Heute vor genau 150 Jahren war die Geburtsstunde von Schloss Linderhof. Alexander Wiesneth aus unserer Bauabteilung wirft einen Blick zurück und zeigt auf wie genau eines der berühmtesten Schlösser des 19. Jahrhunderts auf höchst ungewöhnliche Weise entstanden ist.
In wenigen Zeilen und völlig unvermittelt eröffnet König Ludwig II. seinem Hofsekretär Lorenz von Düfflipp am 30. September 1870 den Bauauftrag zum heutigen Schloss Linderhof:
„Majestät möchten, ähnlich wie ich Herrn Hofrath hier aufzeichne, den kleinen Anbau am Häuschen des Linderhofes herstellen lassen“.
Eine kleine Skizze im Brief konkretisiert den königlichen Befehl: An das alte Jagdhaus seines Vaters, das Ludwig erst kurz vorher neu einrichten ließ, dockt asymmetrisch ein länglicher Annex bestehend aus drei Räumen an. Ein Durchbruch in der Nordwand seines Arbeitszimmers soll dem König den gewünschten Ausstieg in eine andere, im Rokoko-Stil dekorierte Welt verschaffen, ein Wunsch, der kurz vor der Deutschen Reichsgründung im Jahr 1871 und dem damit einhergehenden Verlust der Bayerischen Souveränität verständlicher nicht sein konnte.
Dieser „break out“ des Königs aus dem engen Jagdhaus seines Vaters stellt sicherlich den ungewöhnlichsten Startschuss für einen herrschaftlichen Schlossbau dar, noch dazu für einen, der zu den bekanntesten des 19. Jahrhunderts werden sollte! Nicht weniger ungewöhnlich entwickelt sich die weitere Genese von Schloss Linderhof. Kaum war die erste Idee formuliert, drängt Ludwig II. auf eine zügige Herstellung:
„deßgleichen erwarte Ich mit Bestimmtheit, daß Sie mir bis dahin [22. Oktober 1870] die versprochenen Scizzen zu den 3 Roccocozimmern vorlegen können. Treiben Sie recht, Mir liegt sehr viel daran diesselben gerade hier zu sehen. […] Mit dem Anbau der 3 Zimmer könnte es viel rascher gehen, treiben Sie unausgesetzt, damit der Termin eingehalten wird, denn wenn es nicht geschieht, ist die ganze Arbeit vergeblich.“ (Brief vom 18. Oktober 1870 an Hofrat Lorenz von Düfflipp)
Der ausführende Architekt Georg Dollmann hat nicht viel Gestaltungsspielraum, wenn der König ihm schon kurz nach der ersten Idee alle Maße des Baus vorgibt: „Den [sic!] Salon befehlen Majestät die Länge von 24 Fuß zu geben, und die beiden Eckzimmer sollen à 12 Fuß lang werden.“ Ein noch in den Oktober 1870 datierter Werkplan des massiv geplanten Erdgeschosses beweist, wie schnell die Hofbauintendanz die Wünsche des Königs umzusetzen versuchte.
Was auf dem Papier in wenigen Tagen gelingt, ist beim richtigen Bauen – zumal im hochalpinen Klima kurz vor Wintereinbruch – keineswegs möglich, auch wenn König Ludwig II. bis zuletzt auf eine zeitnahe Fertigstellung beharrte, damit „die Zimmer von „Linderhofe“ zur rechten Zeit im Dezember vollendet werden“ (Brief vom 28. November 1870). Ernüchtert muss der König zwei Wochen später an seinen Hofsekretär schreiben: „Diesen Abend traf Ich hier am „Linderhofe“ ein. Ich kann Ihnen nicht schildern, wie erstaunt und unangenehm berührt ich war, als ich mich davon überzeugen mußte, daß soviel wie gar nichts hier geschehen ist, treiben Sie mit erneutem Eifer und lassen Sie davon nicht nach. […] da der neue Anbau im nächsten Sommer fertig werden soll, benützen Sie den Winter fleißig dazu.“ (Brief vom 12. Dezember 1870). Die tatsächliche Fertigstellung von Ludwigs Anbau-Idee an das Jagdhäuschen seines Vaters zeigt uns eine Zeichnung des Hoftheatermalers Christian Jank vom Sommer 1871, auf der sogar noch die frisch gegrabene Baugrube in den Hang erkennbar ist.
Aber König Ludwig II. hatte schon weit vor dem ersten Spatenstich des einhüftigen Anbaus neue Ideen zur Erweiterung der Erweiterung. Während der Ausführung im Jahr 1871 wird aus dem sackgassenartigen, drei Zimmer großen Ausstieg im Obergeschoss des ehemaligen Jagdhauses ein Rundweg durch die Spiegelung des ersten Grundrisses mit mittig eingefügtem Paradeschlafzimmer. Dieser gebaute Rundlauf konnte wahlweise durch eine Treppe ins Freie oder wieder zurück ins Königshäuschen enden.
Die mit feinstem Rokoko-Interieur ausgestatteten Zimmerfluchten lassen sich kaum mit einer herrschaftlichen Schlossplanung dieser Zeit vergleichen, sondern eher mit der Aneinanderreihung von Schauräumen zur Schaffung eines ganzheitlichen Erlebniswegs, wie er im 19. Jahrhundert vergleichbar bei Weltausstellungsarchitekturen oder „imaginären Reisebauten“ zu finden ist. 1872 wird der von außen wie das alte Jagdhaus mit einer rustikalen Holzfassade gestaltete „Rundlaufanbau“ fertiggestellt, dessen damaliges Aussehen jeder Besucher des Königshauses am Schachen dort in einem Supraportengemälde bewundern kann.
Der heutigen Gestalt des Linderhofer Schlosses kommt der introvertierte und außen unscheinbare Fachwerkbau erst im Jahr 1873 durch die nachträgliche Verkleidung mit einer steinernen Fassade einen weiteren Schritt näher. Aber es wurde nicht alles prachtvoll in Stein gesetzt: Das alte Königshäuschen und der durch den Rundgang umschlossene (Rest-) Innenhof blieben im ländlichen Stil holzansichtig. Eine hybride Erscheinung, die für unser heutiges ästhetisches Empfinden sicherlich nur schwer erträglich wäre.
Trotzdem hielt dieser Zustand noch bis 1874, erst dann wurde der Ausgangspunkt der ganzen Anlage, das Königshäuschen, abgetragen und an seinen heutigen Standort versetzt, da der König diesen Ursprungsbau seines „Linderhofes“ erhalten wollte. Mit der Translozierung des alten Jagdhauses fehlte plötzlich der Zugang zu den Prunkräumen, der bis dahin ja nur durch das Obergeschoss von diesem oder über eine äußere Treppe möglich war. Der notwendige Ergänzungsbau in Form eines Vestibüls sowie dem innen liegenden Treppenhaus anstelle der hölzernen „Keimzelle“ ist bis heute die Erschließung des Linderhofer Schlosses.
Damit wäre Ludwigs Linderhofer Schlossbau nun eigentlich „ausgewachsen“ gewesen, hätte der König nicht nach fast 10 Jahren Ruhepause 1884 begonnen, das vorhandene Schlafzimmer zu vergrößern. Ein folgenschwerer baulicher Eingriff für das bis dahin eigentlich vollendete Schloss, der womöglich nicht der letzte geblieben wäre…
So ist aus dem anfangs „kleinen Anbau am Häuschen des Linderhofes“ Schritt für Schritt ein einzigartiges Schloss mit Parkanlage entstanden, dessen außergewöhnliche Entwicklungsgeschichte heute gar nicht mehr wahrnehmbar ist. Zum Verständnis der Besonderheiten von König Ludwigs II. Schöpfungen ist das Wissen um deren Entstehungsprozess aber entscheidend. Dies gilt auch für seine schon zwei Jahre vorher gestarteten Projekte, die „Neue Burg Hohenschwangau“ und „Tmeicos-Ettal“. Ähnlich wie in Linderhof begannen die Planungen für Neuschwanstein und Schloss Herrenchiemsee in zunächst kleinerem Umfang, der sich im Laufe des königlichen „Regieprozesses“ nach seinen Vorgaben vergrößerte und perfektionierte. Bewunderungswürdig ist, wie Ludwig II. seine Vorstellungen kompromisslos in die Realität umsetzte, die weltweit heute noch die Besucher – über alle Kulturgrenzen hinweg – faszinieren!
Im Graswangtal gab König Ludwig II. vor 150 Jahren den Anstoß für die Transformation der ländlichen Alpenlandschaft zu diesen faszinierenden Traumwelten.