„Enfin, il est en ma puissance,/ce fatal ennemi, ce superbe vainqueur./Le charme du sommeil le livre à ma vengeance“ [„Endlich ist er in meine Hand gegeben – mein Feind, der hochmütiger Eroberer/der Schlummer überantwortet ihn meiner Rache…“]
Was sich hier an den Wänden der Residenz in pastellfarbigen Seidenfäden gewirkt, vor den Augen des Betrachters abspielt, ist das ganz große Kino des Ancien Régime: Breitwand, Technicolor und High Emotion auf einmal: Dargestellt ist der berühmteste Monolog in der Geschichte der „Tragédie lyrique“, der spezifisch französischen Ausformung der Barockoper: Zweiter Akt, fünfte Szene der Oper „Armide“ von Jean Baptiste Lully (Komponist) und Philippe Quinault (Libretto) von 1686.
Was bisher geschah:
Die schöne sarazenische Zauberin Armide hat mit ihrer Magie den bisher aus der Ferne gehassten Kreuzfahrer Renaud in eine Falle gelockt und ist bereit, ihn zu töten, als sie im Angesicht des schlafenden Ritters auf einmal Liebe zu dem anmutigen Glaubensfeind in sich erwachen fühlt:
„Ma colère s’éteint quand j’approche de lui./Plus je le vois, plus ma fureur est vaine“ [„Mein Zorn versiegt, wenn ich mich ihm nähere, je mehr ich ihn betrachte, umso mehr schwindet meine Wut“].
Tatsächlich hat sich Liebesgott Amor bereits schützend zwischen dem Dolch und Renauds Brust platziert. Ein Flussgott und dralle Nymphen, die mit ihrem Gesang den Ritter im Auftrag der schönen Zauberin in Schlaf gesungen haben, beäugen misstrauisch-ängstlich diese Entwicklung.
Am Ende der Szene ist Armide trotz aller Verführungskunst und Magiermacht selbst von der Liebe besiegt: Sie entführt Renaud per Flugwagen in ihren luxuriösen Zauberpalast um ihn dort Kreuzfahrt und Ritterpflicht vergessen zu machen… – allerdings nur kurz und ohne Happy End: Mit göttlicher Hilfe, einem magischen Spiegel der Selbsterkenntnis und der humorfreien Überredungskraft seiner streberhaften Mit-Ritter wird der verliebte Renaud aus Armides Armen gewunden und zur Pflicht (möglichst viele Heiden töten!) zurückgeführt. Der schmissige Stoff war natürlich nicht aus der Feder des galanten Quinault geflossen, sondern stellt die prominenteste Episode aus dem Epos „Das befreite Jerusalem“ des ungleich berühmteren Torquato Tasso dar (vollendet 1574). Wie die über Strecken hin ganz ähnliche Liebesgeschichte des Ritter Ruggiero und der schönen Hexe Alcina aus Ariosts „Partner-Epos“, dem „Rasenden Roland“, bot das Motiv der verführerischen Zauberin, die von der Tugend (des ritterlichen Herrschers natürlich!) besiegt wird, Grundlage für unzählbare Festturniere, Opern, Balletts und Theaterstücke des Barockzeitalters an den Höfen von Florenz, Wien, Paris und – München.
Dort hatte das Kurfürstenpaar Ferdinand Maria und Henriette Adelaide im Jahr 1662 mit Schwung den Anschluss an die internationale Festkultur hergestellt: Mit spektakulären Feierlichkeiten wurde damals die langersehnte Geburt des Thronerben Max Emanuel publik gemacht! Als (leider verregneter) Höhepunkt dieser aufsehenerregenden „Feste theatrale“ war die Feuerwerksoper „Medea vendicativa“ vorgesehen, die mit riesigem Aufwand auf einer Floß-Bühne auf der Isar zelebriert werden sollte (Bregenzer Festspiele „avant la lettre“ sozusagen) – seinerseits nichts anderes als eine weitere Abwandlung des Motivs „schöne Zauberin – standhafter Tugendheld“.
Zurück zu „unserer“ Protagonistin
dieses künstlerisch so überaus fruchtbaren Zwiespalts zwischen Passion und Pflicht – der von den eigenen Gefühlen besiegten Armide: Der musikalische Übergang von tödlichem Hass zu bedingungsloser Liebesleidenschaft, den Jean-Baptiste Lully, Musikintendant des Sonnenkönigs Louis XIV., 1686 den gezierten Versen seines Librettisten Philippe Quinault unterlegt hatte, trug nicht wenig zum Ruhm des Komponisten und des Stücks bei. An dem leidenschaftsgesättigten Monolog der Titelfigur arbeiteten sich Profis und Musikliebhaber des 18. Jahrhunderts wie Rameau („pro“) und Rousseau („contra“) ab. Kein Wunder also, dass noch in den 1730er Jahren die mittlerweile fast schon zwei Generationen alte Oper Motive für eine Serie kostbarer Wandbehänge hergab: Für die berühmte Manufacture des Gobelins schuf der französische Hofmaler Charles Antoine Coypel bis 1741 insgesamt vier Entwürfe nach Lullys späten Opern (drei Szenen aus „Armide“ und eine aus Lullys Tragédie lyrique „Roland“ von 1685, die wiederum auf Ariosts „Orlando“ fußte).
Diese wohl ursprünglich umfänglicher disponierte Serie der sogenannten „Fragments d‘Opéra“ fügte sich ein in eine ganze Reihe ähnlicher Projekte der königlichen Gobelin-Manufaktur, der Coypel auch Skizzen und „Kartons“ (also die originalgroßen Vorlagen) für Teppichserien zu anderen französischen „Klassikern“ lieferte, zu Stücken Corneilles, Racines und Molières. Wer die in delikater Farbigkeit gehaltenen Behänge als Raumschmuck orderte, umgab sich also nicht nur mit geschmackvollen Luxusprodukten aus dem Atelier des anerkannten Hofmalers: Er legte zugleich ein Bekenntnis zur Vorbildlichkeit französischer Kunst und Kultur generell ab – ähnlich wie gestern und heute mit dem Erwerb einer „Klassiker-Bibliothek“ mit extra groß gedruckten Autorennamen auf dem Einband (und manchmal niemals aufgeblätterten Seiten….).
Insofern kein Wunder, dass eine komplette Serie der vier „Fragments“, die 1762 von dem Wirker Neilson nach Coypels Kartons hergestellt wurde, heute in der Münchner Residenz zu finden ist. Schließlich waren die Wittelsbacher des 18. Jahrhunderts durch die Bank große Frankreich-Verehrer, vor allem die kurpfälzischen Familienmitglieder und unter ihnen insbesondere die Herzöge von Pfalz-Zweibrücken: Im prachtvoll eingerichteten Pariser Domizil Herzog Christians IV. (1722-1775), eines Intimus Ludwigs XV., dem „Hôtel Deux-Ponts“, dürften die Teppiche ursprünglich gehangen haben, bevor sie nach Christians Tod von seinen Neffen und Erben Carl II. August nach Zweibrücken überführt wurden. Noch später, nach 1799, gelangten sie mit weiteren Kostbarkeiten mit Carl August Bruder Max Joseph, dem neuen pfalz-bayerischen Kurfürsten (ab 1806 dann auch König), nach München. Hier schmückten sie das Staatsappartement Max I. Josephs in den Steinzimmern und später die klassizistischen „Hofgartenzimmer“, die für Königin Karoline von Baden eingerichtet wurden.
Seit der Zerstörung dieser großzügigen Raumflucht im Jahr 1944 müssen die drei heute ausgestellten Teppiche (einer ist aus konservatorischen Gründen dauerhaft deponiert) in den wesentlich kleiner dimensionierten „neuen Hofgartenzimmern“ präsentiert werden. Doch auch wenn der aktuelle Platz für so viel geballte Leidenschaften recht eng ist, so kann der Betrachter dort doch bis heute die Höhepunkte der zwischen Politik und Leidenschaft, Vernunft und Liebe schwankende Beziehung des Ritters und seiner Schönen ablaufen: Auf dem zweiten Teppich ist die Szene zu Ende des fünften Aktes dargestellt, in dem der bekehrte Renaud Abschied von der niedergeschmetterten Armide nimmt…
Armides Liebe ist dem geballten Egoismus kriegerischer Männerfantasien unterlegen! Das wirft die enttäuschte Frau am Ende einer langen Arie erst einmal um, während über ihr Putten wie bestellte Möbelpacker bereits den Schmuck des magischen Luxus-Resorts demontieren. Aber nicht für lange: Während der untreue Renaud am Horizont verschwindet, wächst Armide mit neu erwachtem Zorn zu alter Form.
In einem furiosen Finale, das den barocken Bühnenbildnern alles abforderte (und für viele Besucher der Hauptgrund war, drei Stunden in der Oper auszuharren), schwingt sich die entrüstete Zauberin auf den Rücken eines Flugdrachen und befiehlt ihren Geistern, den Liebespalast, das Symbol ihrer Schwäche, mit Feuer und Blitz dem Erdboden gleichzumachen!
„Démons, détruisez ce palais./Partons, et s’il se peut, que mon amour funeste/demeure enseveli dans ces lieux pour jamais” [“Dämonen, zerstört den Palast. Gehen wir, und wenn es möglich ist, sei meine Liebe auf ewig unter diesen Trümmern begraben”]