Eine naturrealistische Kunsthöhle wünschte sich König Ludwig II. für seinen Schlosspark in Linderhof, um dort die Blaue Grotte von Capri zusammen mit der Venusgrotte aus der Oper Tannhäuser zu inszenieren. Die Realisierung lag in den Händen des in Frankreich ausgebildeten Landschaftsplastikers August Dirigl, der ein Patent für ein „Verfahren zur Herstellung künstlicher Grotten“ hielt und diese neuartige Konstruktionsart erstmals in Deutschland anwendete. Seine Aufzeichnungen ermöglichen uns heute einen spannenden Blick hinter die Kulissen von König Ludwigs Grotte in Linderhof und gleichzeitig auf eine besondere bautechnische Innovation dieser Zeit.
Am 2. Mai 1874 lief ein „Bittgesuch des Landschafts-Plastikers August Dirigl“ bei König Ludwig II. ein, in dem der „ehrfurchstvollst unterzeichnete Bittsteller“ seine „größtentheils nur auf Selbst-Studium […], der Ausbild[ung] in der Plastik, und insbesondere in der Landschafts-Plastik“ gewonnenen Künste anbot. Der damals 38-jährige Dirigl, gebürtig aus dem pfälzischen Germersheim, hatte zu dieser Zeit bereits einiges erlebt. Ein Zeitungsbericht aus dem Jahr 1871 berichtet von einer Schwurgerichts-Verhandlung „gegen August Dirigl, Kaufmann von Speyer, wegen betrügerischen Bankrottes“. (Zweibrücker Zeitung vom 26.09.1871)
Demnach hatte 11 Jahre zuvor, 1860, der damals 24-jährige Angeklagte eine „Glas-, Porzellan- und Galanterie-Waarenhandlung [!] in Speyer“ eröffnet, die bereits im Folgejahr aufgrund von Zahlungsunfähigkeit gegenüber seinen Gläubigern in Konkurs ging, weshalb eine Zwangsversteigerung in den Zeitungen angezeigt wurde. Ein sicherlich unglücklicher Start des Jungunternehmers.
Dirigl entzog sich der Gerichtsverhandlung durch Flucht nach Paris im Jahre 1861, „wo er sich redlich ernährte, bis er, bei Ausbruch des Krieges [1870] von dort vertrieben, in die Pfalz zurückkehrte, im Glauben, seine Strafe sei verjährt.“ Nach eigenen Angaben widmete sich Dirigl während der 10 Jahre in Paris der Ausbildung in der Landschaftsplastik, die dort weit gediehen war und beispielsweise in der Weltausstellung 1867 große Aufmerksamkeit durch künstliche Aquariengebäude oder Landschaftsparks – nicht nur beim königlichen Besucher Ludwig II. – erregte.
Aquarium-Gebäude auf der Weltausstellung in Paris 1867 mit künstlichen Felsformationen (nicht erhalten).
1863 wurde August Dirigl in Abwesenheit zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, musste aber sein sicheres Pariser Exil wegen des deutsch-französischen Krieges 1870/71 wieder verlassen. Notgedrungen „begab er sich nach München, um sich dort ein Geschäft zu gründen, wurde aber bei einem vorübergehenden Aufenthalte zu Germersheim verhaftet […].“ (Pfälzische Volkszeitung vom 23.09.1871)
Glücklicherweise endete der Prozess im Jahre 1871 mit einem Freispruch, so dass Dirigl, nun wohnhaft in Schwabing bei München, einen Neustart in seinem neuen Metier als Landschaftsplastiker, wagen konnte. Im Mai 1874 reichte er nicht nur eine Bittschrift an den bayerischen König ein, sondern warb gleichzeitig auch in mehreren Zeitungen, um auf sein neu gegründetes Geschäft aufmerksam zu machen: „Die in früheren Zeiten nicht ohne Geschick betriebene landschaftliche Plastik war in neuerer Zeit mit Unrecht vernachläßigt worden und deßhalb in Verfall gerathen. Einer unserer Landsleute, der sehr begabte und fleißige August Dirigl, aus der Rheinpfalz gebürtig, hat es sich seit Jahren angelegen seyn lassen, diesen Zweig der Kunst zu pflegen und eine bis jetzt selten erreichte Vollkommenheit darin zu erlangen. […] Die Plastik in der Art, wie Herr Dirigl sie übt, dürfte, vor dem Stift und Pinsel sicher den Vorzug haben, daß sie z. B. einen Prachtbau, eine Kirche usw. von allen Seiten zeigt, somit ein viel anschaulicheres Bild des darzustellenden Gegenstandes gibt […].“ (Der Sammler vom 30.05.1874)
Das Glück stand dem Landschaftsplastiker zur Seite: „In Euer Koeniglichen Majestät allerhöchsten Auftrage wurde mir eröffnet, daß meinem allerunterthänigsten Bittgesuche auch entsprochen werden wird.“ (Schreiben vom 15. August 1874 von August Dirigl an König Ludwig II.) Dirigl schlägt dem König zwei Projekte zur Wahl vor: ein plastisches Modell wahlweise von den Ausgrabungen des verschütteten Pompejis oder vom „wunderschöne[n] Schloß in Versailles, das ich durch meinen 10 jährigen Aufenthalt dort zur Genüge kennen und bewundern gelernt habe“. Aber der kunstsinnige Monarch hatte bald darauf Größeres im Sinne und beauftragte den Landschaftsplastiker mit dem Bau einer künstlichen Grotte mit einem vorab zu liefernden Modell. In den frühesten Bauquellen zur Venusgrotte ab Mitte 1875 sind Rechnungen von Dirigl über Auslagen von Studienfahrten zu Höhlen in Franken und ersten Vorbereitungen in Linderhof belegt. Schon bald berichteten die Gazetten über die „schwermüthigen Lieder der Italiener, die um den Linderhof einen Paradiesesgarten [!] schaffen […], [mit einer] Wundergrotte von künstlichen Tropfsteinen […].“ (Der Bazar vom 05.11.1877)
Der König trieb zur höchsten Eile, um die künstliche Grotte bis spätestens 1877 fertig zu sehen. In erstaunlich kurzer Zeit modellierte Dirigl den Grotteninnenraum, nachdem er erst ab Mitte des Jahres 1876 nach Vollendung der Außenschale aus Backstein durch den Hofbaumeister Georg Dollmann mit seinen Arbeiten beginnen konnte. Faszinierend ist dabei die Formenvielfalt und der naturrealistische Eindruck des Höhleninneren, der noch dazu durch zerriebenes Muskovit, eingelegte Glasprismen oder farbige Anstriche verstärkt wurde, worüber der König äußerst zufrieden war.
Das königliche Hofsekretariat war mit den Geldforderungen des Landschaftsplastikers weniger zufrieden, der für seine Arbeiten an der Grotte 54.000 Mark kalkulierte. Durch verschiedene Gutachten versuchte man den Preis zu drücken, allerdings arbeitete Dirigl noch mehrere Jahre an Änderungen in der Grotte, so dass sich seine Auftragssumme im Gegenteil auf bis zu 80.000 Mark noch erheblich erhöhte.
Die neuartige Konstruktion der von August Dirigl geschaffenen Monumentalgrotte, die eigentlich für die Öffentlichkeit gesperrt war, faszinierte umgehend die neugierigen Paparazzi aus Wien bis ins kleinste Ausführungsdetail: „Aus vielen spitzbogigen Gewölben […] wurden verschiedene kleinere und ein großer Raum hergestellt, sämmtliche Gewölbe dann im Innern mit Eisenrippen versehen und an diesen Eisenrippen wieder aus kleineren Eisenstangen und Draht ein Netz gebildet, das die Grundform zu den verschiedenen Tropfsteingebilden andeutet. Dieses Netz wurde dann mit Sackleinen umwickelt und hierauf Cement aufgetragen. Diesem Cement wurde durch Modellirung die Form der verschiedenartigsten Tropfsteine gegeben, wie solche in den natürlichen Tropfsteinhöhlen vorkommen. Die Ausführung der Arbeit ist so vorzüglich, daß man sich in eine natürliche Höhle versetzt glaubt.“ (Local-Anzeiger der „Presse“ vom 19.12.1878)
Eisendrahtgeflecht der plastischen Schale aufgehängt an den massiv gemauerten Backsteingewölben der Venusgrotte Linderhof
Der Zeitungsbericht über die Konstruktion ist verblüffend genau, so dass die Informationen höchstwahrscheinlich aus erster Quelle kamen. Das ein Jahr später, am 7. Februar 1879, von August Dirigl eingereichte Patent Nr. 6699 „Verfahren zur Herstellung künstlicher Grotten“ erklärt das neuartige Verfahren detailliert mit mehreren Illustrationen.
„Verfahren zur Herstellung künstlicher Grotten“, Patentschrift No. 6699 von August Dirigl in Schwabing bei München
„Vor allem wird ein Eisennetz dadurch angeordnet, daß man die Umrisse der einzelnen Felstheile der zu bildenden Höhle oder Grotte durch Eisenstäbe vorbildet […]. Zur weiteren Ausbildung der Formation wird gleichfalls Eisen verwendet, und zwar wird, je enger das Eisennetz wird, desto schwächeres und leichteres Material nach und nach angebracht. […] Nach Vollendung des Eisennetzes wird es auf der Rückseite, also nach außen zu, mit einer „Hessian“ genannten, Art Packleinwand […] belegt, und mit Draht oder Schnur an das Eisen angenäht. […] Das ganze Flechtwerk wird hierauf nach innen mit Mörtel beworfen […]. Sodann wird die Masse aufgetragen, indem theils Gyps, theils Cement, nach Bedarf auch Kalkmörtel, mit den nöthigen Werkzeugen in der Art geformt wird, daß sich hierdurch eine vollständige Nachbildung der natürlichen Felsen ergiebt, welche schließlich mit dem geeigneten Farbentone versehen wird.“
Die Venusgrotte in Linderhof war sicherlich der größte Auftrag, den August Dirigl realisierte. Kleinere Grottenausstattungen in Restaurants konnte er gleichzeitig 1875 in München ausführen. Neben der Venusgrotte stellte Dirigl auch anderswo Grottenräume für Dekorationen von Ausstellungen her, die allerdings nur von kurzer Lebensdauer waren: „Im Glaspalaste ist der geniale Landschaftsplastiker Herr Dirigel [!] gegenwärtig emsig damit beschäftigt, eine künstliche Tropfsteinhöhle herzustellen […].“ (Der freie Landbote vom 21.09.1880) Auch für König Ludwig II. arbeitete der Landschaftsplastiker – nun in kleinerem Maßstab – weiter. Ab 1880 wünschte der bayerische Monarch eine Miniaturgrotte im dritten Palas-Geschoss seiner Neuen Burg Hohenschwangau, die August Dirigl innerhalb kürzester Zeit dort zusammen mit dem geforderten Wasserfall und den verschiedensten Beleuchtungsstellen einbaute. Die bewährte Konstruktion aus Sackleinen und Gips/Zement wurde hier auf eine hölzerne und nicht, wie in Linderhof, auf eine eiserne Unterkonstruktion aufgetragen.
Grundriss des Grotteneinbaus in Schloss Neuschwanstein, lavierte Zeichnung um 1880 (von August Dirigl?)
Aber die unkalkulierbare Geschäftslage eines Landschaftsplastikers machten es notwendig, immer wieder Werbung und Musterproben zu veröffentlichen, um an neue Aufträge zu kommen. Eine Gelegenheit bot sich dabei in der „Internationalen Eletricitäts-Ausstellung im kgl. Glaspalast zu München“ im Herbst 1882, wo August Dirigl als Aussteller mit einem Modell und einer „IIlustrations-Probe“ auf seine Kunst aufmerksam machte: „Seit vielen Jahren bin ich bemüht durch kleinere und grössere Arbeiten den Beweis zu liefern, wie man die mannigfaltigsten Stalaktiten und Felsbildungen täuschend nachahmen kann und zwar durch mein mit Reichs- und ausländischen Patenten ausgestattetes Verfahren.“
Noch mehrere Jahre gelang es dem Kunstgrottenbauer aus Schwabing sich mit Lourdes-Grotten (z. B. in Pfaffenhofen), Einrichtungen in Restaurants (Mannheim 1889) oder Felsformationen für Vergnügungsparks (Nymphenburg) über Wasser zu halten und immer wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen, wie auf der im April 1885 eröffneten Blumenausstellung im Münchner Glaspalast: „Außerdem beleuchten zwei weitere [elektrische] Lampen die von dem Landschaftsplastiker Dirrigl [!] wieder mit besonderem Geschick und feinem Geschmack ausgeführte Grotte mit Wasserfall. Es zählt dieses Meisterwerk der Plastik mit zu den hervorragendsten Sehenswürdigkeiten der diesmal an solchen sehr reichen Ausstellung.“ (Straubinger Tagblatt vom 24. April 1885)
Auch König Ludwig II. verschaffte Dirigl kleinere Aufträge, wie ein Felsmodell für die geplante Burg Falkenstein, die Erneuerung der Grotte im Wintergarten der Residenz München oder die Kunstfelsen für die Brunnenanlage vom Neuen Schloss Herrenchiemsee. Ein Höhepunkt in August Dirigls Karriere war sicherlich die Aufnahme in den erlesenen Kreis der königlich bayerischen Hoflieferanten im Jahr 1888 durch den Prinzregenten Luitpold und damit zur Ernennung zum „königlichen Hof-Landschaftsplastiker“. Leider konnte er diese Ehre nicht mehr lange genießen.
1890 erkrankte er schwer „an erblich bedingter Paralyse“ und musste deshalb dauerhaft in ein Münchner Nervenkrankenhaus eingeliefert werden. Da es keine Nachfolger für sein Geschäft gab, wurde alles Inventar im Herbst desselben Jahres versteigert. Zwei Jahre später, am 26. Oktober 1892, verstarb im Alter von nur 56 Jahren „einer der früher berühmtesten und begabtesten Künstler, Professor Aug. Dirrigl [!]. Er war Landschaftsplastiker und hat hauptsächlich für den seligen König Ludwig II. Arbeiten geliefert, so z. B. die Grottenformationen in Schloß Linderhof.“ (Nachruf auf August Dirigl im Neumarkter Wochenblatt vom 29.10.1892)
Todesanzeige des königlichen Hof-Landschaftsplastikers Augst Dirigl, Münchner Neueste Nachrichten vom 28.10.1892
Die von König Ludwig II. beauftragte Venusgrotte in Linderhof ist August Dirigls originellstes und größtes Werk. Seine Kunst in der Herstellung naturrealistischer Tropfsteinhöhlen lässt sich dort bis in kleinste Details studieren und erregt auch heute noch große Bewunderung der Besucher. Als Zeugnis für damals innovative Konstruktionstechniken und bedeutende Kulturphänomene des 19. Jahrhunderts ist sie weltweit einzigartig. Ohne den Landschaftsplastiker August Dirigl wäre diese Wundergrotte nicht möglich gewesen, dessen Leistung leider oftmals hinter den Licht- und Farbeffekten der Venusgrotte verblasst.
Eigenhändige Unterschrift des Landschaftsplastikers August Dirigl, 1874. Ein Porträt Dirigls hat sich leider nicht erhalten.
Alle Informationen zum Besuch der Venusgrotte im Schlosspark Linderhof findet ihr auf unserer Webseite.
Abbildungen der wiedereröffneten Venusgrotte: BSV/Freudling, Scherf