Ein Gastbeitrag von Dr. Martin Pozsgai
(Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd) //
Schon länger ist bekannt, dass Leopoldo Retti, der 1731 aus Württemberg gekommene Architekt der großartigen Ansbacher Residenz, ein Schüler seines Onkels, des herzoglichen Oberbaudirektors Donato Giuseppe Frisoni in Ludwigsburg gewesen war. Allerdings weiß man überhaupt nichts darüber, was Retti in Ludwigsburg gelernt hat. Welche Kompetenzen und Fertigkeiten wurden ihm von Frisoni vermittelt? Übernahm der Schüler Arbeitsweisen des Lehrers? Nachfolgend wird auf der Basis eines Beitrags, der vor wenigen Wochen im Buch „Frisoni – Retti – Carlone. Lombardische Künstlerfamilien im Europa des 18. Jahrhunderts“ erschienen ist, versucht, Antworten zu geben. Dabei werden vor allem Parallelen im überlieferten künstlerischen Schaffen der beiden Architekten berücksichtigt.
Rettis Erstlingswerk: Eine Ansicht des Ludwigsburger Schlosses
Das unmittelbarste Zeugnis aus Leopoldo Rettis Zeit am Ludwigsburger Hof ist seine eigenhändig gezeichnete Ansicht der Schlossanlage. Die Zeichnung präsentiert eine Vogelschau des Schlosses von Norden.
Leopoldo Retti hat die perspektivische Ansicht unten rechts italienisch mit „Disegnata di Leopoldo Retti. L’ano. 1726.“ signiert. Das Blatt ist also 1726 entstanden, im Jahr des Baubeginns der groß angelegten Erweiterung des Ludwigsburger Schlosses, und zeigt gerade diese neu zu errichtenden Bauteile, die auf Entwürfe von Donato Giuseppe Frisoni zurückgehen: beginnend mit den Kavaliersbauten im Anschluss an die geschnittenen Gebäude im Vordergrund, welche noch Frisonis Vorgänger Johann Friedrich Nette errichtet hatte, und hinten in dem großen Querriegel endend, dem Neuen Corps de logis. Im Jahr 1726, als er dieses Blatt zeichnete, wurde Leopoldo 22 Jahre alt. Er war das jüngste Mitglied der Künstlerfamilie Retti aus Laino im Valle Intelvi, einem Hochtal zwischen dem Comer und dem Luganer See, aus dem auch Frisoni stammte, und er war zugleich ein Neffe des Ludwigsburger Hofarchitekten.
Frühere Erwähnungen Rettis im Umfeld von Frisoni
Seit der 1930 erschienenen Publikation von Fritz Scholl heißt es, Retti sei seit seinem 13. Lebensjahr, also seit 1717, in Ludwigsburg. Dies ist durchaus denkbar, denn in jenem Jahr kam auch sein älterer Bruder Paolo Retti zum ersten Mal nach Württemberg. Paolo hatte sich von Wien aus als Bauunternehmer um die Ausführung des östlichen Kavaliersbaus in Ludwigsburg beworben. Bald darauf konnte er auch die anspruchsvolle Umsetzung der Kuppel der dortigen Schlosskirche übernehmen. Beide Bauten entstanden nach Entwürfen Frisonis. Belegt ist weiterhin, dass 1723 laut Ludwigsburger Seelenregister im Haus des Baumeisters Paolo Retti auch Leopoldo als wohnend genannt wird.
Im Jahr darauf soll der junge Architekturschüler Leopoldo Retti dann zu einer Studienreise aufgebrochen sein und sich von 1724 bis 1726 in Italien und Frankreich befunden haben. In der Tat ist ein solcher Aufenthalt in Paris aufgrund der tiefgehenden Vertrautheit Rettis mit den Prinzipien französischer Baukunst zwingend vorauszusetzen.
Start als Ludwigsburger Hofarchitekt 1726
Erfolgreich war die Reise überdies, denn gleich nach seiner Rückkehr wurde er 1726 zum herzoglich-württembergischen Baumeister mit 300 Gulden Besoldung jährlich ernannt. Spätestens jetzt arbeitete er offiziell unter Frisonis Leitung im Bauwesen mit, und zwar neben seinem älteren Bruder Paolo. Der Baumeister Paolo Retti hatte sich gleichsam als Generalunternehmer in Ludwigsburg durchgesetzt, der die verakkordierten herzoglichen Bauten per Festpreis schlüsselfertig ausführte.
Auffallend ist der Zeitpunkt von Leopoldos Rückkehr und seine Anstellung als Hofarchitekt insofern, als damals – 1726 – gerade mit der eingangs skizzierten umfangreichen Erweiterung des Ludwigsburger Schlosses begonnen wurde, wodurch sehr viel Arbeit im Bauwesen anfiel. Insbesondere waren zahllose Ausführungszeichnungen gerade auch für das Innere anzufertigen, da der Bauherr Eberhard Ludwig von nahezu jedem Raum einen Entwurf sehen wollte.
Analogien in der Arbeitsweise der Architekten
Im Bereich der Zeichnungen gibt es formale Parallelen, die auf ähnliche, gleichartige Arbeitsweisen schließen lassen. Sowohl der Onkel wie der Neffe signierten ihre Präsentationszeichnungen, die sie dem Auftraggeber vorlegten, und versahen sie mit kurzen beschreibenden Informationen zu Material und Ausstattungselementen. Beispielsweise ist Frisonis Aufriss der Längswand im zentralen Saal des Favoriteschlösschens in italienischer Sprache bezeichnet und unterschrieben, während etwa Rettis Entwürfe für das Ansbacher Marmorkabinett ebenfalls eine Beschreibung aufweisen und vom Architekten signiert worden sind.
Interessant ist auch, dass Leopoldo Retti Anfang 1733 nach München fuhr, „um die Gebäude und die Zimmer in dem Churfürstlichen Schloß allda zu besehen und von denen meublirten Appartements Risse zu machen“. Er wollte dort die Raumkunst des François de Cuvilliés in den Reichen Zimmern der Residenz begutachten.
Inspirationen durch moderne kurbayerische Ausstattungsarbeiten hatte schon sein Onkel Frisoni erwartet, als dieser im Hinblick auf die frisch begonnenen Planungsarbeiten zur Erweiterung des Ludwigsburger Schlosses im Winter 1722/23 nach München fuhr, um „die sambtlichen kostbahren gebäwde zu sehen und zu betrachten“. Damals befanden sich hier zahlreiche Bauvorhaben des Kurfürsten Max Emanuel unter der Leitung von Joseph Effner in Arbeit oder kurz vor dem Abschluss.
Künstlerischer Austausch mit Kurbayern
Dass verlässliche Kontakte nach München sinnvoll waren, konnte der Schüler ebenfalls schon vom Lehrer lernen. Denn Frisoni holte 1728 den Bildhauer Joseph Maximilian Pöckhel, der maßgeblich für die geschnitzten hölzernen Ornamente der Boiserien im Neuen Corps de logis verantwortlich war, vom Hofe Max Emanuels nach Württemberg. Pöckhel hatte bis dahin in der großen Werkstatt des Hofkistlers Johann Adam Pichler als Holzbildhauer an zahlreichen Wandvertäfelungen und Möbeln im Neuen Schloss Schleißheim und in der Residenz München mitgearbeitet. Dies war ein Bereich der vom Auftraggeber gewünschten französisch inspirierten Innenausstattung, den Frisoni mit eigenen Künstlern in Ludwigsburg nicht abdecken konnte. In gleicher Weise schlug Retti im September 1739 vor, die Bildhauerarbeit im Schloss „denen von München gekommenen Bildhauers-Gesellen“ zu überlassen. Unter diesen waren Johann Caspar Wetzler, Franz Hornung und Johann Michael Wagner, die 1737 aus den kurfürstlich-bayerischen Hofwerkstätten nach Ansbach verpflichtet wurden.
Über diese Handwerkergruppe hatte Paul Amadée Biarelle die Oberaufsicht, ein Dessinateur und Bildhauer, den Leopoldo Retti 1731 als Zeichner nach Ansbach geholt hatte. Es ist nun höchst interessant, dass Retti diesen Biarelle bereits aus seiner Ludwigsburger Zeit kannte. Dies geht aus einem neu entdeckten Dokument hervor, nach dem Biarelle im Dezember 1728 von Paolo Retti an den württembergischen Hof gerufen worden war, da der Baumeister einen weiteren Bildhauer zur Ausführung der Boiserien im Großen Kabinett des Herzogs im Neuen Corps de logis suchte. Spannend wird es insofern, wenn man sich vorstellt, dass möglicherweise sogar Leopoldo Retti die Entwürfe für dieses Kabinett in Frisonis Auftrag gezeichnet hatte.
Paralleles stilistisches Formempfinden der Architekten
Auch in der Formensprache, bei Motiven und Stilen weisen Lehrer und Schüler immer wieder Gemeinsamkeiten auf. So stellen Fensterrahmungen mit seitlich stark ausgearbeiteten Vertikalzügen und deutlich betonten Verdachungen eine Schnittmenge dar. Sie zeigen sich beispielsweise an der Innenhoffassade der Residenz Ansbach wie auch am Mittelrisalit der Kommunikationsgalerien in Ludwigsburg mit nahezu derselben giebelartigen Verdachung.
Und sowohl der Haupteingang von Frisonis Neuem Corps de logis wie auch die Portale von Rettis Residenz gehen auf das Modell der französischen Porte cochère zurück. Deren Kennzeichen war die typische in Frankreich übliche Kreuzgestaltung des Sockelfeldes, die an den Hauptportalen in Ludwigsburg wie auch in Ansbach im unteren Viertel der Türblätter aufscheint.
Rückschlüsse auf verlorene Innenausstattung in Ludwigsburg
Vor dem Hintergrund dieser und anderer zu beobachtender Parallelen wird es möglich, ausgehend vom Werk Leopoldo Rettis Rückschlüsse auf die Gestaltung des Inneren des Neuen Corps de logis von Schloss Ludwigsburg zu ziehen. Obwohl dessen zahlreiche Zimmer bis 1733 unter Frisoni nahezu fertiggestellt waren, ging die bauzeitliche Ausstattung mit der durchgreifenden klassizistischen Umgestaltung um 1800 weitestgehend unter.
So findet sich im Ansbacher Appartement des Markgrafen das Marmorkabinett, das in seinem Aussehen stark an die Beschreibung des herzoglichen Marmorkabinetts im Bauvertrag mit Paolo Retti zur schlüsselfertigen Ausführung des Neuen Corps de logis vom 22. Dezember 1725 erinnert. Der Vertrag verlangt für den Raum komplett weiß marmorierte Wände mit vergoldeten Ornamenten. Seine Decke sollte Felder enthalten, die teils gemalt, teils flach stuckiert und vergoldet, bronziert und metallisiert waren. Dies alles ist in schönster Übereinstimmung auch in Ansbach zu sehen.
Ein einziges Fragment des weißen Stuckmarmors hat im Neuen Corps de logis hinter einem Fensterladen die tiefgreifende klassizistische Umgestaltung überstanden. Das Fragment bezeugt gleichsam als letzter Rest die Beteiligung Leopoldo Rettis an Frisonis Bauprojekt. In den Jahren von 1717 bis 1730, die er in Ludwigsburg verbracht hatte, legte Retti mit den erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten definitiv eine vielseitige Grundlage für sein späteres Schaffen.
Dr. Martin Pozsgai, VG Wort Karteinummer: 2473437