„We love to entertain you“ – ob diese markige Versicherung der modernen Unterhaltungsindustrie auch für den kleinen Hund auf unserem Titelbild gilt? Unwürdig für einen Vierbeiner muss er auf den Hinterpfoten zu einer Musik herumhopsen, die man sich nur schräg und improvisiert imaginieren kann. Der Gipfel ist natürlich die Kostümierung: Wenn es wenigstens die schicken Stiefel des „Maître Chat“ aus Charles Perraults Kater-Märchen wären! Aber das von Rüschen starrende Puppenkleid über ausgestellten Reifrock war wohl ursprünglich eher für eine Puppe und nicht für eine stolze Promenandenmischung bestimmt! Wenigstens geht das kindliche Publikum, das den kleinen Tänzer und seinen gleichfalls jugendlichen Impresario umsteht, voll mit – wenn der Beifall auch fragil klingt: Den „Le chien qui danse“ und seine Bewunderer sind aus zerbrechlichem Biskuit-Porzellan gefertigt!
Sie sind Teil einer ganzen Reihe ähnlicher Kindergruppen und Einzelfiguren, die Mitte des 18. Jahrhunderts in dem Pariser Vorort Sèvres entstanden, wo sich seit 1756 die Werkstätten der zuvor in Vincennes ansässigen Porzellanmanufaktur der französischen Krone befanden. Bekannt sind die drolligen Figuren als Boucher- oder Falconet-Kinder, benannt nach den Künstlern, die ab 1752 Vorlagen und Modelle für die kleinen Kerlchen schufen, die an die balgenden Putten bayerischer Barockkirchen erinnern (ohne Flügel): Dem vom französischen Hof hoch geschätzten Maler François Boucher (1703–1770), berühmt für die cremige, rokokokokette Erotik seiner stets halb- bis dreiviertelnackten Nymphen, und dem Bildhauer Étienne Maurice Falconet (1716–1791), der für so illustre Auftraggeberinnen wie Zarin Katharina II. arbeitete.
In den 1750er/60er Jahren bildeten die „enfants Boucher“ einen Verkaufsschlager des Sèvres-Sortiments. Nicht nur die Motive, auch die matt-weiße Oberfläche, die an kostbaren, fragil gemeißelten Alabaster erinnert, begeisterte das Publikum: Die Herstellung von Biskuit-Porzellan, das auf die Glasur verzichtet, die üblicherweise die feineren Details der Modellierung überdeckt, war eine Spezialität der französischen Manufaktur. Hilfreich wirkte sich auch aus, dass zu den ersten und eifrigsten Bestellern der König selbst, Ludwig XV., zählte, bzw. seine nicht nur in Kunstfragen bessere Hälfte, Madame de Pompadour.
Diese wohl berühmteste und in kulturellen Fragen ambitionierteste der zahlreichen Mätressen des fünfzehnten Ludwigs (Beiname: Bien-Aimé, der „Vielgeliebte“) förderte nicht nur Boucher wie Falconet, sondern war auch eine engagierte Mäzenin der französischen Porzellanproduktion. Diese hoffte sie mit ehrgeizigen Aufträgen gegenüber der europäischen Konkurrenz, namentlich der sächsischen Manufaktur in Meißen, aufzubauen.
Ihren Platz fanden die Boucher-Kinder im 18. Jahrhundert auf dem festlich geschmückten Speisetisch und zwar beim Dessert, bei dem man an Stelle von Silber Porzellan aufdeckte. Auch die verspielte Truppe, die sich heute in der Sammlung des Residenzmuseums befindet (vervollständigt um eine Dauerleihgabe der freundlichen Kollegen aus dem Bayerischen Nationalmuseum), diente als plastischer Tafelschmuck.
Zusammen mit einem wundervoll und detailreich bemalten Service bildeten sie Teile eines diplomatischen Geschenks, mit dem im Jahr 1760 Ludwig XV. den pfälzischen Kurfürsten Karl Theodor zu beindrucken gedachte. Als Karl Theodor 1777 seinem kinderlos verstorbenen Verwandten Max III. Joseph auf dem bayerischen Kurfürstenstuhl nachfolgte und (übrigens schweren Herzens) seine Residenz von Mannheim nach München verlegte, wanderte auch das französische Sèvres-Service samt kindlicher Dessert-Dekoration mit nach Bayern.
Besonders schön lässt sich an den kleine Porzellangruppen der Übergang von der repräsentativen, mit Symbolen und Sinnbildern aufgeladenen Kunst des Barock zur leichteren, intimeren Ästhetik des Rokoko nachvollziehen, die Privates und Psychologisches in einem fast schon modernen Sinne mit einbezieht: Bilden die in Lumpen gehüllten Straßenkinder doch eine amüsante Alternative zu den antiken Göttern und den pompösen allegorischen Darstellungen, die sonst den üblichen plastischen Tafelschmuck (namentlich während der staatstragenden Gala-Diners der Mächtigen) bildeten. Diesen gegenüber bringen die für Karl Theodor ausgewählten Kindergruppen – es sind außer dem Ausdruckstanz des kleinen Straßenköters noch Jungs und Mädchen, die sich um eine Art Glücksrad versammeln, sowie ein Pärchen, die eine Laterna Magica testen – einen Hauch Lebenswirklichkeit auf die Fürstentafel.
Allerdings wirklich nur einen Hauch: Denn tatsächlich wimmelte es auf den französischen Dorfjahrmärkten und in den Pariser Straßen des 18. Jahrhunderts von kindlichen Schaustellern und Händlern wie unserem kleinen Kringelverkäufer, der einem Mädchen sein süßes Gebäck anbietet. Aber spaßig oder ungefährlich, wie man es sich wohl beim fürstlichen Schmaus am warmen Kamin vorstellte, ist die Jugend dieser minderjährigen, unterernährten „Crieurs“ und Bettelkinder natürlich keinesfalls gewesen.
So erstaunt es kaum, dass die Vorbilder für die Porzellanfiguren nicht „aus dem Leben“ gegriffen wurden: Für die an Karl Theodor versandte Kinder-Serie inspierierte sich Falconet vielmehr an einem Gemälde, das der Kollege Boucher seinerseits als Vorlage für einen prachtvollen Bildteppich geschaffen hatte: Dieser „Karton“ (Tappisserie-Entwurf) für die berühmte Bildteppich-Manufaktur Beauvais zeigte einen ländlichen Jahrmarkt, auf dem Kinder und Erwachsene allerlei Attraktionen voller Neugier besichtigen, weshalb das Bild auch unter dem Titel „La Curiosité“ bekannt wurde. Aus diesem imaginierten Rummelplatz löste Falconet die Hauptgruppen heraus, setzte sie in dreidimensionale Plastiken um und ergänzte sie mit anderen pastoralen und bäuerlichen Kinderdarstellungen aus weiteren Zeichnungen und Stichserien Bouchers. Als Idealisierung des einfachen Lebens, garniert mit dem Aroma kindlicher Unschuld, sprachen diese Motive die modischen und sentimentalen Vorlieben der höfischen Gesellschaft an, die den Idealen der Aufklärung zuneigte – und sie schleunigst trivialisierte. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Allgegenwärtigkeit unserer „Enfants Boucher“ – diese tauchen in der Residenz nämlich noch einmal auf: Auf den Bezügen der Stühle, die 1770/75 ursprünglich für das Pariser Stadtpalais des Herzogs von Zweibrücken, eines großen Freunds der Pompadour und Onkels des ersten bayerischen Königs, gefertigt wurden!
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