Schneewittchen hätte es wissen können: Eben mal so einen Apfel von Unbekannt? Da sagt man als Königstochter auch im Märchenwald lieber erst einmal „Nein, Danke“ – oder trägt die Konsequenzen. Auch der florentinische Großherzog Francesco de‘ Medici (reg. 1574–1587) und seine skandalumwitterte Gemahlin Bianca Capello waren beim gemeinsamen Schmaus mit dem Bruder (und kurz darauf: Nachfolger) Ferdinando zu unvorsichtig, genauso wie diverse Kardinäle, die bis zu ihrem plötzlichen Ableben etwas zu üppig an der Tafel von Borgia-Papst Alexander VI. (reg.1492–1503) zu speisen beliebten: Ihnen allen sowie zahlreichen weiteren wohlgeborenen Standesgenossen, die man vom Tisch in die Gruft trug, sagte man den Tod durch Vergiftung nach….
Die Angst, bei des Menschen (zweit)liebster Beschäftigung von ehrgeizigen Verwandten, rachgierigen Rivalen oder sonst Übelgesinnten aus dem Weg geschafft zu werden, trieb die Mächtigen dieser Welt seit jeher um. Und die größte Gefahr lauerte nun mal bei Tisch, denn erstens ließ sich Essen nicht dauerhaft vermeiden (ohne letztendlich beim selben Ergebnis wie bei einer zünftigen Vergiftung zu landen), noch konnte an Orten luxuriösen Speisens, wie es Fürstensitze waren, verhindert werden, dass die zart gebratene Hammelkeule und der funkelnde Wein durch zahlreiche verdächtige Hände gingen, bevor sie auf der Tafel des Herrschers ankamen – so viele Stationen, so viele Risiken….
Clever löste der pontische König Mithridates IV. im letzten vorchristlichen Jahrhundert das Problem durch „Mithridatisation“ (Achtung: Gift für die Zunge!): Indem er sich langsam, aber stetig an immer größere Giftrationen gewöhnte, konnte er schließlich – gesundheitlich angeschlagen, aber sorglos – reinhauen (und musste sich nach seiner Niederlage gegen die Römer dann von einem simplen Sklaven erdolchen lassen, weil der vornehmere Schierlingsbecher nichts mehr half…).
Weniger an homöopathischen Experimenten interessiert waren die Machthaber in Mittelalter und Früher Neuzeit, da machten auch die Wittelsbacher in Kurpfalz wie Bayern keine Ausnahme: Sie setzten vorzugsweise auf Naturwissenschaft und Magie bzw. die Grenzbereiche dieser nicht immer scharf getrennten Disziplinen. Stets griffbereit standen auf der wohl ausgestatteten Fürstentafel kostbare Gift-Detektoren: In Gold gefasste Korallen oder versteinerte Haifischzähne, die sogenannten Natternzungen. Als Körperreste giftspeiender Wunderwesen gedeutet, glaubte man, dass sie sich in der Nähe gefährlicher Substanzen verfärbten – sozusagen aus Sympathie. Ähnlich funktionieren die geheimnisvollen „Bezoare“ – unverdaute Klumpen aus Haar und Pflanzenfasern, die sich in den Eingeweiden von Schafen und Ziegen bilden. In der Schatzkammer der Residenz finden sich heute noch fünf dieser versteinerten Unappetitlichkeiten, die von verschiedenen Höfen, zum Teil mit den pfälzischen Wittelsbachern, zum Teil mit den diversen Habsburger Bräuten der Kurfürsten, nach München gelangten.
Mehr oder minder eiförmig und in unterschiedlicher Größe, zum Aufstellen auf der Tafel oder als Anhänger für den Gürtel, sind die bräunlichen Klumpen mit Spangen aus Goldfiligran und Email kunstvoll gefasst. Ob sie geholfen haben? Der Verdacht auf Vergiftung wurde bei den häufigen, oft plötzlichen Todesfällen in Adelskreisen im 16. und 17. Jahrhundert gewohnheitsmäßig geäußert, auch in München – allerdings nie so vehement, wie an den feinen Höfen von Frankreich oder Italien, wo die internationalen Profis gifteten – mit Chemikalien ebenso wie mit der Schreibfeder….
Neben Magie bewährte sich das Stellvertreterprinzip, d. h. die schon in der Antike lebendige Tradition des Vorkostens – ein klassischer Risikojob ohne Anspruch auf Berufsunfähigkeitsversicherung: Vor der Darreichung wurden Speise und Getränke probiert, und wenn nach einer Anstandssekunde der Diener nicht blau anlief, durfte serviert werden. „Und wenn man langsam wirkendes Gift verwendet ??“ Eine kluge Frage aus dem Chemiebaukasten und organisatorisch schwer zu lösen, wenn nicht dauerhaft kalte Küche Tagesordnung sein sollte. So kam es wohl, dass, trotz ihrem Vorrat an emailliertem Schafs-Glibber, die aufgeklärten Monarchen spätestens in der Frühen Neuzeit ihren mehr oder minder effizienten Schutzmaßnahmen gegen Giftmord eine immer stärker zeremonielle, das heißt mehr zeichenhafte als konkrete Bedeutung zumaßen: Deutlich wird dies an dem Ritual des „Kredenzens“, das dem Auftischen der fürstlichen Speisen voranging und bis ins 18. Jahrhundert hinein befolgt wurde. Die Ableitung des Begriffs, der sowohl die Handlung wie die benötigten Utensilien bezeichnet, vom lateinischen „credere“ – „vertrauen“ weist auf den ursprünglichen Kern hin: Die traditionelle Speiseprobe.
Julius Bernhard von Rohr, ein bekannter Fachmann für Zeremonialfragen, beschrieb den Lesern seines dickleibigen Kompendiums den noch um 1730 typischen Ablauf „Es nimmt der Vorschneider ein Stücken lockeres Brot, so an einer langen Gabel steckt und fährt damit über alle Schüsseln und Speisen …ein Offiziant, der neben dem Vorschneider steht, deckt alle Schüsseln auf und zeigt sie dem Fürsten. Zu welchen er nun Belieben trägt, die werden kredenzt und bleiben auf der Tafel stehen. […] Diejenigen, so die Speisen kredenzet, müssen gemeiniglich das Brot hernach essen …“
Um eine Vergiftung von Tellern und Speisen zu erkennen war das Abtupfen der eventuell kontaminierten Oberflächen mit Brot wohl eher ungeeignet. Jedoch stellte das vor aller Augen durchgeführte Ritual den fürstlichen Esser, für den allein dieser Aufwand betrieben wurde, in seiner sozialen Bedeutung heraus, womit ein anderes wichtiges Anliegen weitaus effizienter erfüllt werden konnte. Genauso zeremoniös ging es übrigens beim herrschaftlichen Durstlöschen zu: Ursprünglich spritzte man beim Befüllen des Glases ein paar Probetropen auf eine silberne Platte, um die Giftprobe vorzunehmen. Dieses Tablett auf kurzem Standfuß wird daher noch heute als „Kredenz“ bezeichnet und ist in stets wechselnder Form- und Materialvielfalt in zig-facher Ausführung in der Silberkammer des Residenzmuseums zu bestaunen.
Das vom Mundschenk befüllte und feierlich auf der Kredenz abgestellte Glas wurde laut Julius Bernhard von Rohr vom Kammerjunker dem Kammerherrn gebracht, von diesem dann an den Oberkammerherrn oder Oberhofmarschall weitergegeben, bis der Wein schließlich dem Herrscher dargereicht oder eben „kredenzt“ werden konnte. Angesichts dieses Bäumchen-wechsel-Dich scheint es kein Wunder, dass die bayerischen Kurfürsten durch die Bank die offiziellen Hoftafeln so selten wie möglich abzuhalten versuchten und stattdessen das informellere „Speisen auf der Serviette“ im Vorzimmer ihres Appartements vorzogen – mit weniger Kredenz und Grandezza, dafür aber mit mehr Appetit. Und wenn es nach der Schmauserei dann nachts im Magen rumpelt? – es wird ja nicht gleich eine Vergiftung sein….