Häufig erreichen uns Anfragen interessierter BesucherInnen zu einem ganz speziellen Stück aus den Sammlungen des Residenzmuseums: Weit oben auf der Liste stehen von jeher neugierige Erkundigungen, warum die Prunkbetten so hohe Liegeflächen haben (haben sie nicht, es handelt sich um kastenförmige „Tagesdecken“) oder warum die „Krone einer englischen Königin“ ausgerechnet im Schatz der bayerischen Herrscher glänzt (Relikt einer vorteilhaften Eheverbindung der pfälzischen Wittelsbacher mit dem Haus Lancaster). Ungewöhnlich ist hingegen die kürzlich eingegangene Bitte um Informationen zu der „Schwarzen Madonna“ im Antiquarium.
Dem zu genügen, scheint erst mal nicht einfach, denn um welches Objekt soll es sich handeln?
Der weitläufige, 1568/71 errichtete Renaissancesaal mit der beeindruckenden Wölbung beherbergt ja bis heute die (Reste der) Antikensammlung, welche die bayerischen Herzöge des 16. Jh., namentlich der ebenso kunstbegeisterte wie konsumfreudige Albrecht V. (reg. 1550-1579), auf dem italienischen Kunstmarkt zusammenkauften. Plastische Bildwerke christlichen Inhalts sucht man in dieser Kollektion römischer Imperatoren und heidnischer Abgötter vergeblich. Zwar thronen immerhin im ausgemalten Deckenspiegel des Antiquariums fromme Allegorien in weiblicher Gestalt, aber auch in ihrer Schar ist die Gottesmutter nicht zu finden.
Natürlich lässt sich aber aus der Beschreibung unseres Besuchers dennoch das „richtige Stück“ rasch ermitteln und tatsächlich ist mit Blick auf die antike Statuette, deren Korpus aus hellem Marmor ein ergänzter Kopf aus schwarzem Stein ziert, die anachronistische Interpretation als Marienbild überaus verständlich: Denn die Figur erinnert in Größe und Habitus, der Gestaltung des starren, mit Reliefs plastisch überdekorierten Gewands sowie mit der dunklen Färbung von Kopf und Extremitäten deutlich an christliche Kultbilder des Mittelalters, wie sie vielfach in ganz Europa und auch im süddeutschen Raum anzutreffen sind.
Prominentestes Beispiel „aus der Region“ ist hier gewiss die „schwarze Muttergottes“ aus der Wallfahrtskapelle von Altötting, die ihren dunklen Teint dem Ruß abertausender Kerzen verdankt, die ihr zu Ehren in dem winzigen Andachtsraum im Lauf von Jahrhunderten entzündet worden sind. Auch die bayerischen Wittelsbacher brachten der Altöttinger Madonna traditionell besondere Verehrung entgegen und ließen seit dem 17. Jahrhundert regelmäßig ihre Herzen in ewiger Anbetung zu Füßen des Gnadenbilds bestatten. Dennoch ist die Statuette im Antiquarium, die prominent in einer Pfeilernische nahe der Fürstenempore residiert, keine fromme Replik dieser beschützenden und wundertätigen Jungfrau, wie sie sich an vielen barocken Hausfassaden Altmünchens fand (und findet). Vielmehr handelt es sich um die antike, im Format verkleinerte Kopie eines ungleich älteren Kultbildes, nämlich der seinerzeit überregional verehrten „Aphrodite von Aphrodisias“: Unter diesem Namen wurde eine lokale Inkarnation der im ganzen Mittelmeerraum in verschiedensten Manifestationen präsenten Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin angebetet, die, ausgestattet mit unterschiedlichen Charakterzügen und Wunderkräften, als Rhea, Gaia, Hekate, als Isis, Ishtar, Ceres, Cybele oder namenlose „Magna Mater“, in den diversen Pantheons der antiken Welt eine wichtige Rolle spielt. Als ein Resultat der Eroberung Kleinasiens erst durch Griechen, dann durch die Römer glichen die Neuankömmlinge die vorgefundenen Regionalkulte im Zuge der sogenannten „Interpretatio Graeca“ den eigenen kulturellen Überlieferungen an und besetzten sie mit ihren heimischen, aus Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ wohlbekannten olympischen Göttern.
So verschmolz die Große Mutter, die schon lang zuvor im antiken Karien, einem Teil des heutigen Anatoliens, herrschte, spätestens im vierten Jahrhundert v. Chr. mit der griechischen Ressort-Chefin für Liebe und Schönheit, der schaumgeborenen Aphrodite – übrigens ohne dabei ihren eigenständigen Charakter aufzugeben. Ihr angestammtes Kultzentrum, bald bekannt unter dem Namen Aphrodisias (heute eine archäologische Stätte in der Nähe des türkischen Dorfes Geyre), entwickelte sich unter solch liebevoll-göttlichem Schutz prächtig: Ergiebige Marmorsteinbrüche und ein gutes Händchen im Umgang mit den Römern brachten Tempel und Stadt jahrhundertelang Wohlstand und ermöglichten den Aufstieg zum Hauptort Kariens. Vor allem die ersten römischen Kaiser aus dem julisch-claudischen Hause sahen die Protektion Aphrodisias als eine Art Familienangelegenheit an, da sie ihren Ursprung propagandistisch wirkungsvoll über Julius Cäsar und den halbgöttlichen Trojaner-Flüchtling Aeneas auf dessen Mutter – Aphrodite – zurückführten, welche die Römer von jeher mit „ihrer“ Venus gleichsetzten.
Die Münchner Göttin weist alle die wesentlichen Merkmale auf, die das in vielen Ausformungen, Münzbildnissen und Fragmenten überlieferte Kultbild des später zur Kirche umgewandelten, dann zerstörten Haupttempels von Aphrodisias auszeichneten. Bei diesem handelte es sich um eine hellenistische Neuschöpfung aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, die das originale archaische Kultbild ersetzte und dessen abstrakte Gestalt in die naturnahe, illusionistische Bildsprache der hellenistischen Bildhauerei übertrug. Der wohl ursprünglich hölzerne Pfahl, der – rudimentär beschnitzt, geschmückt und bekleidet – anfänglich die Gottheit symbolisierte, wird so zum trommelförmigen, steifen „Schurz“, dem „Ependytes“, der mit breiten Streifen reliefartiger Stickerei versehen ist und nur die nackten Füße und den Kopf sehen lässt. Diese Reliefs illustrieren verschiedene Aspekte der Göttin: Die drei Grazien, ihre Dienerinnen, symbolisieren die fruchtbaren Kräfte der Erde. Die Geschwister oder das Liebespaar Sonne und Mond darunter stehen für den kosmischen Machtbereich der „Magna Mater“. Weiter unten, auf dem Seepferd über die Wogen reitend, erinnert schließlich die Herrin persönlich an die Schöpfungskraft des Urgewässers, dem sie selbst entstammt. Unter und über dem unkleidsamen Schurz trägt Aphrodite – hierin ganz modebewusste Griechin – einen hemdartigen Chiton und den bodenlangen Schleier, auf dem die turmgestaltige „Stadtkrone“ sitzt, die sonst eigentlich das Haupt der Erdgöttin Cybele ziert.
In der hier beschriebenen, fremdartig-starren Aufmachung erweist sich die karische Aphrodite nun selbst wiederum als „kleine Schwester“ und Variation einer bis heute ungleich bekannteren Inkarnation der „Magna Dea“: Der „Artemis (römisch: Diana) von Ephesus“, der Herrin über die tödliche Jagd, den wandelbaren Mond, die lebenspendenden (Jung-)Frauen und die gefahrvolle Geburt. Diese kleinasiatische Göttin residierte in einem Tempel, der bis zu seiner Zerstörung durch einen narzistischen Brandstifter zu den sieben antiken Weltwundern zählte und war den Altertumsforschern der Frühen Neuzeit zudem aus der biblischen Apostelgesichte bekannt: Darin gerät nämlich der Missionar Paulus mit den lokalen Kunsthandwerkern aneinander, die von dem neuen christlichen Gott Konkurrenz für ihr Geschäft mit Repliken des berühmten, einst vom Himmel herabgefallenen Artemis-Kultbilds befürchten.
Auch die „Ephesische Artemis“ trägt den für Anatoliens Göttinnen üblichen bodenlangen Bilderschurz. Als „Herrin der Tiere“ steht sie meist zwischen zwei Hirschen. Zu unterscheiden von der „Aphrodisiatischen Aphrodite“ ist sie für den Laien vor allem durch den Behang mit Reihen ovaler oder fruchtförmiger Objekte, die Anlass für jahrhundertelange antiquarische Spekulationen gegeben haben. Abwechselnd interpretiert man sie als Brüste der Fruchtbarkeitsgöttin oder als Hoden der ihr zu Ehren geopferten Stiere. Beides passt gut zur mythologischen Überlieferung, die die „Ephesische Artemis“ als Schutzherrin der streitbaren Amazonen kennt, deren Statuen von der Hand berühmter griechischer Bildhauer einst den Tempel schmückten: Diese kriegerischen Damen pflegten sich – Vorsicht Matriachat! – eine Brust zu amputieren, um mehr Platz für das körpernahe Spannen des Bogens zu gewinnen, und gingen – Vorsicht Patriachat! – mit männlichen Gefangenen schmerzhaft rabiat um. Schließlich wird in einigen Quellen auch behauptet, die Priester von Ephesus hätten sich entmannt, ähnlich wie die berühmten, „Galli“ („Hähne“) genannten Verehrer der Muttergöttin Cybele. Weniger gruselig gehen neuere Theorien davon aus, dass die Objekte längliche Bernsteintropfen darstellen, Nachbildungen archaischer Schmuckketten, die um das erste, hölzerne Kultbild geschlungen worden seien, und von denen sich bei jüngeren Ausgrabungskampagnen Spuren gefunden haben.
Künstlerisch „fruchtbarer“ für die neuzeitliche Karriere des antiken Kultbildes war allerdings die Idee der „Multimammia“, der „Vielbrüstigen“: Als solche wurde die „Artemis“ von Künstlern und Philosophen der Renaissance umgedeutet zur allegorischen Verkörperung der unerschöpflichen Natur, auf deren mütterlichem Schoß sie die Milch der Weisheit und der Inspiration saugen.
Angesichts der Dominanz dieses antiken Busenwunders ist es verständlich, dass man in der Frühen Neuzeit die verschiedenen Göttinnen fröhlich durcheinanderwarf: Auf der Packliste, die der berühmte Antiquar Jacobo Strada 1567 an Herzog Albrecht V. aus Rom sandte, wo er in dessen Auftrag Antiken erworben hatte, figuriert die Münchner Aphrodite daher auch als „Ain gantz bild ainer Diana ephesia allenthalb mit historien ausgehawen, dern Kopff hend und füeß seind von schwarzen stain so man paragon nennt, das ubrig ist von weissen; diß mag mit den schonsten antiquitet Zu Rom steehn.“ Man war erklärtermaßen stolz auf diese Anschaffung, mit der man eine bekannte Antiken-Rarität für den bayerischen Hof gesichert hatte. Denn tatsächlich war die Münchner Statue im Rom der Renaissance seinerzeit eine „kleine Berühmtheit“. Davon künden gleich mehrere dokumentarische Zeichnungen, auf denen die Figur festgehalten wurde. Diese zeigen auch, dass Kopf, Hände und Füße neuzeitliche Ergänzungen sind, ebenso wie die Gesichter von „Sol“ und „Luna“ sowie der unterste Teil des Bilderschurzes. Solche Komplettierung war üblich im Vorfeld eines Ankaufs und wurde oft nach bestem antiquarischem Wissen und Gewissen ausgeführt: Den Zeitgenossen Albrechts und Stradas waren wohl erhaltene Ausführungen der „Artemis/Diana von Ephesus“ mit angesetztem Kopf und Gliedern aus schwarzem Stein bekannt (wobei mancher annimmt, dass die antiken Bildhauer mit diesem Materialmix die dunkle Oberflächenfärbung des originalen hölzernen Kultbildes zu imitieren suchten).
Als „Ephesische Diana“, als kostbares Prestigeobjekt ersten Ranges, als Symbol antiker Weisheitslehren fand unsere Statuette so ihren Platz im Münchner Antiquarium – aber auch schon als Verkörperung der schönen Aphrodite? Die gelehrte Verwirrung am bayerischen Hof blieb trotz allem Sammeleifer und aller Liebe zum Altertum groß – davon zeugt nicht zuletzt ein weiteres kleines Bronzefigürchen, nun tatsächlich der „Artemis“, die gleichfalls im 16. Jh. Eingang in die Kunstkammer der Wittelsbacher fand: Angesichts der schier unendlichen Wandlungsfähigkeit der „Großen Göttin“ verwirrt, inventarisierte sie Hofrat Fickler dort als: „ein Abgöttisch bildt, der göttin Isidis [„Isis“] vornen her voller frawenbrüst“.
Nun also noch die ägyptische Isis, die auf antiken Darstellungen den ohne Hilfe eines Gatten gezeugten Sohn, den kindlichen Lichtgott Horus, an die Brust legt – ein Motiv, das in der Spätantike die Darstellungen der jungfräulichen Gottesmutter Maria mit inspirierte. Unsere Anfrage nach der Schwarzen Madonna des Antiquariums lag also auf mehr als eine Art ziemlich richtig!