21. März – der Frühling hat offiziell begonnen! Und der lässt sein „blaues Band“ ganz besonders anmutig flattern, denn seit dem Jahr 2000 wird unter der Schirmherrschaft der UNESCO und der Vereinten Nationen an diesem Datum auch der Welttag der Poesie begangen! Ein Ziel dabei ist, einem Bedeutungsverlust der Poesie in unserer Gegenwart entgegenzutreten, der vor allem im Vergleich zur „guten alten Zeit“ gefühlt wird! Dichtung oder Wahrheit? Immerhin, so wissen die schlaue Wikipedia (und der Literaturwissenschaftler Nikolaus Immer), wurden „damals“, im 19. Jahrhundert, im deutschen Sprachraum noch satte 20.000 Lyriksammlungen veröffentlicht! Einer, der diese Zahl stolz vermehrt hat und sich insofern keine Vorwürfe zu machen braucht, ist der bayerische König Ludwig I. (reg. 1825-1848), der vor, während und nach seiner aktiven Zeit als gekrönter Staatschef beschwingt den Musen folgte.
Tatsächlich kann sich die literarische Produktion des dichtenden Wittelsbachers zahlenmäßig sehen lassen (allein vier bis 1847 publizierte Gedichtsbände!), wiewohl über die Qualität der Erzeugnisse damals wie heute die Meinungen weit auseinandergehen. Auch in der Residenz hat Ludwigs ausdauernder Ritt auf dem wilden Pegasus, dem geflügelten Dichterross, zahlreiche Spuren hinterlassen: Eine für seinen „Festsaalbau“ im Norden der Residenz in Auftrag gegebene Prunk-Uhr zeigt den melancholisch über die Harfe hingegossenen Jung-König Konradin aus dem 13. Jh., aristokratischer Minnesänger, letzter Stauferherrscher und zugleich ein halber Wittelsbacher, der 1268 tragisch auf dem Schafott endete.
Noch als Kronprinz hatte Ludwig dem sangesfrohen Vorfahren 1819/20 gleich ein ganzes fünfaktiges Trauerspiel gewidmet! Im Allerheiligengang der Residenz prangen heute wieder unter den geretteten italienischen Landschaftsdarstellungen von Karl Rottmann Ludwigs eigens verfasste Distichen – vom antiken Vorbild inspirierte Zweizeiler, in denen er die zeitlosen Schönheiten seines ewigen Sehnsuchts-Landes feierte. Und in den nahen Kurfürstenzimmern erinnert die erste, abgelehnte Version einer Büste Wolfgang Amadeus Mozarts an die Versammlung berühmter Köpfe, die Ludwig in seiner „Walhalla“, dem monumentalen Denkmalstempel für die Helden „teutscher Zunge“ bei Regensburg aufstellen ließ und von denen jeder mit einer poetisch knappen Kurzbiographie aus der königlichen Feder bedacht wurde, die als „Walhalla’s Genossen“ 1842 im Druck erschien!
Weniger sichtbar sind die literarischen Vorlieben des Herrschers heutigentags leider dort geblieben, wo sie ursprünglich am offenkundigsten gefeiert wurden – in seinen ehemaligen Wohnräumen im 1826/35 errichteten Königsbau der Residenz: Hier wurden auf Ludwigs ausdrücklichen Wunsch seine Gemächer und die seiner Gemahlin mit weitgehend vollflächig mit Wandmalereien ausgestattet, die poetischen Themen gewidmet waren. Während im Appartement der Königin Werke deutschsprachiger Dichter des Mittelalter, des 18. Jahrhunderts und der eigenen Epoche, also der Spätromantik, zur Darstellung kamen, reservierte Ludwig, der leidenschaftliche Liebhaber des griechischen Altertums und Unterstützer des neuzeitlichen griechischen Freiheitskampfes gegen das Osmanische Reich, seine Gemächer den großen Dichtern der Antike!
Natürlich ging es in dieser aller-opulentesten 1A-Wohnlage der bayerischen Residenzstadt nicht nur um eine möglichst dekorative Wandgestaltung, mit der ein kostspieliger Ankauf weiterer Bilder und Bücher unnötig gemacht werden sollte, sondern um ein kulturpolitisches Statement: Hier sollte Ludwig, der Philhellene, der den freien Griechen nur kurz zuvor (1832) seinen eigenen Sohn Otto als König „überlassen“ hatte, als einzig wahrer Erbe und Bewahrer der bislang unerreichten Kunst und Kultur des Altertums erkennbar werden, der als Mäzen und Initiator zahlloser eigener Kunstprojekte dieses Vorbild für die eigenen Gegenwart fruchtbar zu machen verstünde!
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Anfang der 1830er Jahre ausgemalte Raumflucht schwer zerstört und ein Großteil der wandfesten Malereien ging verloren. Doch ist ihre Gestaltung aus Beschreibungen und dem wenigen erhaltenen historischen Bildmaterial zumindest in Umrissen nachvollziehbar. Da die in Vorzimmer, Repräsentations- und Rückzugsräume gegliederte Wohnung nach den Maßgaben des höfischen Zeremoniells gestaltet war, nahmen Vielfalt und Aufwand des Bilderschmucks von außen nach innen zu. Gleichzeitig sollte die hintereinander, als „Enfilade“ aufgereihte Raumflucht – pädagogisch wertvoll – eine chronologische Entwicklungsgeschichte der griechischen Literatur in Bildern von den Anfängen bis zur höchsten Blüte nacherzählen. Dementsprechend erblickten die von der prunkvollen „Gelben Treppe“ in Ludwigs noble Sphäre hinaufsteigenden Besucher im ersten Vorzimmer des königlichen Appartements entlang der Wände zunächst einen vergleichsweise schlichten unter der Decke verlaufenden Bilderfries in monochromer, stumpfer Farbigkeit.
Seine in knappen Umrissen, ohne Schattenwurf und plastische Modellierung gestalteten und stark stilisierten Bildfiguren zitierten die ebenso sparsame wie ausdrucksstarke Vasenmalerei der griechischen Frühklassik. Die Entwürfe lieferte der von Ludwig und seinem Architekten Klenze gleichermaßen geschätzte Bildhauer Ludwig Schwanthaler. Dargestellt war die Argonautensage, also der Zug des Helden Jason und seiner Kampfesgefährten über das Schwarze Meer hinweg ins ferne Kolchis, um unter vielen Gefahren dort mit Hilfe der Zauberin Medea das goldene Fell eines göttlichen Widders zu entführen. Der Stoff galt als eine der ältesten mythischen Erzählungen Griechenlands, die angeblich der (halb)göttliche Sänger Orpheus, Sohn Apollos und der Muse Kalliope, persönlich in Verse gebracht habe.
Auch das zweite Vorzimmer war den literarischen Anfängen der Griechen gewidmet und zwar den Hymnen des Hesiod, der heute vor allem durch seine „Götterlehre“ bekannt ist. Die wurde im Fries abgespult, während Landesvater Ludwig hingegen für die großen Wandflächen eine Dichtung auswählte, die vielleicht eher Landwirte und Industrielle auf dem Weg zur königlichen Audienz ansprechen sollte: Die Szenen aus den „Erga kai Hemerai“, den „Werken und Tagen“ sind den mythischen Weltaltern der Menschheit gewidmet, die sich nach einer Phase paradiesischer Unschuld die Natur und ihre Reichtümer schrittweise zu eigen macht.
Das dritte Vorzimmer, der „Salon de Service“ (eine Art königliches Sekretariat), war schließlich dem größten der halbmythischen Poeten aus griechischer Frühzeit gewidmet – Homer! Auf den begrenzten Raumflächen wurden allerdings nicht die zwei überbordenden Epen des blinden Sängers, die „Ilias“ und die „Odyssee“, verewigt (für die eine waren die Säle der Münchner Glyptothek, für die andere eine komplette Raumflucht im Festsaalbau zur Ausmalung vorgesehen), sondern Homers kürzere Götterhymnen. Die Vorzeichnungen lieferte Julius Schnorr von Carolsfeld, der ein Stockwerk tiefer seinerseits schon seit mehreren Jahren in Ludwigs Auftrag die fünf großen „Nibelungensäle“ mit einem literarischen Groß-Sujet erster Ordnung freskierte.
Wir schließen hier, denn die Malereien in den hinteren Räumen von Ludwigs Wohnung haben sich besser erhalten als die der zerstörten Vorzimmer und sind nach teilweiser Rekonstruktion zumindest in bescheidenem Umfang heute vor Ort wieder zu besichtigen. Auf dem Weg dorthin quert man damals wie heute den weiß-goldenen Thronsaal des Bayernkönigs, dessen von Schwanthaler entworfenen Wand-Reliefs den Werken des griechischen Festsängers Pindar aus dem 5. Jh. v. Chr. gewidmet sind. Im Zentrum, unter der Decke lehnt Pindar selber lässig im Dichterthron, verehrt von den griechischen Stämmen. Und nicht ganz ohne Absicht ist diese plastische Verherrlichung poetischen Genies direkt über dem purpurnen Baldachin und dem darunter platzierten Thron positioniert, auf dem Ludwig I. bei Empfängen Platz zu nehmen pflegte – der König der Dichter und der dichtende König: Kollegen im Geiste!