Wer heute den 1826/35 unter Ludwig I. (reg. 1825-1848) errichteten Königsbau der Residenz München durchstreift, dem fällt als erstes meist die komplette Bemalung der Wände auf, welche die aneinander angrenzenden Wohnungen Ludwigs I. und seiner Gemahlin Therese von den älteren Appartements unseres Schlosses unterscheidet. Nach einem zunächst unbestimmten, dann aber rasch immer weiter ausgeklügelten Bildprogramm wurden hier die Werke vorbildlicher antiker Dichter sowie zeitgenössischer deutscher Autoren dargestellt.
Bis dahin waren als Bildschmuck fürstlicher Repräsentationsräume meist rätselhafte gemalte Allegorien üblich gewesen, die den Herrscher verherrlichten. Im neuen Königsbau hingegen sollten dem Betrachter anhand allgemein bekannter und beliebter Bildthemen deutsche Kunstleistungen als Erbe und Erneuerung der vorbildlichen Antike vorgeführt und letztlich die Wittelsbacher als Förderer dieser Kulturblüte gefeiert werden.
In den Gemächern der Königin standen vorrangig die viel gelesenen deutschen Dichter des 18. und frühen 19. Jh. im Fokus der Maler. Dies gilt auch für einen zentralen Raum ihres Appartements: den weitläufigen Salon. Als „Gesellschaftszimmer“ liegt er zwischen dem goldstarrenden Thronsaal und dem gleichfalls zeremoniell instrumentierten Schlafgemach. Dieser Ort der Begegnung und des Gesprächs mit seinen vielen Sitzgelegenheiten und dem bezeichnenderweise runden Tisch, an dem alle gleichberechtigt Platz finden sollten, ist den humorvollen, ironisch gefärbten Dichtungen von Christoph Martin Wieland (1733-1813) gewidmet.
Als Literat zwischen den Epochen der Aufklärung und der Romantik lässt sich Wieland schwer mit einem Etikett versehen: Er ist einerseits „Weimaraner“, gehört also zu dem erlauchten Kreis der „Deutschen Klassiker“ um Goethe, Schiller und Herder, wird hier aber gern mal als „Leichtgewicht“ gewertet. Denn „Weimar“ und „Goethezeit“, das ist für viele: Ernst, Würde, Antike, Apollo in Gips und „Iphigenie“ in Jamben. Wielands Wurzeln aber stecken tief in der spielerischen, oft explizit freizügigen Rokoko-Ästhetik des 18. Jh. und er hat sie nicht verleugnet, während seine olympischen Dichterkollegen ihre kapriziösen Jugendverse voll „Venus“ und „Grazien“ später mal gern gravitätisch weg hexametern.
Besonders gut greifbar wird das Wieland’sche Rokoko in klassischem Gewand in seiner Verserzählung „Musarion“ (veröffentlicht 1768), die als Vorlage für die Wandmalereien der Münchner Salon-Wände diente: Hier steht das erotische Geplänkel, aber echte Gefühl zwischen der hübschen Musarion und ihrem verkopften Galan Phanias den Doktrinen zweier selbsternannter Philosophen gegenüber, die zwar ernste moralische Ideale predigen, sie aber nicht leben.
Dieses Wandern zwischen den Welten, das Wieland als Schöpfer der literarischen Vorlagen charakterisiert, kennzeichnet auch die malerische Interpretation seines Werks an den Wänden des Königsbaus: Denn spannend an der Ausmalung des Salons ist, dass hier zwei wesentliche geistige Strömungen oder künstlerische Konzepte des frühen 19. Jh. – Klassizismus und Romantik – nebeneinander stehen bzw. eine Verbindung eingehen. Verkürzt werden die beiden Bewegungen gern als „feindliche Brüder“ interpretiert: Hier das Ideal der Antike, die Vorbildlichkeit von Athen und Rom, dort die Begeisterung für das christliche Mittelalter und die gotischen Dome; Internationalität gegen nationale Begeisterung; griechische Mythologie gegen germanische Sagen samt Grimm’scher Märchenwelt, usw.
Wie üblich erweisen sich die Zusammenhänge bei genauerem Hinsehen als komplexer, und man gewinnt den Eindruck, es handelt sich eher um zwei Seiten der gleichen Medaille: Denn häufig hing die Entscheidung, ob eine künstlerische Aufgabe im romantischen oder klassizistischen Geiste gelöst wurde, vom funktionalen oder ideellen Kontext ab. Ludwig I. der als Kunstmäzen sowohl „Klassizisten“ wie „Romantiker“ mit Aufträgen bedachte, ist hier ein gutes Beispiel: Er wollte zwar wie die antiken Cäsaren zwischen korinthischen Säulen wohnen und thronen (Königsbau), mochte zum Gebet aber lieber in einer mittelalterlichen Palast-Kapelle knien (Allerheiligen-Hofkirche) und auf klassizistisch gegliederten Wandflächen seine mittelalterlichen Vorfahren vor pittoresker gotischer Architekturkulisse freskieren lassen (Festsaalbau, Hofgarten).
Klassizistischer Ästhetik sind die unteren Wandbereiche des Königinnen-Salons verpflichtet: Hier versuchte sich der Architekt Leo von Klenze an einer modernen Interpretation altrömischer Dekorationsmalereien. Die konnten in Süditalien, in den ausgegrabenen Vulkanstädten Pompeji und Herculaneum von der internationalen Künstlerschaft begeistert studiert werden. Klenze orientierte sich vor allem am sogenannten „vierten Stil“ (1. Jh.), der sich durch zierliche, wandhohe Scheinarchitekturen mit irrealer Statik und eingehängten „Bildern im Bild“ auszeichnet, wobei der selbstbewusster Architekt Ludwigs I. das antike Vorbild gleich noch etwas klassizistisch „nachkorrigierte“: Die ausgeprägte Symmetrie von Klenzes gemalten Wandgliederungen gibt es in dieser starren Konsequenz bei den original-römischen Vorlagen nicht.
Ungleich bewegter und dynamischer hingegen präsentiert(e) sich weiter oben der durch Kriegszerstörung heute auf drei Wänden stark reduzierte, aber in seinen Hauptkonturen mittlerweile wieder ablesbare Bilderfries. Hier wogt formatfüllend ein wildes, ziemlich unübersichtliches Gewimmel, das in erkennbarem Gegensatz zu den ordentlich gerahmten Bildfeldern der unteren Wandflächen mit ihren wenigen Bildfiguren steht. Denn auch hier orientieren sich die künstlerischen Mittel an der literarischen Vorlage: Während „Musarion“ ein antikes Kammerspiel vor antikem Hintergrund ist, zeigt der Fries das bis heute bekannteste Werk Wielands, das ironische Märchen-Epos „Oberon“: Dessen zwölf Gesänge zeichnen sich durch ein ebenso pittoreskes wie reichhaltiges Handlungspersonal aus. In kurzer Zeit passiert sehr viel und das an stets wechselnden Schauplätzen – am mittelalterlichen Hof Karls des Großen, in einem Orient aus 1001 Nacht sowie im Reich der Feen, das der knabenhafte Elfenkönig Oberon regiert.
Vor allem aber ist der „Oberon“ wie gesagt ein (wiewohl recht kurzes) „Epos“. Er gehört also zu einer Literaturgattung, die sich durch das gleichwertige Nebeneinander zahlreicher Handlungsstränge auszeichnet, die vielfach untereinander verknüpft sind und einander voraussetzen. Rückbezüge und Vorverweise, Spiegelungen und inszenierte Gegensätze gehören zu den künstlerischen Mitteln dieser „episch“ langen Erzähl-Gedichte, die stets einem heroischen Thema gewidmet sind, das mit viel magischer und göttlicher Hilfe bewältigt wird. Wir kennen das heute besser aus den modernen Filmreihen der „Marvel-Superhelden“ und ihrem für Neueinsteiger unübersichtlichen Comic-Kosmos. Auch unser gemalte Figurenfries erinnert an einen fortlaufenden Comic-Strip: In einem kontinuierlichen Erzählfluss ineinander geschobener Bildszenen treten die Protagonisten an jeder Wand mehrfach auf, was der verwickelten literarischen Vorlage kongenial angemessen ist.
Richtig Spaß macht es allerdings erst, wenn man in etwa weiß, worum es geht. Leider entziehen sich Epen meist einer stringenten Nacherzählung, die gern scheitert an dem ständigen: „Ups, was ich vorhin vergessen habe…“, „Ach so, muss man noch wissen: Bevor das passierte, hat der ʽXʼ – also der, der vorher mit der ʽYʼ liiert war,…“, „Nein! – der andere ʽXʼ, der mit dem Zauberschwert, hab‘ ich doch am Anfang erklärt!!“.
Klar, dass wir es für unsere Besucher*innen trotzdem versuchen – hier also die bebilderte Kurzfassung von Wielands „Oberon“:
Der Ritter Hüon von Bordeaux tötet im Kampf den unsympathischen Scharlot. Leider ist der ein Sohn seines Lehnsherrn, Kaiser Karls des Großen. Dieser verdonnert Hüon zur (Todes)Strafe, nach Bagdad zu reiten, den Sitznachbarn des Kalifen zu enthaupten, die Kalifentochter zu küssen und den Kalifen selbst um vier Backenzähne nebst Bart zu erleichtern (1). Mental und dental gleich schwierig. Aber Hüon macht sich auf den Weg und trifft im Libanon erst Mal einen Helfer, seinen verschollenen Diener Scherasmin, der im Folgenden den lustig-schlauen Side-Kick spielt (denn Hüon ist zwar ein Held, aber nicht sehr helle…). Nun erscheint auch noch der kleine Elfenkönig Oberon im Panther-Wagen auf der Bühne (2). Der hat privat gerade viel Stress, weil Liebesstreit mit seiner Gattin, der Fee Titania (eine Konstellation, die man aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ kennt, den Wieland hier genüsslich ausschlachtet): Das zauberhafte Paar will seine marode Beziehung erst kitten, wenn zwei menschliche Liebende gefunden werden, die angesichts aller Anfechtungen treu und (Achtung: Spoiler!!) keusch aneinander festhalten.
Oberon beschließt, hierfür Hüon und die schöne Rezia, die Tochter des Kalifen (siehe oben), ins Rennen zu schicken. Er zeigt die künftigen Liebenden einander im Traum (3) und schenkt Hüon ein Horn mit magischen Kräften. Zwischendurch rettet der Ritter noch dem Prinzen Babekan das Leben, der ihn aber undankbar verhöhnt und beschimpft. Macht aber nix, denn: im Kalifenpalast eingedrungen, stellt unser christlicher Attentäter fest, dass ausgerechnet der fiese Babekan als aufgezwungener Verlobter von Hüons Traum-Liebe Rezia neben dem Kalifen-Schwiegerpapa thront! Also rasch Kopf ab, die konsternierte, frisch entlobte Rezia geküsst und ins Zauberhorn (siehe oben) gestoßen (4): Zu dessen Tönen müssen alle angreifenden Wächter zwanghaft tanzen, was Oberon die Zeit gibt, das Liebespaar in einen Flug-Wagen zu verstauen, Bart und Zähne des Kalifen (siehe oben) draufzupacken und die ganze Chose durch die Luft zu flüchten. Zwischendurch hat sich noch Scherasmin mit Rezias treuer Amme Fatme liiert, damit es schön übersichtlich bleibt.
Zusammen gelangen alle an die Küste, um übers Meer ins Frankenreich heimzukehren (5). Auf dem Schiff missioniert Hüon rasch die reizende Rezia („Er war an Glauben stark/wiewohl an Kenntnis schwach“), die nach der Taufe nun Amanda heißt. Auch sonst kommt man sich näher (6). Sehr schlecht! Denn das Übertreten des Keuschheitsgebots (siehe oben) zerstört Oberons magischen Schutz und es beginnt die Reihe der harten Liebesproben: Sturm zieht auf (7), und das Pärchen als Verursacher wird ins Meer geworfen (8).
Hüon und Rezia/Amanda retten sich aber auf eine einsame Insel, wo sie einen väterlichen Eremiten treffen (9). Zu Dritt leben sie nun ein ländliches Idyll (solche pastorale Zwischenspiele gehören zum Ritter-Epos dazu, wie Marmelade zum Brot). Schließlich stirbt der Ersatzvater, viel betrauert (11). Zwischendurch lernt die schwangere Amanda in der Einsamkeit eine geheimnisvolle Freundin kennen: Es ist die getarnte Feenkönigin Titania (siehe oben), die ihr bei der Geburt beisteht – und das Kind entführt! (10)
Aber keine Zeit für Verzweiflung der jungen Eltern: Piraten landen auf der Insel und rauben Amanda (12). Der verzweifelte Hüon wird bei der Suche nach der Geliebten gleichfalls gefangen und als Sklave an den Sultan von Marokko verkauft. Dort laufen jetzt nach und nach alle Fäden wieder zusammen: Hüon gärtnert traurig im Park des Palastes, Fatme und Scherasmin (ja, wo waren die eigentlich? – längere Geschichte…) sind auch schon vor Ort. Und im Obergeschoss wird Amanda/Rezia vom Sultan, der sie den Piraten abgekauft hat, erotisch bedrängt.
Unten macht sich derweil die vernachlässigte Sultanin an den neuen Gärtnerburschen ran (13). Aber Hüon und Rezia bleiben, obwohl einer den andern für immer verloren glaubt, ihrer Liebe treu. Die Lage spitzt sich zu, als Hüon als vermeintlicher Verführer der Sultanin den Flammentod erleiden soll. Rezia erkennt den Verurteilten, weist den Sultan, der dessen Leben für ihre Liebe schonen will, nochmals zurück und zieht stattdessen vor, gleichfalls den Scheiterhaufen zu besteigen. Hier haben die Proben nun ein Ende: Liebe und Treue (statt Keuschheit!) haben gesiegt und die Ordnung in der Feenwelt wiederhergestellt: Oberon und Titania löschen die Flammen, das Wunderhorn (ja, das gibt‘s jetzt auch wieder…) setzt den Hof des Sultans außer Gefecht (14).
Titania legt Hüon und Rezia ihr wohlbehaltenes Kind in die Arme (15) und mit ihren treuen Dienern werden sie an die Seite Karls des Großen versetzt, der großmütig den toten Schalot (siehe oben) verzeiht und sich an den orientalischen Backenzähnen freut (16) – großes Tableau, Happy End und Applaus!
Sieben Mal hat Wieland seinen „Oberon“ nach der Ersterscheinung 1780 noch überarbeitet, was die Editionsgeschichte ziemlich kompliziert gestaltet. So wild ist es mit der malerischen Interpretation seines Epos im Königsbau nicht. Allerdings sind auch hier um 1835 unterschiedliche, nicht klar geschiedene Künstlerhände beteiligt gewesen. Im Wesentlichen verantwortlich war ein Schüler des Akademiedirektors Peter von Cornelius: Der Maler und Illustrator Eugen Napoleon Neureuther (den pompösen Namen verdankt er seinem Taufpaten Eugène de Beauharnais, dem Schwager Ludwigs I. und Stiefsohn Kaiser Napoleons). Neureuthers vollendeter Fries hat seinerzeit nicht unbedingte Zustimmung gefunden: Ludwig I. selbst hüllte sich in beredtes Schweigen und zeitgenössische Kritiker monierten, der „Oberon“ sei „der Buntheit nicht entgangen“. Allerdings war die kontrastreiche Farbigkeit, die heute auf der am besten erhaltenen Ostwand noch ansatzweise sichtbar wird, wohl auch notwendig, um das Bildgeschehen in großer Höhe lesbar zu halten. Was den Architekten Klenze betrifft, darf man getrost davon ausgehen, dass dem Neureuthers Stilsprache, die seiner eigenen Wandgliederung „aufgepfropft“ wurde, ein ziemlicher Graus war. Es sind aber gerade diese Unausgewogenheiten und Kontraste, die den Oberon-Fries sowie die ganze Ausmalung des Königsbau-Salons bis heute zu einem faszinierenden künstlerischen Zeitdokument aus der ersten Hälfte des 19. Jh. machen!