Seinen Geburtstag am 25. August feierte König Ludwig gerne in der einsamen bayerischen Bergwelt, weit entfernt von der Residenzstadt München. Im August 1874 und 1875 verschwand er aber plötzlich für mehrere Tage aus seinem Königreich, ohne die Öffentlichkeit davon zu unterrichten. Die hektischen Fahndungen der nationalen wie internationalen Presse lösten das Geheimnis um die royalen Reisedestinationen schnell, auch wenn es sehr schwierig war, der „durchgebrannten Majestät“ auf ihren frankophilen Kunstrecherchen auf den Fersen zu bleiben.
Noch am Abend des 20. August 1874 freute sich ganz Bayern über ein Treffen von König Ludwig II. und Kaiser Franz Joseph I.: „Se. Maj. der König ist gestern Abend von Schloß Berg auf der Landstraße hier eingetroffen und stattete dem Kaiser von Oesterreich im Palais an der Schwabinger Landstraße einen Besuch ab.“ (Amberger Tagblatt vom 22.08.1874) Und natürlich freute man sich auf den nahenden Geburtstag des bayerischen Königs, für dessen Feierlichkeiten schon allerorten Vorbereitungen getroffen wurden. Umso größer war die Überraschung am nächsten Morgen beim Durchblättern der bayerischen Gazetten: „Die guten Münchener mögen sich gestern beim Morgenkaffe verwundert die Augen gerieben haben, als sie aus den „Neuesten Nachrichten“ und dem „Baierischen Kourier“ die seltsame Mähr von der durchgebrannten Majestät erfuhren.“ (Morgen-Post vom 23.08.1874)
Die Wiener Journalisten berichteten mit zwinkerndem Auge und spitzer Zunge über diese „unerhörte That“ der Vorgänge am Donnerstagabend, dem 20. August: „Eine halbe Stunde nach seiner späten Abendvisite beim Kaiser Franz Josef saß König Ludwig bereits, ohne von seinem geheimnisvollen Vorhaben irgend einer offiziellen Dienstseele ein beruhigendes Sterbenswörtchen mitgetheilt zu haben, mit seinem Stallmeister Graf Holnstein im Eisenbahnkoupé und dampfte mit dem Augsburger Schnellzuge ,unbekannt wohin‘ in die weite Welt hinaus.“
Sofort begannen fieberhafte Überlegungen der Presse über das Reiseziel, das zunächst in den Schlachtfeldern bei Metz von 1870 oder der englischen Ferieninsel Wight vermutet wurde, da letztere gerade Kaiserin Elisabeth, heute besser bekannt als Sisi, besuchte. Aber niemand wusste Genaueres und die Ratlosigkeit war groß: „Der gesammte Hof war außer sich über solche etikettewidrige, etwas gar zu burschikose Manier, die getreue Unterthanenschaft schüttelte achselzuckend und mit einer ziemlich verständlichen, wenn auch wenig respektvollen Bewegung die Köpfe, und die rathlose Publizistik, welche das Renommée ihrer berufsmäßigen Allwissenheit nicht verlieren wollte, mußte aus der eingeschlagenen westlichen Route ein halbwegs plausibles Reiseziel des königlichen Flüchtlings herauszubringen versuchen.“ „Wo ist der König?“ fragte sich nicht nur das Illustrirte [!] Wiener Extrablatt am 23. August 1874: „Diese stumme Frage legte sich durch volle 12 Stunden der Ungewißheit ganz München vom königlich-bairischen Oberzeremonienmeister bis zum letzten Portier vor.“
Erst der Pariser Figaro brachte Licht in die hektische Suche der „rahtlosen Publizistik“: „Heute Abend trifft König Ludwig von Bayern incognito unter dem Namen Graf Berg hier ein, steigt im deutschen Gesandtschaftshotel bei dem Fürsten v. Hohenlohe ab und will zehn Tage hier verweilen Behufs Studium der Pariser Kunstschätze und Museen.“ (Amberger Tagblatt vom 22.08.1874) Am Abend des 21. August um 21:10 Uhr kam „Graf Berg“ mit Begleitung am Straßburger Bahnhof in Paris (heutiger Gare de l’Est) an und eilte nach einer erholsamen Nacht in der Preußischen Gesandtschaft am nächsten Tag um 14 Uhr am Nachmittag zum Ziel seiner Reise: dem Schloss Versailles.
Ganz ohne offiziellen Charakter und ungestört von politischen Pflichten besuchte König Ludwig II. in Begleitung von Graf Holnstein das Schloss, über das er schon unendlich viel gelesen und recherchiert hat und dessen idealen Nachbau er schon seit fast 6 Jahren mit seinen Hofbaumeistern und Künstlern – bislang nur auf dem Papier – entstehen ließ. „[…] er verweilte dort im Schloß und Park, von Niemand erkannt und daher so ungestört, wie er es nur wünschen konnte, bis zu einbrechender Dunkelheit.“ (Schweinfurter Anzeiger vom 25.08.1874)
Am folgenden Sonntag, 23. August, besichtigte der bayerische König nach dem Kirchgang die touristischen Highlights von Paris: Sainte Chapelle, Conciergerie, Justizpalast, Museum Cluny und vieles mehr. Natürlich gehörte auch die Opéra Garnier, die Kirche Notre Dame und der Invalidendom dazu, ein Tagesprogramm, das jeden heutigen Reisenden schwindeln lässt.
Am Place des Victoires blieb „der König lange in Betrachtung der Reiterstatue Ludwig’s des XIV. versunken […]“ (Fränkischer Anzeiger vom 26.08.1874), bevor die erlebnisreiche Tour abends mit einem Theaterbesuch bekrönt wurde.
Natürlich gehörte auch damals schon zu jedem standesgemäßen Parisbesuch eine Shopping-Tour dazu, die König Ludwig II. am Vormittag des 24. August im renommierten Kunstgeschäft Ferdinand Barbedienne absolvierte, um am Nachmittag nochmals sein Sehnsuchtsschloss Versailles zu besuchen. Nach einer Übernachtung dort im Hôtel des Réservoirs in Begleitung von Graf Holnstein wünschte sich Ludwig II. zur Feier seines Geburtstags am 25. August ein besonderes (und für die Pariser fast 50.000 Franken teures) Geschenk im königlichen Schlosspark: „Auf den Wunsch Sr. Maj. des Königs von Bayern hat der Minister der öffentlichen Arbeiten befohlen am Dienstag in Versailles die großen Fontänen springen zu lassen.“ (Augsburger Postzeitung vom 25.08.1874)
Nach diesem Höhepunkt huschte Ludwig durch Grand und Petit Trianon, um tags darauf noch schnell nach Fontainebleau zu fahren, „welches […] eine wahre Fundgrube der klassischen und echten Renaissance ist und von den Kennern dem steifen, in seiner Pracht so monotonen Königsbau von Versailles bei Weitem vorgezogen wird.“ (Fränkischer Anzeiger vom 28.08.1874)
Der achttägige Kurztrip seiner Majestät endete nach einer 24-stündigen Fahrt am Abend des 28. August in Pasing, wobei bei der Rückfahrt beinahe noch ein Zugunglück passiert wäre: „Der Eilzug mit welchem der König von Bayern von Paris nach Straßburg zurückfuhr, wäre zwischen Saarburg und Lützelburg beinahe entgleist. Kurz ehe der Zug herankam, brach eine Schiene und ein glücklicher Zufall ist es zu nennen, daß die Rothsignale bemerkt wurden und der Zug vor der gefährlichen Stelle zum Stehen gebracht werden konnte.“ (Amberger Tagblatt vom 03.09.1874)
Über König Ludwigs Wahl seines Reiseziels spekulierte die Presse von München bis Berlin noch lange, manchmal sogar mit wohlgemeinten Gegenvorschlägen: „Und doch muß sich Jedem unwillkürlich die Frage aufdrängen, weshalb der König, wenn er überhaupt verreisen wollte, nicht vorzog, zu seinem Ausfluge lieber die Ukermark oder die märkische Schweiz oder eine andere, Berlin näher liegende und Touristen empfehlbare Landschaft zu wählen. Welche Gründe bestimmten ihn, nicht direct nach Varzin [Landgut von Reichskanzler Bismarck] zu fahren?“ (Kladderadatsch vom 06.09.1874) Die wirklichen Gründe der königlichen Studienreise entschlüsselten die Zeitungsbeobachter schnell: „Wie man sich erzählt, beabsichtigt der König von Bayern auf der von ihm angekauften Herreninsel im Chimsee [!] ein Schloß ganz im Style des Versailler ausführen zu lassen, zu welchem Zwecke er sich hauptsächlich nach Versailles begeben habe. Durch Ausführung dieses Projektes würde der Chimsee [!] ohne Zweifel an Anziehungskraft nur gewinnen.“ (Süddeutsche Post vom 08.09.1874)
Bestätigt wurden diese Vermutungen im Mai des Folgejahrs 1875, als König Ludwig überhaupt seinen ersten Besuch zur Herreninsel im Chiemsee unternahm, um die örtlichen Begebenheiten im Hinblick auf seine jahrelangen Versailles-Planungen zu begutachten: „S.M. der König hat sich heute Nachmitt. 3 Uhr mit dem Königszuge vom Haidhausener Bahnhofe aus nach Prien begeben. S. Majestät wird in den auf den Herrenchiemseeinseln befindlichen unlängst restaurirten [!] kgl. Gemächern bis kommenden Dienstag verweilen und an diesem Tage wieder hieher zurückkehren.“ (Niederbayerische Allgemeine Zeitung vom 03.05.1875)
Noch einmal überraschte Ludwig im August des Jahres 1875 die bayerische Öffentlichkeit mit seiner plötzlichen Abwesenheit: „Jetzt berichtet man, daß der schwer berechenbare Herr des Baierlandes ebenso plötzlich, wie vor Jahresfrist, davongefahren sei, um, begleitet von seinem unzertrennlichen Oberstallmeister Grafen Holnstein, vier Tage in Rheims zu verweilen. Vielleicht ist es der dortige gothische Dom, der die Neugierde des kunstsinnigen Monarchen reizt.“ (Der Wächter vom 26.08.1875) Ludwigs Spontantrip nach Reims vor 150 Jahren vom Montag den 23. bis Freitag 27. August „solle […] mit den Bauprojekten auf der Herreninsel im Chiemsee zusammenhängen. Eine Version lautet dahin, daß der König sein Namens- und Geburtstagsfest an der Krönungsstätte der französischen Könige verbringen wolle. (?)“ (Süddeutsche Post vom 26.08.1875) Seinen 30. Geburtstag verbrachte König Ludwig tatsächlich in der prachtvollen Kathedrale von Reims aus der Zeit der Hochgotik und anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Allerdings wurde er auf der Reise von vielen Anwesenden trotz seines bewusst gewählten Inkognitos mit dem Pseudonym „Graf Berg“ erkannt, weshalb er seinen Aufenthalt nach nur eineinhalb Tagen abbrach und zurückfuhr. Diesmal waren es aber anscheinend keine Bauprojekte, sondern Inszenierungsfragen, die den bayerischen Monarchen nach Reims führten: „Wie man aus München meldet, hat König Ludwig seine Reise nach Rheims mit Rücksicht auf die bevorstehende neue Inscenirung [!] der „Jungfrau von Orleans“ am Münchener Hoftheater unternommen. […] Der König wird den ersten Aufführungen […] allein beiwohnen, um die genaue Ausführung seiner Intentionen zu prüfen.“ (Würzburger Presse vom 31.08.1875)
Kathedrale von Reims. Foto: Wikipedia/ Johan Bakker 2013
Seine Geburtstage feierte König Ludwig II. auch in späteren Jahren bevorzugt ganz privat ohne große Öffentlichkeit. Sein bayerisches Königreich verließ er allerdings künftig an seinem Festtag nicht mehr, sondern hielt sich am liebsten fern von München im Königshaus am Schachen in hochalpiner Region auf. Aber in seiner Fantasie „verreiste“ er dort gerne noch viel weiter, zumeist in ferne orientalische Gefilde. Aber dies ist eine andere Geschichte.
Ich wünsche viel Vergnügen bei unseren diesjährigen Feierlichkeiten zum 180. Geburtstag von König Ludwig II. am 25. August 2025 in Schloss Linderhof, im Königshaus auf dem Schachen und im Neuen Schloss Herrenchiemsee.
Ihr Alexander Wiesneth