Ziemlich eng wird es für die Schar von Figuren, die sich auf der kleinen rundbogigen Holztafel in schwerem Goldrahmen versammelt haben. Rechts im Vordergrund sitzt ein bärtiger blonder Mann mit einer Laute im Schoß – doch scheint er weniger seinen Zuhörern vorzusingen, als sie zu belehren.
Mit erhobenen Zeigefinger wendet er sich an die stehenden Jünglinge, die mehr oder minder betreten zu Boden schauen, als hätten sie eine Lektion nicht gelernt – da liegt die Hoffnung eher bei den ganz Jungen: vor ihm knien schon zwei Knaben, die eifrig in Büchern blättern. Die Burg im Hintergrund, die schicken Beinlinge und Wämser verraten uns zusätzlich: Vorsicht – Mittelalter!
So alt ist das kleine Ölgemälde, das der Maler Gottlieb Gassen wohl um 1832 geschaffen hat, allerdings gar nicht. Für uns ist es aber dennoch fast so kostbar wie ein mittelalterlicher Schatz – mit einem kleinen Pendantgemälde handelt es sich um die einzigen verbliebenen Zeugnisse der 1944 komplett zerstörten malerischen Ausstattung im Vorzimmer der Königin Therese, der Kummer gewohnte Ehefrau Ludwigs I. Für diese und sich selbst hatte Ludwig in dem von 1826-1835 errichteten neuen Königsbau im Süden des Residenzareals prunkvolle Wohnappartements einrichten und in Anlehnung an Vorbilder der Antike und der Renaissance komplett mit Wandmalereien ausstatten lassen. Bewusst blieb kein Plätzchen frei, wo man hätte einen Nagel einschlagen und ein „eigenes“ Bild, eine wärmende Wandbespannung oder einen – womöglich aus Frankreich (oh Graus!) importierten – Spiegel hätte aufhängen können.
Diese grundsätzliche Anlage des neuen Wohnquartiers als „Bilderpalast“ zielte dabei gar nicht so sehr auf eine moderne Dekoration oder gar einen gesteigerten Wohnkomfort – Ludwigs Ziel war es, mittels der monumentalen, schwer zerstörbaren Freskomalerei, die im festen Verbund mit der repräsentativen Architektur entworfen wurde, pädagogisch auf seine Untertanen einzuwirken. Die von ihm für die Ausmalung der Residenz gewählten Bildthemen sollten einerseits das Nationalgefühls des Betrachters wecken, aber auch Bedeutung und Legitimität der Wittelsbacher Herrschaft herausstreichen. Schließlich sollte auch die durch Bayerns König geförderte deutsche (Ludwig schrieb zeitlebens: „teutsche“) Kunst als Erbe der bewunderten Antike herausgestellt werden. Und so wurde das Appartement des Königs mit Darstellungen aus der klassischen griechischen Dichtung ausgemalt und die gegenüberliegenden Wohnung der Königin mit Fresken, die die Werke der deutschen Dichtung illustrierten. Ob im Schlafzimmer ein Band Goethe auf dem Nachttisch lag, war da nicht mehr weiter wichtig: Die Helden aus „Faust“, „Egmont“ und „Iphigenie“ tummelten sich ja schon an der riesigen gewölbten Decke…
Thereses Vorzimmer, das den Auftakt zu ihren eigentlichen Wohnräumen bildete, war jedenfalls der mittelalterlichen Dichtung geweiht und zwar in Gestalt eines ihres populärsten Protagonisten – Walther von der Vogelweide (circa 1170-1230) – ja, ja genau der: „Ich saz ûf eime steine. und dahte bein mit beine…“
Dieser offenbar gelenkige, in den Quellen aber nur schwer fassbare Poet aus der Stauferzeit fügte sich gut in Ludwigs Konzept: Zum einen nahm man an, dass Walther auf bayerischem Territorium, nämlich in Würzburg, starb und bestattet wurde.
Zweitens war er als Minnesänger dem ritterlichen Frauendienst zugewandt und damit ein geeigneter „Bewohner“ des Appartements der Königin. Vor allem aber hatte Herr von der Vogelweide sich in seinem literarischem Werk in besonderer Weise als politischer Spruchdichter hervorgetan, der die kaiserliche Partei im hochmittelalterlichen Reich gestützt hatte – insofern konnte er mit etwas gutem Willen zu einem frühen Vordenker der patriotischen Bewegung des 19. Jahrhunderts stilisiert werden. Eine solche mahnende „Spruchszene“ scheint auch auf Glassens Skizze, die die Vorlage für die spätere Ausführung des Freskos bildete, dargestellt. Die Themenliste der elf Bildfelder, die sein Leben und Werk an den Wänden des Vorzimmers zeigten, erwähnt eine „Klage Walthers über die Missstände in Deutschland“.
Glassens Fresken sind heute verloren – aber einen ungefähren Eindruck wie es so ähnlich ausgesehen haben könnte, können Besucher heute noch in Neuschwanstein, dem Traumschloss von Ludwigs Enkel Ludwig II., gewinnen: Das Ankleidezimmer der neoromanischen Burg wurde mit Szenen aus Leben und Werk des Walther geschmückt – dass die Erinnerung an die Münchner Gemächer der Großmutter Therese dabei mit Pate gestanden haben, darf als sicher gelten!