„Loslassen können“, so heißt es, „sei eine Tugend“. Aber manchmal, scheint es dem Autor, reicht Tugend nicht, um die Münchner Residenz hinter sich zu lassen. Beharrlich hängt einem das gewaltige, geliebte Schloss samt seiner geisterhaften Population einstiger historischer Persönlichkeiten an den Fersen, sogar weitab von Bayern – im hohen Norden, im fernen Schweden: Urlaubsreif, aber interessiert und unbefangen löst man im Vor-Corona-Sommer 2019 Tickets, um die (teilweise noch vom aktuell amtierenden Königshaus bewohnten) Schlösser in einem der zahlreichen schwedischen „Holme“ zu besichtigen – Stockholm, Drottningholm, Gripsholm. Nur, um stets kurz darauf in den Sälen vor dem Porträt eines Wittelsbachers zu stehen, das so oder so ähnlich auch an den Wänden der Residenz hängt. Hätte man also gleich zuhause bleiben können? Warum sich die Reise natürlich trotzdem lohnt, und was es mit den bayerisch-schwedischen Beziehungen auf sich hat, wollen wir in diesem Blogbeitrag näher betrachten:
Die Antwort findet sich in Öl an den Wänden der in schönstem Rokoko eingerichteten Ahnengalerie der Residenz. Unter den hier dargestellten, teils legendären, dann aber bald historisch greifbaren Bayernherrschern samt Gemahlin und Wittelsbacher Kirchenfürsten (ohne Gemahlin) finden sich an der westlichen Stirnwand eine Reihe von Porträts, die scheinbar aus dieser gut katholisch-bajuwarischen Reihe herausfallen – es handelt sich um Könige Schwedens, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gleichfalls vom Hause Wittelsbach gestellt wurden! Allerdings nicht vom altbayerischen Zweig der Familie, der in München regierte. Es war vielmehr der pfälzische Ast, dem diese skandinavischen Herrscher entsprossen: Schon im 15. Jahrhundert verbanden sie folgenschwere dynastische Heiraten mit dem fernen Nordreich. Ab dem 16. Jahrhundert kam noch ein zweiter Aspekt dazu – die gemeinsame Hinwendung zu Reformation und Protestantismus. So geschah es, dass mehrfach in krisenhaften historischen Konstellationen die schwedische Krone an pfälzische Wittelsbacher ging.
Den Anfang machte ein Enkel des deutschen Königs Rupprecht III. von der Pfalz, der vom schönen Heidelberg aus regierte: Herzog Christoph von Pfalz-Neumarkt (1416-1448), Sohn der schwedischen Prinzessin Katharina. Um Christophs ungeliebten Onkel Erik VII. loszuwerden, bot der dänische Reichsrat dem jungen Pfalzgrafen die Herrschaft über die in der „Kalmarer Union“ vereinigten Königreiche, nämlich Dänemark, Schweden und Norwegen, an – gegen entsprechende Privilegien und Garantieversprechen versteht sich. Christoph ließ sich nicht lange bitten und sammelte bis 1442 die skandinavischen Kronen ein, die er dann als „Kristofer III. av Bayern“ trug.
Ein ähnlicher Fall von dynastischer „Aushilfe“ trat 1654 ein: Damals entsagte die schwedische Königin Kristina (1626-1689) der Krone des Reichs, das unter ihrem Vater Gustaf II. Adolf im Dreißigjährigen Krieg zur einflussreichsten Schutzmacht des Protestantismus aufgestiegen war und im Fokus internationaler Aufmerksamkeit stand. Wahrscheinlich dankte die Königin, die kurz darauf offiziell zum Katholizismus konvertierte, nicht ganz so tränenumflort ab, wie es weiland die göttliche Greta Garbo in „Queen Christina“ vorgespielt hat, denn sie hatte vorgesorgt: Nachfolger auf Schwedens Thron sollte ihr Cousin ersten Grades aus der Wittelsbacher Linie Pfalz-Zweibrücken werden – als neuer König Karl X. Gustav (1622-1660). Wie sein berühmter Onkel war auch K.G. ein begeisterter Heerführer, der im „Zweiten Nordischen Krieg“ gewaltige Teile Dänemarks eroberte und Schweden seine bislang größte territoriale Ausdehnung bescherte: Die Überquerung des zugefrorenen Belt, der Meeresenge vor der Insel Fünen, durch Karls Truppen im Jahr 1658 galt als eine der Großtaten der modernen Militärgeschichte. Aber auch Feingeistiges hatte in diesem royalen Leben Platz: So war K.G. unter dem schmeichelhaften Pseudonym „Der Erhabene“ Mitglied der berühmten deutschen Sprachakademie, der 1617 gegründeten „Fruchtbringenden Gesellschaft“. Heute ruht der „Erhabene“ in der neuen barocken Mausoleumskapelle, die an die königliche Grablege, die gotische Riddarholmskirche in Stockholm, angebaut wurde.
Die war auch nötig, denn richtig alt ist der Zweibrücker Pfalzgraf auf dem schwedischen Thron nicht geworden: Schon 1660 folgte ihm sein unmündiger Sohn Karl XI. (1655-1697), für den nominell seine Mutter Hedwig Eleonore als Regentin fungierte, die Bauherrin der berühmten Sommerresidenz Drottningholm vor den Toren der Hauptstadt.
Außenpolitisch leitete ein ziemliches Desaster Karls XI. Herrschaft ein: 1675 verloren die Schweden die berühmte Schlacht von Fehrbellin gegen die Truppen des „Großen Kurfürsten“ von Brandenburg, den Hohenzollern Friedrich Wilhelm – eine Niederlage, die später zum Gründungsmythos der preußischen Militärmacht umgemodelt wurde. Der junge Karl musste bessere Zeiten abwarten, bis er seinen ungeliebten Kanzler entmachten und ab 1680 – für Schweden bislang ungewohnt – als autokratischer Alleinherrscher regieren konnte. Entsprechend stolz paradiert der eher zierliche Monarch auf seinen Porträts, gern mit einem riesenhaften Wittelsbacher Löwen an seiner Seite.
In die volkstümliche Überlieferung ist Karl XI. vor allem aber als „Gråkappan“, als „König Graumantel“, eingegangen: In dieser unauffälligen Verkleidung soll er angeblich, wie der Kalif Harun al‘ Rashid in 1001 Nacht, sein Reich durchzogen und auf kurzem Weg unerkannt für Recht und Ordnung gesorgt haben.
1697 fiel die Krone dem nächsten Karl zu, Nummer Zwölf, der als kontrovers beurteiltes Militärgenie in die Geschichte eingehen sollte: Der schlaksige Mann mit dem schütteren Haar lag fast seine ganze Regierungszeit hindurch im „Großen Nordischen Krieg“ mit Russland, Polen und diversen Alliierten, über die er in zahlreichen Schlachten triumphierte (besonders spektakulär im Jahr 1700 bei Narva gegen die gewaltige Übermacht Peters des Großen). Dennoch stand am Ende unterm Strich der Verlust von Schwedens labiler Großmachtstellung. Karl XII. musste sich (für einen Souverän immer peinlich) für Jahre ins Exil absetzen – ausgerechnet ins Osmanische Reich! Zurückgekehrt erwischte den persönlich wagemutigen, aber vor allem unvorsichtigen Monarchen bei der Belagerung der Veste Fredrikstein schließlich 1718 ein tödlicher Kopfschuss – bei dem man lange rätselte, ob nicht ein entnervter Schwede ihn abgefeuert habe.
Später hat in München vor allem König Ludwig I., selbst Spross einer Pfälzer Nebenlinie, diesem tragisch-großartigen Hasardeur ein wohl vorrangig romantisches Interesse zugewandt: Mit nur leicht idealisierten, charakteristischen Gesichtszügen, überlebensgroß in vergoldete Bronze gegossen, paradierte Karl XII. unter den Standbildern vorbildlicher Wittelsbacher, die ab 1842 Ludwigs Thron im neu errichteten Festsaalbau der Residenz umgaben.
Mit Karls Tod bzw. der letztlich nur nominellen Kurzherrschaft seiner Schwester Ulrika Eleonore endete die schwedische Linie der Wittelsbacher. Allerdings nur, um durch die Hintertür neu angeknüpft zu werden: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts drehte sich das europäische Thronkarussell besonders rasant – „schuld“ war der Aufstieg Napoleon Bonapartes zum Beherrscher des Kontinents und Kaiser der Franzosen: Der neue Machthaber suchte die Verbindung mit den alten Dynastien, deren Nachkommen er in Ehen mit seinen diversen Verwandten zwang: So verheiratete er 1806 seinen Stief- und Adoptivsohn Eugène mit der ältesten Tochter des bayerischen Königs Max I. Joseph.
Auch Napoleons Entourage profitierte selbstredend von dessem Aufstieg: Seine bürgerlich geborenen Generäle und Marschälle konnten in diversen Staaten als neue Monarchen die Herrschaft antreten! Nachhaltigster Erfolg war hierbei ausgerechnet einem späterer Hauptgegner des Franzosenkaisers beschieden: Jean-Baptiste Bernadotte (1863-1844), der erst als gewählter Kronprinz und ab 1818 als neuer König Karl XIV. Johann über Schweden und Norwegen herrschte. Pikanterweise war Karl Johann/Jean-Baptiste mit Napoleons Ex-Verlobter, der durch die Romanverfilmung von 1954 bekannten Désirée Clary, verheiratet. Der Ehe entstammte der 1799 geborene Thronerbe Oskar (I.), den man politisch vorteilhaft unter die Haube (hier wohl eher: den Helm) zu bringen wünschte und deshalb 1821 auf internationale Brautschau schickte. Ins Reistagebuch schrieb Vater Bernadotte als Merksatz: „Du kennst meine Wünsche, ich will, dass du dich zuerst auf die junge Prinzessin von Dänemark einstellst, wenn sie dir zusagt und deine Gefühle teilt, dann auf Prinzessin von Leuchtenberg …“. Das Rennen machte die „Leuchtenbergerin“, mit Namen Josephine (1807-1876) – Enkelin des bayerischen Königs Max I. Joseph, ältestes Kind seiner Tochter Auguste und des oben erwähnten Stiefsohns Napoleons, dem Herzog von Leuchtenberg! Als Spross sowohl der altgedienten Wittelsbacher Dynastie wie der neuen Napoleoniden war die bayerische Prinzessin trotz katholischer Konfession eine geeignete Partie für Oskar. Die Hochzeit fand am 22. Mai 1823 in München statt und Josephine machte sich zusammen mit ihrer neuen Schwiegermutter auf den weiten Weg ins kalte Stockholm. Zahlreiche Bildnisse der hübschen Kronprinzessin sind in den schwedischen Schlössern zu finden, darunter eine Fassung des Porträts, das Joseph Stieler von der jungen Braut malte und von dem eine weitere Variante heute in den Charlottenzimmern der Residenz hängt!
Und wohl auch der Münchner Connection ist es zu verdanken, dass Josephines Cousin, der bayerische Monarch Maximilian II. (reg. 1848-1864), heute lebensgroß in Öl neben weiteren gekrönten Häuptern im dynastischen Bildersaal der schwedischen Könige in Schloss Drottningholm paradiert!