Man weiß nicht so recht, wie man sich den historischen Moment 1708 vorstellen soll, in dem der Alchemist Johann Friedrich Böttger nach ersten Vorstufen statt ursprünglich versprochenem Gold das erste Stück Porzellanmasse aus seinen Tiegeln schabte. Hat der vom sächsischen Kurfürsten August dem Starken sicherheitshalber in Gewahrsam genommene Entdecker geflucht („doch kein Gold“), sich vor die Stirn geschlagen, weil endlich der chemische Groschen gefallen war („natürlich! Zugabe von Kaolin – „Porzellanerde“ !!“)? Vor allem aber – hat er erahnt, was seine Entdeckung für die weitere Geschichte des europäischen Kunsthandwerks bedeuten würde?
Nachdem Porzellan jahrhundertlang nur als teure, immens prestigereiche Importware aus dem fernen Asien zu haben gewesen war, stand das faszinierende, gleichermaßen zerbrechliche und robuste Material nun auch westlichen Künstlern zur Verfügung – form- und bemalbar, glasiert oder matt, gleich geeignet zur Kreation von Gebrauchs- und Kunstgegenständen. Zunächst von der Meißner Manufaktur aus, die 1710 auf der dortigen Albrechtsburg eingerichtet worden war, eroberte der neue Werkstoff Europas Luxusmarkt: Wohlverwahrte Meißner Kostbarkeiten befanden sich im 18. Jahrhundert stets im Gepäck der aus Dresden abreisenden Gesandten, um ausgepackt von der kulturellen Oberhoheit Sachsens zu künden. Klar, dass auch andere versuchten, das Spiel mitzuspielen, denn trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen konnte Meißen das kostbare Geheimnis um die chemische Zusammensetzung der Porzellanmasse – das „Arkanum“ – nicht exklusiv bewahren. Stattdessen stiegen rasch zahlreiche Manufakturen in den künstlerischen und kommerziellen Wettstreit ein (auch wenn die erhofften Gewinnmargen oft desaströs ausfielen). Auch die Wittelsbacher mischten mit ihren zwei „Haus“-Manufakturen in Nymphenburg (gegr. 1747) und im kurpfälzischen Frankenthal (gegr. 1755) kräftig in diesem kreativen Porzellanbrei mit, wovon die Sammlung des Residenzmuseum eindrucksvolles Zeugnis ablegt.
Aber eine fürstliche Porzellankammer beinhaltete nicht nur Ankäufe und Produktion der lokalen Manufaktur, sondern eben auch zahlreiche Stücke, die, vor allem im 18. Jahrhundert, als diplomatisch motivierte Geschenke befreundeter oder dynastisch verbundener Höfe in die heimischen Schränke wanderten. Solche Geschenke sollten erfreuen und gute Beziehungen bestätigen – oder erstmalig anbahnen. Sie sollten aber auch beeindrucken dem Beschenkten diskret andeuten, welch hohe Qualität der erlauchte Cousin Louis, August oder Carlos aus seiner Manufaktur beziehen konnte.
Ein prägnantes Beispiel für eine solche symbolische Geschenkpolitik ist das wunderschön bemalte Service, das Carl Nicolaus Dalesme, Gesandter seiner allerchristlichsten Majestät Louis XV. von Frankreich, im Mai 1760 effektvoll auf einer Tafel im Mannheimer Schloss arrangierte, um es Kurfürst Karl Theodor (aus der Sulzbacher Linie der Wittelsbacher) feierlich im Namen seines königlichen Herrn zu überreichen. Pingelig könnte man monieren, dass es sich bei den 222, für drei Gänge ausreichenden Geschirrteilen der seit 1756 im Pariser Vorort Sèvres poduzierenden „Manufacture royale“ um gar kein echtes, sondern um sogenanntes „Fritten“-Porzellan handelte, das weicher ist (erst ab 1769 hatte man in Sèvres Zugriff auf Kaolinerde). Weil diese Masse („pâte tendre“) aber auch nur eine niedrigere Brenntemperatur benötigt, steht dafür eine sehr umfängliche Farbpalette für die Bemalung zur Verfügung, ein Vorteil, der bei dem Geschenk-Service für den Mannheimer Hof voll ausgenutzt wurde!
Eingefasst werden alle Teile von dem für Sèvres typischen Rautenmuster, dem sogenannten „décor mosaique“, das hier weiße und blaue Felder zeigt, also sinnigerweise die Wittelsbacher Wappenfarben. In den Aussparungen flattern und stolzieren leuchtend bunte Vögeln vor duftigen Landschaftsstaffagen. Sie zwitschern auf flachen und tiefen Tellern, bauen Nester in ovalen Terrinen und runden Schüsseln und paradieren auf Senftöpfchen, Salznäpfen, Gläserkühlern, Eisgefäßen und Saucieren. Dazu gehört plastischer Tafelschmuck: Kindergruppen nach Vorlagen des Malers Boucher und des Bildhauers Falconet (ein besonderer Sèvres-Verkaufsschlager). Ihre seidenmatten Oberflächen aus unglasiertem „Biskuitporzellan“ wirken wie fein behauener Marmor!
Es war ein teures, aufsehenerregendes Geschenk, das der französische Hof dem deutschen Kurfürsten da machte. Gründe gab es viele: Versailles brauchte immer wieder Verbündete unter den deutschen Fürsten, die Kurpfalz lag grenznah und außerdem sollte sich Karl Theodor aus dem 1756 losgetretenen Siebenjährigen Krieg heraushalten, um dessen für Frankreich letztlich desaströsen Verlauf nicht unnötig anheizen.
Entsprechend sorgfältig wurde die Präsentation des kleinen Gabentisches daher geplant. Schon im Vorjahr hatte Dalesme vorgefühlt, ob Karl Theodor eher durch einen Orden oder ein exquisites Speiseservice zu erfreuen sei. Der Kurfürst dankte, Orden hätte er schon zur Genüge, aber französisches Porzellan sei sehr schön. So konnte der Gesandte seinen Außenminister Choiseul bitten, in Sèvres die Brennöfen heizen und die Maler F. J. Aloncle und E. Evans Farben anmischen zu lassen.…
In Mannheim stieß das königliche Geschenk auf gebührende Begeisterung, auch wenn Kurfürstin Elisabeth Auguste quengelte, einige von ihr erwartete Stücke seien in der Sendung nicht enthalten. Ihr Gatte hingegen kündigte mit Blick auf den edlen Spender in Versailles sogar an, das kostbare, für 24 Personen ausgelegte Porzellan gar nicht benutzen, sondern als Schauobjekte in eigenen Vitrinen ausstellen zu wollen! Mehr noch: In den Folgejahren spornte das französische Porzellan die Künstler der kurpfälzischen Manufaktur in Frankenthal zur kreativen Nachschöpfung an: Schon ab 1762 arbeitete man hier an der „Antwort“: einem im Format größeren Geschirr für Karl Theodors Hoftafel mit Darstellungen regionaler Vogelarten, die einen Höhepunkt in der Porzellanmalerei des 18. Jahrhunderts markieren!
Heute befinden sich große Teile des französischen wie des kurpfälzischen „Vogelservice“ in der Residenz: Nach 1777, dem Jahr, in dem Karl Theodor seinen kinderlosen bayerischen Vetter Max III. Joseph beerbte, wurden sie aus Mannheim nach München verbracht – die neue Hauptresidenz der nun gemeinsam regierten Kurfürstentümer Pfalz und Bayern…