„Schillers „Musenalmanach“ ist jetzt auch raus: Beim „Lied von der Glocke“ sind wir fast von den Stühlen gefallen vor Lachen…“. Eher maliziös tönt im Jahr 1799 die literarische Erstkritik der Schriftstellerin Caroline Schlegel (1763-1809) über das eben damals erschienene Gedicht des großen Mannes, das kundigen Glockenguss und gelingendes Menschenleben in Parallele setzt und über dessen Länge abseits aller poetischen Vor- und Abzüge Generationen von Schülern gestöhnt haben. Vermutlich ging der selbstbestimmten Caroline die betuliche Art gegen den Strich, mit der der kränkelnde Dichterfürst die Rolle des weiblichen Geschlechts als „züchtige Hausfrau und „Mutter der Kinder“ vorbestimmte. Auf jeden Fall zeigt sich, dass der Zugang der Zeitgenossen zu „Schiller und Goethe“ – dem nur wenig später als unerreichbare „Olympier“ apostrophierten Weimarer Siegerduo in der literarischen Schwergewichtsklasse – erfrischend unbefangen war. Vor diesem Hintergrund mag man auch im unlängst wiedereröffneten Königsbau der Münchner Residenz einen hoffentlich interessierten Blick in das Schreibkabinett der Königin Therese, Gemahlin des Bauherrn Ludwig I. (reg. 1826-48), werfen, an dessen Wänden und Decke zahlreiche gemalte Szenen aus Schillers Werken erscheinen.
Der vergleichsweise kleine Raum mit den grün (eine Farbe, die als augenschonend galt) getönten Wänden gehört zu den intimeren Bereichen des 1826/35 errichteten Wohnpalastes, den Ludwig mit all dem überbordenden repräsentativen Prunk ausstatten ließ, den eine vom internationalen Standpunkt aus eher mittelwichtige Monarchie wie Bayern entfalten konnte, um die eigene Bedeutung herauszustellen. Selbstbewusst gibt sich auch das fixe, in Form unverrückbarer Wandmalereien umgesetzte Bildprogramm der als gewaltige, die ganze Länge des Königsbaus durchziehende „Enfilade“ (als kontinuierliche Raumflucht) gestalteten Doppelwohnung des Königspaares.
Von Ost und West aus erschließt sie sich jeweils mit eigenen Treppenzugängen, Vorzimmern und Thronsälen, um im Zentrum in kleineren, nachgeradezu privaten Zimmern zusammenzufinden. Aber nicht der Darstellung blutiger Schlachten und heroischer Taten aus der bayerischen Historie, die in den Hofgartenarkaden und dem ab 1835 in Angriff genommenen Festsaalbau im Norden des Residenzareals Platz fanden, ist die Bildwelt des Königsbaus gewidmet, sondern den Werken der Literatur: altgriechische Autoren in den Räumen Ludwigs I., deutsche Schriftsteller in denen seiner Gemahlin, um dem geneigten Betrachter (die Herrscherappartements standen von Beginn an neugierigen Besuchern offen) zweierlei klar zu machen: Deutschlands geistige Kultur war der legitime Erbe des allgemein gültigen Ideals des griechischen Altertums – und dieses Erbe wurde an erster Stelle am Münchner Hof der Wittelsbacher gepflegt und gewürdigt: Und wenn Bayern vielleicht nicht militärisch und machtpolitisch an erster Stelle stehe, so müsse ihm doch die Rolle der kulturell-geistigen Speerspitze der Nation zugebilligt werden!
Die Würdigkeit der chronologisch aufeinander folgenden Geisteshelden „teutscher Zunge“ von den mittelalterlichen Minnesängern bis zu Thereses Zeitgenossen Ludwig Tieck stand dabei durchaus in Bezug zur zeremoniellen Rolle des jeweils seinem Werk gewidmeten Raums: Thereses beängstigend riesiger Schlafsaal, der in der architektonischen Tradition fürstlicher Prunkschlafzimmer des Absolutismus steht, in denen heiter-unbefangen der Fortbestand der Dynastie gesichert werden sollte, präsentiert sich etwa ganz im Zeichen Goethes.
Man ahnt fast, wie erleichtert die Landesmutter morgens den Blicken der von Kaulbach um ihr Bett herum gemalten Dramenhelden: Mephisto, Gretchen, Faust, Iphigenie und Egmont, entfloh und in dem benachbarten, ungleich intimeren Schreibzimmer Platz nahm, um die tägliche Korrespondenz zu erledigen. Vielleicht mit Bezug auf die Funktion des Raums als Ort der Muse und der eigenen literarischen Betätigung – wie im 18. gab es auch im 19. Jahrhundert eine Fülle hochbegabter Briefschreiber! – folgt auf Goethe als der ewigen literarischen „Nummer 1“ im Bildprogramm des Schreibkabinetts nun Friedrich Schiller – als der landläufig beliebtere, gewissermaßen „alltagstauglichere“ Teil des Klassikerduos. Während in den verlorenen Deckenbildern vor allem Szenen aus Schillers Dramen dargestellt waren, präsentieren die erhaltenen Wandmalereien den Dichter im Spiegel seiner populären Balladen.
Heute zeigt ein genauerer Blick unter Zuhilfenahme der seit der Schulzeit lang verhallten Jamben („Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp‘ “ über „Ein frommer Knecht war Fridolin“ bis zu „Den Dank, Dame, begehr‘ ich nicht…“), dass die thematische Auswahl die prickelnde Balance zwischen „Sex und Crime“ hier und landesmütterlicher Würde dort zu wahren wusste: So erscheinen an der Westwand drei Szenen aus Schillers „Gang nach dem Eisenhammer“ – ziemlich starker Tobak: Immerhin soll der blonde Fridolin auf Geheiß des eifersüchtigen Grafen in den glühenden Schmelzofen geworfen werde.
Nur in Andeutungen, die an den „Suspense“ des Grusel-Altmeisters Hitchcock erinnern, wird klar, dass dieses Schicksal dann doch den bösen Robert trifft. Andererseits kommt Fridolin ja nur ins Gedränge, weil er seiner Gräfin so anhänglich dient, die als rührige Mutter auf dem dritten Bild ihr krankes Kind versorgt und – wie Königsgemahlin Therese – natürlich bis ans Messer tugendhaft ist („ihr besitzt ein edles Weib,/Es gürtet Scham den keuschen Leib“ – noch so eine Stelle, um vom Stuhl zu fallen…).
Auch in den anderen illustrierten Balladen: Dem „Taucher“, dem „Handschuh“, „Ritter Toggenburg“, geht es neben markigem Mannesmut auch immer um Liebe zur holden Schönen, die sich entweder keusch zurückhält, oder, wenn nicht, vom Dichter entsprechend scharf (und lyrisch) abgekanzelt wird.
Die Darstellungen zu dem (sehr kurzen und heute nahezu unbekannten) Werkchen „Deutsche Treue“ an der Südwand und der langen Ballade „Der Graf von Habsburg“ gegenüber bringen schließlich noch das staatstragende, letztlich dynastisch motivierten Moment des Fürstenlobs in das königliche Schreibzimmer hinein.
Ob Therese sich wohl gefühlt hat in ihrem poetischen Refugium, oder, von der gemalten Konkurrenz entnervt, die Feder von sich geworfen hat? Die erhaltene Möblierung mit zahlreichen kleinen, leicht verstellbaren Funktionsmöbeln, darunter ein hübscher Zimmerbriefkasten, spricht für eine rege Nutzung des Kabinetts.
Auch überregional kam die Idee der poetisch überformten Herrscherwohnung gut an: Schon 1835 ließ auch die Großherzogin von Weimar Marie Pawolwna, die ja sozusagen „an der Quelle saß“, ihre Gemächer mit den Werken der heimischen Exportschlager – Schiller, Goethe, Wieland und Herder – ausmalen!
Uns gefällt der nun endlich wieder zugängliche Raum auf jeden Fall überaus gut – vor allem, wenn der eine oder andere Besucher die Aufsicht spontan mit einer überraschend textsicheren Balladenrezitation erfreut…