26. April 1591 – eine trübe Morgensonne beleuchtet skeptisch ein befremdliches Schauspiel auf dem Münchner Weinmarkt: Hier ist in der Nacht zuvor ein hoher, signalrot angestrichener Galgen errichtet worden. Am Querbalken schlenkert an diesem windigen Vormittag aber nicht das übliche Henkersseil aus gräulichem Hanf – sondern die gedrehte Schlinge schimmert und gleißt wie ein kostbares Halsband, denn geschickte Hände haben sie rundum mit dünnem Blattgold überzogen! Ein paar Schritte neben diesem makaberen Glanzstück der Henkerskunst „for show“ ist noch eine weitere Richtstätte aufgebaut: ein herkömmliches Schafott, darauf der noch leere „Blutstuhl“, an den der verurteilte Deliquent vor seiner Enthauptung gefesselt wird. Und er, der hier in wenigen Augenblicken Platz nehmen soll, nähert sich nun in der Enfernung, umbrandet vom zunehmenden Getöse der schau- und spottlustigen Menge, begleitet von zwei eifrig auf ihn einredenden Jesuiten-Patern und umringt von einer Hundertschaft Wachen sowie zahlreichen Amtspersonen des herzoglichen Hofes.
Gekleidet ist der Verurteilte in den Farben des Hauses Wittelsbach – Weiß und Blau -, wohl, um den Gaffern den tiefen Fall vor Augen zu führen, den der nahende Todeskandidat getan hat: vom Günstling des regierenden Herzogs Wilhelm V. (1548-1626) zum entehrten Verbrecher. Der Mann ist Marco Bragadino – der betrügerische Goldmacher!
Bevor es zu seinem spektakulären Karriere-Absturz in der bayerischen Hauptstadt kam, hat der seinerzeit weithin gerühmte „welsche Alchemyst“ Bragadino, der ca. 1545 als Marc Antonio Mamugna auf Cypern geboren wurde, einen nicht weniger atemberaubenden Aufstieg erlebt. Leider ist über seine Anfänge nicht viel bekannt – eine tollkühne Phantasie, brennender Ehrgeiz und immer wieder erprobtes Charisma müssen aber schon den Jungen ausgezeichnet haben, der nach der Eroberung seiner Heimatinsel durch die Osmanen (1570/71) mit der Familie floh und Asyl suchte im Gebiet der Seerepublik Venedig, der einst mächtigen, nun zunehmend hilflosen Schutzmacht Cyperns. Wohl schon damals benannte sich der junge Mamugna – bereits früh auf glamouröse Außenwirkung bedacht – wohltönend um in „Bragadino“: nach dem heldenhaften, wiewohl erfolglosen Verteidiger Cyperns aus altem venezianischem Adelsgeschlecht.
Wann sich der spätere Goldmacher das nötige alchemistisch-taschenspielerische Rüstzeug für seine kommende Laufbahn angeeignet hat, bleibt letztlich im Dunkeln. Vielleicht vervollkommnete er sich theoretisch und praktisch in den Bibliotheken des römischen Kapuzinerordens. In diesen trat Bragadino recht improvisiert 1586 ein, um hartnäckigen Gläubigern zu entkommen, verließ seine frommeren Mitbrüder allerdings schon wieder zwei Jahre später ebenso fluchtartig wie unerlaubt.
Doch bereits zuvor war es dem geschickten Schlawiner gelungen, sich den Ruf eines vermeintlichen Hüters des Lapis philosophorum, des „Steins der Weisen“, zu verschaffen – er verkaufte sich also als genialer Naturkundiger, dem es gelungen sei, die geheimnisvoll-mystische Substanz zu erzeugen, die unedle Materie in die edelste, in Gold, verwandeln könne. Gleichermaßen leichtgläubige wie geldbedürftige Opfer, die man mit Hoffnung auf künftigen, synthetisch erzeugten Goldregen verleiten konnte, den tüchtigen Alchemisten kostspielig vorzufinanzieren, gab es zuhauf – besonders unter der notorisch klammen Hocharistokratie.
Den Anfang einer langen Reihe zahlungswilliger Bragadino-Fans machten Francesco I. de‘ Medici, der jeglicher Form von Alchemie und Esoterik zugängliche Großherzog der Toskana, sowie seine skandalumwitterte zweite Frau Bianca Capello (die beide gemeinsam 1587 unter ungeklärten Umständen sterben sollten – vermutlich an einer Arsenvergiftung). Im Anschluss wurde der überschuldete Herzog von Mantua (mit seiner dennoch unverschämt locker sitzenden Geldbörse) gründlichst gemolken. 1589 folgte schließlich die Berufung durch den ehrwürdigen „Rat der Zehn“, das zentrale Regierungsorgan Venedigs – Bragadinos zweiter, seiner Herzensheimat.
Die venezianischen Nobili, Erben einer großen Vergangenheit und jahrhundertelanger Kaufmannsschläue, hielten sich besonders auf letzteres einiges zu Gute. Sie ließen sich daher vorab die geheimnisvollen Expermimente demonstrieren, die sie kostspielig finanzieren sollten. Erfolgreich: Nach Erhitzung mehrerer Pfund Quecksilber (das dem flüchtigen Gott Mercurius geweihte Allheilmittel frühneuzeitlicher Alchemie), jeder Menge Hokuspokus samt farbigem Rauch sowie einem „Ave“ und „Pater noster“ zur Beruhigung, vor allem aber nach Zugabe eines geheimnisvollen Pulvers schimmerte tatsächlich ein Klümpchen Gold in Bragadinos Tiegel – wiewohl ziemlich klein und nicht ganz rein (eigentlich eher eine herkömmliche Münzlegierung…). Den genauen Taschenspielertrick, mit dem der Scharlatan bei dieser und anderen Gelegenheiten vorbereitetes Gold vorab in sein Gemisch einschmuggelte, hat Bragadino mit in den Tod genommen. Von Folter bedroht „gestand“ er später nur, dass seine Goldmacherei bloße Fingerfertigkeit („destrezza di mano“) gewesen sei, die mit der erfolgreichen Ablenkung der Zuschauer stand und fiel. Spätere Chronisten haben Komplizen ins Spiel gebracht: eingeweihte Apotheker, die kleine, mit Wachs und Farbe als Mineralien getarnte Goldportionen jeweils als benötigte Ingredienzien verkauft hätten, die so unentdeckt in die Retorten gewandert seien. Psychologisch entscheidend war jedenfalls, dass der lebenskluge Alchemist sein Zauberpulver als Produkt der sogenannten „Multiplikation“ anpries: Demzufolge vervielfachte sich das einmal angemischte Mittel, wenn ungestört, durch einen chemisch-magischen Reifeprozess wie Hefeteig innerhalb von 90 Monaten insgesamt drei Mal auf das schließlich Dreißigfache der Ausgangsmenge. Als Beweis seiner uneigennützigen Redlichkeit übergab der großzügige Bragadino den Ratsherren sogar sein Kapital, seinen Gesamtvorrat dieses Gold-Pulvers, in einer sorgsam versiegelten Flasche zur Verwahrung. In einem verschlossenen Schrank in der „Zecca“, der venezianischen Münzanstalt neben dem Dogenpalast, sollten sie die Mixtur friedlich vor sich hin multiplizieren lassen.
Es war ein Spiel auf Zeit, und es zog. Denn der „Consiglio dei Dieci“ war zwar nicht besonders firm in Chemie, sehr wohl aber zu Bragadinos Glück im Kopfrechnen. Die Hoffnung, eine ungeschmälerte Menge von erpobtem „Lapis philosophorum“ mit genügend Geduld in knapp sieben Jahren maximal zu vermehren, ließ den Preis gerechtfertigt erscheinen – nämlich dem Besitzer der Flasche und des Geheimnisses bis dahin einen luxuriösen Lebensstil zu ermöglichen.
Dennoch: ein paar einflussreiche Skeptiker müssen auf dem schwankenden Boden der ins Wasser gebauten Stadt verblieben sein, notorische Besserwisser, die beispielsweise nachhakten, warum ein erfolgreicher Goldmacher aus Angst vor dem Schuldgefängnis ins Kloster habe eintreten müssen? Trotz zahlreicher Jünger und Gönner unter den Nobili wurde daher die Lage für Bragadino mit der Zeit (und mit seinen stetig steigenden Lebenshaltungskosten) zunehmend ungemütlich. Da öffnete sich ein eleganter Ausweg – in Form einer Berufung an den Hof des bankrotten Bayernherzogs Wilhelm V.! Zügig ließt der offizielle Alchemist der Seerepublik daraufhin seine kostbare Flasche im Schrank der Zecca im Stich und machte sich im Sommer 1590 mit zwei Dutzend Dienern, mit kostbaren Pferden und Jagdhunden, seinem Sekretär und seiner vielbewunderten Mätresse Donna Laura auf den Weg – über die unwirtlichen Alpen ins kalte, ins unbekannte Bavaria.
Szenenwechsel: Vom Ufer der Adria ins biedere Landshut, wo der 1579 zur Herrschaft gelangte Wilhelm V. schon als Erbprinz versucht hatte, die altertümliche Burg Trausnitz in einen modernen Renaissancehof italienischen Zuschnitts zu verwandeln – dies mit Erfolg und unter hohen Kosten. Chronische Überschuldung war ein Dauerzustand bei den kunst- und musikbegeisterten Wittelsbachern des 16. Jh. mit ihren enormen Luxus- und Repräsentationsansprüchen, die die herzoglichen Einkünfte regelmäßig um ein vielfaches überstiegen. Ende der 1580er Jahre hatte die Finanzsituation aber mittlerweile bedrohlichste Ausmaße angenommen, die den Herzog inzwischen selbst vor Unterschlagungen nicht zurückschrecken ließen. Von Bragadino erhoffte sich der verzeifelte Wilhelm, der bereits erfolglos mit heimischen Alchemisten herumexperimentiert hatte, zweierlei: Gold, um einfach, ohne peinsame Selbstbeschränkung, seine Schulden loszuwerden und seine aufwendige Hofhaltung weiterführen zu können. Zum anderen Heilung seiner durch die Hofärzte nicht weiter spezifizierten „Melancholey“, die mit chronischen, mirgräneartigen Kopfschmerzen einherging. Solche Hoffnung auf gleichermaßen finanzielle und physische Therapie versprach der „Stein der Weisen“, galt dieser doch als irdische Manifestation reinster und edelster Geistmaterie samt deren universalen Kräften: Goldvermehrung war nur seine profanste, von den Eingeweihten fast schon verachtete Eigenschaft. Der „Stein“ verhalf auch zu Gesundheit und – vielleicht – Unsterblichkeit.
In dieser ganzheitlichen Vorstellung liegt rückblickend eine eigentümliche Schönheit und gedankliche Konsequenz. Es ist billig, aus heutiger Sicht die frühneuzeitliche Alchemie als Klamauk und ihre – zahlreichen – Anhänger nachträglich als Trottel zu verallgemeinern. Es handelte sich im Kern um frühe Naturwissenschaft auf der Höhe ihrer Zeit, die alle der Epoche zugänglichen Erkenntnisse zu verwerten suchte und in ein bestehendes Weltbild einband. Der (vielleicht mit zu viel Geheimniskrämerei übertünchte) geistige Überbau deutete die chemische Mischung, stufenweise Reinigung und finale Veredelung der verschiedenen Stofflichkeiten letztlich als großes Sinnbild, als Übertragung philosophischer Ideale in die irdische Realität, und führte dabei antikes wie christliches Gedankengut in einer originellen Synthese zusammen. Aber klar, es stimmt: Die Alchemie bot zu allen Zeiten auch jede Menge Nischen für krude Theorien, für chemische Experimente mit letalem Augang und Explosionschäden – und für Scharlatane wie Bragadino, der nun in Landshut und bald auch in der Hauptresidenz München zu einem weiteren großen, allerdings finalen Coup Anlauf nahm.
Der Start verlief vielversprechend – Bragadino muss im persönlichen Umgang eine enorme Ausstrahlung und Überzeugungskraft besessen haben, der nach vielen Vorläufern nun auch der melancholische Wilhelm verfiel. „Ich befinde mich bei diesem Fürsten von Bayern […] der mich liebt und so sehr meine völlige Zufriedenheit wünscht, dass ich wirklich sagen kann, ich sei der eigentliche Herr und Gebieter…“ tönt ein triumphierender Brief an die venezianischen Freunde. Obwohl der teuer hergeholte Alchemist erneut nur Kleinstmengen an schlechtem Gold aus seinen Quecksilberbottichen heraufholte, überließ der gläubige Herzog ihm bereitwillig große Summen (alles auf Pump). Solcherart finanziell versorgt, richtete sich Bragadino samt seiner vielköpfigen „Famiglia“ nun in München erneut hochherrschaftlich ein und ließ nebenbei auch mal eben Wein und Delikatessen aus Italien in das kulinarisch unterentwickelte München anliefern – Pistazientorten, Tintenfisch und 50 Pfund genuesisches Feingebäck… Zugleich hatte sich der große Mystagoge ausbedungen, in seiner komplizierten Arbeit nicht mit Termindruck belästigt zu werden – nur in gedanklicher Freiheit ließe sich das kostbare Substrat destillieren, dass einst die bayerischen Schuldenberge vergolden sollte.
Auf die Distanz hingegen verblasste das magische Charisma des Zauberkünstlers anscheinend rasch: Beunruhigende Nachrichten erreichten den Münchner Hof, die ein wenig vetrauenswürdiges Porträt des Neuankömmlings und seiner Fähigkeiten zeichneten. Der Erbprinz Maximilian (I.), die herzoglichen Räte sowie die Ständeversammlung beobachteten das Treiben, bzw. das Nicht-Treiben des fremdländischen Goldmachers zunehmend alarmiert: Maximilian (schon als junger Mann der spätere Pfennigfuchser), weil er seine künftige Regierung vom Staatsbankrott bedroht sah, die Landstände, weil sie aus leidvoller Erfahrung wussten, dass in letzter Konsequenz sie die herzoglichen Schulden würden übernehmen müssen, um die bayerische Kreditwürdigkeit zu erhalten. Auch die Räte sahen sich in einer alptraumhaften Wiederholungsschleife gefangen – hatten sie doch erst wenige Jahre zuvor (1557) in ungewohnt klaren Worten bereits die Verschwendung unter Wilhelms Vater, dem sammelwütigen Albrecht V., tadeln müssen: „Was man [der Herzog] Kostbares, Fremdes, Seltsames sieht, das muss man haben! Zwei oder drei Goldschmiede arbeiten ständig allein für den Fürsten, was sie in einem Jahr fertigen, wird im nächsten zerbrochen oder versetzt. Die Maler und Kontrafetter [Porträtisten] kommen fast das ganze Jahr nicht aus der Neuen Vest. Dazu die Bildschnitzer, Dreher, Steinmetzen…“
Klar, dass solchen phantasielosen Amtsschimmeln die goldenen Visionen, die Bragadino seinen Gläubigen vorzauberte, nicht aufgingen. Und das bedeutete das Ende des Alchemisten: Ein gutes halbes Jahr nach seiner Ankunft im Herzogtum kam es zu einer Art kleinen Palastrevolution: Am 24. März 1591 wurde Bragadino auf Betreiben der Räte und der Stände unter Anklage des Betrugs gefangengesetzt – ohne Wissen Wilhelms, der erst tags darauf schockiert von den „unversehenen Sachen“ „den Bragadin betreffend“ erfuhr. Vor vollendete Tatsachen gestellt und konfrontiert mit der gesammelten Oppostion scheint der Herzog dann jedoch rasch „eingeknickt“ zu sein und die schützende Hand von seinem Günstling abgezogen zu haben. Nun nahm der Prozess gegen den inhaftierten Goldmacher rasch an Fahrt auf. Das (für das Herrscherhaus ja überaus peinliche) Verfahren scheint sogar sehr hastig und formlos, unter verdächtigem Verzicht auf relevanten Aktenausstoß abgelaufen zu sein. Ironischerweise rettete Bragadinos formell niemals widerufener Stand als Geistlicher den Betrüger zumindest vor Anwendung der Folter – und vor dem unehrenhaften Tod am Galgen.
Dieser wurde nur zum Zeichen seiner Vergehen aufgerichtet, während die Richter ihn zur öffentlichen Enthauptung durch das dem Adel vorbehaltene Schwert verurteilten. Inwieweit sich dieses Privileg in den letzten Augenblicken des großen Abenteurers als Erleichterung erwies, bleibt allerdings fraglich, denn der eigens aus Landshut herbeizitierte Henker erwies sich als „Fehlschlag“ im makabersten Wortsinne: Statt des Halses hackte der Stümper seinem Opfer zuerst die halbe Hirnschale ab und brauchte dann noch entsetzliche zwei weitere Hiebe, um den Kopf des Goldmachers samt seinen Geheimnissen schließlich vom Körper zu trennen. Dass Bragadino in seinen letzten Momenten einem Scharlatan aufsitzen musste, der, gleich ihm, in professioneller Hinsicht mehr versprach, als er halten konnte, gibt dieser romanhaften Episode bayerischer Landesgeschichte eine Art moralischer (Talmi-)Vergoldung!