Hinter den Kulissen

Die Mistel und der Herzschlag der Linden – Ein Pilotprojekt untersucht den Zusammenhang von Baumvitalität und Mistelbefall im Schlosspark Nymphenburg

nymphenburg kanal misteln

So schön die Mistel als weihnachtliche Dekoration ist, so schädlich ist sie für die ehrwürdigen Linden in der Hochallee in Nymphenburg.

Einzelne Exemplare des Halbschmarotzers (lat. Viscum album ssp. album) sind für einen gesunden Baum ungefährlich, doch ist die Mistel eine klare Klimawandel-Gewinnerin und breitet sich in den letzten Jahren sehr erfolgreich aus. Ist ein Baum dann zusätzlich durch Schädlinge, Trockenheit oder Krankheiten geschwächt, so kann der extreme Mistelbefall zum Absterben einzelner Kronenbereiche oder des ganzen Baumes führen.

Seit 2022 analysiert ein Pilotprojekt mit innovativer Messtechnik den Zusammenhang von Baumvitalität und Mistelbefall, um den Bäumen in der Hauptallee effektiv und leistbar zu helfen. Dabei wird der Wassergehalt in der Baumkrone gemessen. Der Verlauf des Graphens zum Wassergehalt in der Baumkrone folgt dem Tag-Nacht-Rhythmus und erzeugt so eine auf- und absteigende Linie, die dem Pulsieren von Herzschlägen ähnelt. Mit den aufgezeichneten Daten sollen sinnvolle Rückschnittintervalle und die Art und Weise des Rückschnitts der Misteln definiert werden.

Mistel Monitoring Nymphenburger Schlosspark

Zwei Sensoren von TreeSense Pulse an einer Mistel in der Hochallee, Nymphenburg (Foto: BSV/Laura Christ, März 2023)

Warum ist die Mistel ein Problem im Schlosspark?

Die Linden in der Hochallee entlang des Mittelkanals im Schlosspark Nymphenburg gehen teilweise noch zurück auf die barocke Allee und sind beeindruckende Baumindividuen, die vielen geschützten Lebewesen Zuflucht bieten. Sie sind ein wichtiges Zeitzeugnis und wertvoller Pflanzenbestand im Schlosspark und werden deshalb gepflegt und für zukünftige Generationen erhalten.

Seit einigen Jahren breitet sich die Laubholz-Mistel (lat. Viscum album ssp. album) immer stärker im Schlosspark aus. Beinahe alle Bäume der Hochallee sind davon betroffen und manche Einzelbäume sind sogar extrem befallen. Dank milderer Winter bleibt die Hauptverbreitungsart, die Misteldrossel, auch über den Winter in Deutschland und die Mistelsaat kann erfolgreicher keimen.

Die Mistel bedient sich als Halbschmarotzer „nur“ am Wasser des Baumes und den darin gelösten Mineralien. Photosynthese kann sie mit ihren grünen Blättern selbst betreiben. Doch gerade in den längeren Trockenphasen im Sommer, die als Folge des Klimawandels immer häufiger auftreten, wird sie zur Konkurrentin des Baumes um das knappe Gut Wasser.

Dazu kommt, dass die Bäume eigentlich einen sehr klugen Mechanismus zur Reduktion der Verdunstung in solchen Situationen besitzen, diesen aber nicht mehr effektiv benützen können, wenn zu viele Misteln die Baumkrone befallen haben. Bei Trockenstress schließen sommergrüne Bäume, wie die Linde, ihre Stomata. Stomata sind die Spaltöffnungen in den Blättern, durch welche Bäume CO2 aufnehmen und Wasser und Sauerstoff abgeben. Die immergrüne Mistel schließt jedoch ihre Spaltöffnungen nicht und so verdunstet auch bei längerer Trockenheit eine große Menge an Wasser, die sich dann aus den Reserven des Baumes in Stamm und Wurzeln speist, da der Boden bereits trocken ist.

Neben der Wasserverfügbarkeit beeinflusst die Mistel auch die Statik der Baumkrone. Besonders große Exemplare können zu Astbrüchen führen. Die strukturellen Veränderungen im Holz durch die Verwachsungen der Mistelwurzeln bleiben auch nach dem Absterben oder Entfernen der Mistel erhalten und können ein Problem für die Verkehrssicherheit darstellen, da sie in der Baumkontrolle schwer einzuschätzen sind.

entfernung misteln

Das Entfernen von Misteln an hohen Bestandsbäumen ist aufwendig. Hier im Schmiedehof in Nymphenburg (Foto: BSV/Vera D. Wesinger, 2024)

Einfach alle Misteln herausschneiden?

Der extreme Mistelbefall wird vor allem jetzt im Winter sichtbar. Die große Menge der Misteln gefährdet die befallenen Bäume. Es ist aber nicht möglich alle Misteln aus dem Schlosspark zu entfernen, der Pflegeaufwand wäre dafür nicht darstellbar und die Mistel darf als geschützte Wildpflanze auch nicht ausgerottet werden. In den geschlossenen Gehölzbeständen und dort wo sie nicht massenhaft auftritt, stellt die Mistel eine wichtige Nahrungsgrundlage für Wildtiere im Winter dar und steigert die Biodiversität. Aus den geschlossenen Gehölzbeständen bringen Vögel wie die Misteldrossel, die Mönchsgrasmücke oder der Seidenschwanz aber immer wieder neue Mistelsamen in die Allee und zu besonders schützenswerten Einzelbäumen im Park.

Ein weiteres Problem ist die Art der Mistelentnahme, da die Mistel ihre Saugwurzeln (Haustorien) und Rindenstränge weit unter der Rinde des befallenen Astes ausbildet. Um die Mistel komplett zu entfernen, muss deshalb bis ins gesunde Holz zurückgeschnitten werden. Soll ein Baum bei immer wieder auftretender erneuter Besiedelung mistelfrei gehalten werden, muss immer stärker in die Architektur der Baumkrone eingegriffen werden, um die Mistel samt ihrer Saugwurzeln komplett zu entfernen. Auf Dauer ist dadurch sowohl die Ästhetik des Baumes als auch seine Substanz gefährdet.

Ziel der Pflege im Park kann also nur sein, das Maß des Mistelbefalls so zu reduzieren, dass besonders wertvolle Bäume und Bereiche keinen Schaden erfahren und gleichzeitig nicht zu stark in die Architektur der Baumkrone eingegriffen wird.

Dafür müssen folgende Fragen geklärt werden:

  • Welche Bäume leiden besonders unter dem Mistelbefall? Um welche müssen wir uns also besonders schnell und häufig kümmern?
  • Wie oft muss die Mistel zurückgenommen werden, damit die Vitalität des Baumes nicht beeinträchtigt wird?
  • Wie soll die Entnahme der Misteln erfolgen?
schlosspark misteln

Extrem stark von Misteln befallene Linde in der Hochallee, Nymphenburg (Foto: BSV/Alexandra Greim, 2021)

Wie stark ist der Mistel-Befall in der Hochallee?

Ein Forschungsprojekt der Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft, geleitet von Dr. Hans-Joachim Klemmt, hat sich intensiv mit der Bestimmung der Befallsstärke durch Misteln beschäftigt. Dazu fanden von 2019 bis 2023 Drohnenbefliegungen im Schlosspark statt. Diese wurden außerhalb der Besuchszeiten, in den frühen Morgenstunden durchgeführt. Im Winter konnten im laublosen Zustand die immergrünen Misteln gut erfasst werden. Insgesamt hat der Mistelbefall in diesem Zeitraum zugenommen. Zuwachs gab es vor allem in den Befallskategorien „extremer Befall“ (Misteln nehmen über 20 % der Kronenfläche ein), „starker Befall“ (10 bis 20 % der Kronenfläche) und „mittlerer Befall“ (5 bis 10 % der Kronenfläche). Hier findet ihr einen Artikel mit weiteren Infos zum Projekt: „Baumvitalität im Schlosspark

misteln im schlosspark nymphenburg

Der Blick von oben: Mistel-Gruppen in den Linden am Mittelkanal, Nymphenburg (Foto: BSV/Vera D. Wesinger, 2023)

Was zeigt uns der „Herzschlag“ der Linden?

Bäume sind komplexe Lebewesen, die von vielen Einflussfaktoren ihrer Umwelt – dem Klima, den Bodenverhältnissen oder auch Schädlingen – beeinflusst werden. Für dieses Forschungsprojekt wurde die Baumvitalität in Abhängigkeit der Regenerationsfähigkeit nach Trockenereignissen definiert, also wie schnell sich ein Baum von Trockenstress erholt. Da die Mistel vor allem auf die Wasservorräte eines Baumes zugreift, wird so die Auswirkung der Mistel auf die Baumvitalität deutlich.

Insgesamt 75 TreeSense Pulse-Sensoren messen den elektrischen Widerstand in den Baumkronen von 27 Linden entlang des Nymphenburger Mittelkanals. Je trockener ein Ast ist, desto höher ist der elektrische Widerstand. Die einzelnen Sensoren sind jeweils mit Sendern versehen und in etwa so groß wie ein Mobiltelefon. An einem Baum ist jeweils ein Sensor an einem unbefallenen Ast sowie ein Sensor an einem Ast vor und nach einer Mistel angebracht. Alle 15 Minuten werden Daten zum Wasserhaushalt gesammelt, die kabellos auf eine Online-Plattform übertragen und bewertet werden. Die Daten formen Graphen, die sich entlang der y-Achse des gemessenen Widerstandes auf und ab bewegen.

Ist ein Baum gut mit Wasser versorgt, steigt der Widerstand im Laufe des Tages an, da das Wasser im Ast durch die Blätter verdunstet wird. Nachts sinkt der Widerstand, denn die Wasserreserven des Baumes füllen sich wieder auf. So zu sehen am regelmäßigen Oszillieren der Messwerte eines Senders an einem nicht befallenen, gesunden Ast. Hier ist der leichte Anstieg in einer Trockenphase um den 21. August und das Absinken der Wellenlinie nach einem Regenereignis gut zu sehen. Die Messkurven der Sensoren vor und nach der Mistel verzeichnen wesentlich höhere Ausschläge im Widerstand und kommen nicht so schnell wieder in den niedrigeren Bereich vor dem Trockenstressereignis zurück.

Treesense_Graph Kopie

Ein Blick in die TreeSense Cloud auf die Messkurven der Sensoren an einer Linde zwischen dem 14. Juli und 28. August 2023.

Die Analyse und Interpretation der Messkurven der Sensoren im Bezug auf die Baumvitalität ist komplex. Daher wurden für die Datenanalyse weitere Eigenschaften der Linden erfasst. Mithilfe des Mistel-Befalls-Indices der Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft wurden die 27 Versuchsbäume in vier Gruppen aufgeteilt – gesund, geringer Befall, mittlerer Befall, starker Befall und extremer Befall. Zudem wurden durch das Baum-Management der Bayerischen Schlösserverwaltung, Kompetenzstützpunkt München, die Vitalitätsstufen nach Andreas Roloff (2001) erfasst. Dafür wurde ein Mittelwert aus den Beobachtungen von drei Personen gebildet. Viele der Linden wurden aus Gründen der Verkehrssicherung in ihrer Krone stark beschnitten. Dies kann die Wechselwirkung zwischen Mistelbefall und Baumvitalität beeinflussen. Daher wurde ein System entwickelt, indem die Kronenarchitektur der Linden in drei Stufen erfasst werden konnte.

Welche Zwischenergebnisse und Lösungsansätze zeigt das Pilotprojekt?

Nach einem Jahr Messungen und Erhebungen konnten bereits interessante Ergebnisse erzielt werden. Daraus ergaben sich Anreize für die praktische Baumpflege.

Besonders starke Eingriffe in die Kronenarchitektur führen zu einem Verlust der Baumvitalität und vergrößern die Anfälligkeit und Empfindlichkeit gegenüber der Mistel. Das Baum-Management, Kompetenzstützpunkt München, hat deshalb die Art des Rückschnitts der Misteln neu definiert: Im Grobastbereich (maximal 10 cm starke Äste) darf nicht mehr der Ast, sondern nur noch die Mistel zurückgeschnitten werden. Ziel der Maßnahme ist es, den Befallsdruck der Mistel zu minimieren, wobei ein arttypischer Baumhabitus erhalten bleibt. Zudem soll ein ausreichender Neuaustrieb gegeben sein, welcher durch Beschattung das erneute Wachstum abgeschnittener Misteln verlangsamt. Nur im Feinastbereich darf die Mistel noch komplett entfernt werden, inklusive eines Rückschnitts bis ins gesunde Holz.

Die Sensoren verbleiben noch bis Ende 2024 in den Linden und liefern weitere Daten, denn es stehen noch Fragen aus, die einen längeren Messzeitraum benötigen. Bei der Hälfte der Versuchsbäume wurden 2023 durch das Baum-Management alle Misteln entfernt. In der folgenden Vegetationsperiode kann nun erfasst werden, wie schnell und wie gut sich die Bäume vom Mistelbefall erholen. Darüber hinaus sollen folgende Forschungsfragen beantwortet werden:

  • Lassen sich anhand der Daten Empfehlungen für resistentere Lindensorten finden, anhand derer man Nachpflanzungen orientieren könnte?
  • Welchen Einfluss hat die Mistel auf die Winterruhe der Bäume?

 


Das Pilotprojekt zum Mistel-Monitoring ist entstanden in enger Zusammenarbeit mit:

Versuchsaufbau, Organisation: Vera Wesinger, Jost Albert, Michael Degle, Laura Christ (BSV, Gärtenabteilung)

Erhebung der Baumvitalität, Montage der Sensoren: Laura Christ, Andreas Schickhaus, Martin Krauß (BSV, Gärtenabteilung), Gustav Pachtner

Grundlagen zur Forschung und Mistelbefall, Drohnenbefliegung: Hans-Joachim Klemmt (Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft)

Sensortechnik und Datenauswertung: Moritz Spielvogel, Julius Kübler, Giancarlo Foderà (TreeSense, München)

 


Quellen und weiterführende Literatur

Andreas Roloff (2001): Baumkronen – Verständnis und praktische Bedeutung eines komplexen Naturphänomens. Verlag E. Ulmer, Stuttgart, 164 S.

Vitalitätsbeurteilung anhand der Kronenstruktur

„Grüne Mitesser“ – Die Mistel an Tanne, Kiefer und Laubbaumarten – LWF aktuell 112