gelassen hatte und der bis ins 19. Jh. weiter mit Bildnissen ausgefüllt wurde!
Die Zeit ist über die politischen Träume, für die die Ahnengalerie einst stand, hinweggegangen – die Restauratoren pflegen die Kaiser, Könige und Kurfürsten gleich liebevoll und aufmerksam, ohne sich um Rangunterschiede und historischen Verdienst zu kümmern. Denn was bis heute bleibt, ist das spannende kulturgeschichtliche Denkmal und wunderschöne Raumkunstwerk.