Wer in den 2018 eröffneten Etagen der Porzellansammlung des Residenzmuseums den Raum betritt, der den kleinplastischen Werken der kurfpälzischen Manukfaktur Frankenthal gewidmet ist, steht einem ganzen, fragil und zartfarbig gestimmten Miniaturkosmos eleganter Figürchen gegenüber, die Gottheiten und Allegorien, ernste, galante oder burleske Szenen aus Mythologie und Alltag darstellen. Aus dieser zierlichen Rokoko-Welt ausgesondert sind in Einzelvitrinen allein zwei Plastiken, die gleichsam exemplarisch und stellvertretend für jene ebenso innovative wie modisch-tagesaktuelle Porzellankunst des 18. Jahrhunderts stehen: An der Ostwand hält Madame Venus in einer geschwungenen Gitterlaube oder Grotte Hof: Nymphen und Putten schmücken die olympische Schutzherrin der Liebe und Sinnlichkeit, die rosig und weiß bemalt selbst wie eine glänzende Perle in ihrer zerbrechlichen Wohnung aus modellierten „Rocaillen“ („Muscheln“) thront. Schräg gegenüber der aus Schaum geborenen Göttin der Schönheit residiert aber noch eine weitere „Beauty-Queen“ des galanten Zeitalters, ruhig und in sich gekehrt – ihres Triumpfes sicher.
Der Wahrheit die Ehre zu geben, handelt es sich um eine tierische Beauté. Der füllige Leib ist mit ledrigen Panzerplatten sicher bewehrt und die sanften Augen stehen im interessanten Kontrast zur ausgeprägten Nasenregion – kurz gesprochen, handelt es sich um ein porzellanenes, lebensnah modelliertes Nashorn! Mit gesenktem Haupt, die säulenartigen Füße fest auf den felsigen Untergrund gestemmt, dient die kompakte Tierplastik als Trägerfigur eines pavillonartigen Aufbaus, der späte Rokokoornamentik mit dem zeitlich anschließenden, klassischeren Dekor des sogenannten „Zopfstils“ vereint und eine Uhr enthält. „Aufgeschnallt“ ist dieser mobile Uhrturm auf eine Art Satteldecke oder Schabracke, die mit dem Reliefkopf eines pausbäckigen, turbangeschmückten Afrikaners geschmückt ist. Als Ganzes illustriert das ungewöhnliche Arrangement die europäische Faszination der Epoche für die fernen, exotischen Lebenswelten des Orients und verarbeitet kreativ zeitgenössische Schilderungen leichter Zelte oder Ehrenschirme, in deren Schatten hohe Würdenträger in Indien und Südostasien auf dem Rücken gezähmter Elefanten ritten.
Unsere Uhr ist aber nicht einfach nur modisches Zeugnis eines allgemeinen Zeitinteresses am Fremden und kaum Bekannten. Vielmehr handelt es sich bei der Münchner Porzellanplastik um ein ganz konkretes Nashorn: Es ist „Fräulein Clara“ (1738-1758), das berühmteste, seinerzeit wohl einzige und eines der ganz wenigen Rhinozerosse, die bis dahin lebend über mitteleuropäischen Boden wandelten – zumindest seit den Tagen Roms (das exotische Zooanlagen und Schaukämpfe der aus seinen afrikanischen Provinzen importierten Bestien liebte).
Das zwanzigjährige Erdendasein unserer Clara, die in Bengalen im Nordosten des indischen Subkontients zur Welt kam, begann traurig: Jäger töteten ihre Mutter und brachten das Baby in die Niederlassung der ostindischen Handelskompanie, wo es im Haus des Direktors als eine Art zahmes Haustier aufwuchs. Mit zunehmender Größe und Appetit muss die rasch gar nicht mehr kleine Clara ihren Status als Familienliebling allerdings verloren haben. Man verkaufte sie an Mijnheer Douwe Mout, der hier seine Chance erkannte, den offenbar ungeliebten Beruf als Kapitän der Ostindien-Kompanie zu vertauschen mit der Rolle eines lebenslangen Agenten und Impressarios seines „rising star“ Clara: In monatelanger Überfahrt um das gefährliche Kap der Guten Hoffnung herum transportierte Mout das offenbar robuste Tier nach Rotterdam. Von hier aus begann ab 1741 eine jahrelange Tournee quer durch Europa, die Clara in die Metropolen und an die Höfe Deutschlands, der Niederlande, Frankreichs, Englands und Italiens führte. Eine professionelle Werbekampagne mittels sorgsam plakatierter Vorankündigungen und gedruckter Flugblätter bereiteten die einzelnen Gastauftritte vor.
Darstellungen und interessante Details über die faszinierende Kreatur wurden vorab lanciert: Etwa über die natürliche Todfeindschaft zwischen Rhinozeros und Elefant, der stets panisch die Flucht ergreife vor dem Horn des Untiers, mit dem es tückisch den weichen Elefantenbauch aufschlitze. Klar, dass das Interesse riesig war: Wo Clara, von ihrem Publikum getrennt durch einen niedrigen Bretterverschlag, auftrat, strömten die Schaulustigen zusammen, um dem gepanzerten, gut eine Tonne schweren Koloss vom anderen Ende der Welt beim Verzehr seiner „täglichen Unterhaltung“ zuzusehen – „60 Pfund Heu und 20 Pfund Brot“, dazu „14 Eimer Wasser“. Das klingt nach viel, aber die Kosten für Nahrung und den logistisch gewiss schwierigen Transport in einer Art massivem, blickdichtem Zirkuswagen holte Schausteller Mout spielend und zehnfach wieder herein. Publicitywirksam verlieh ihm obendrauf die begeisterte Kaiserin Maria Theresia nach einer Vorführung am Wiener Hof sogar ein Adelspatent, worauf sich der gewiefte Ex-Kapitän ebenso sinnig wie nautisch „Van der Meer“ nannte. Erst mit Claras Tod, der, wie es einer echten Diva geziemt, „on Tour“ eintrat, nämlich im nebligen London des Aprils 1758, versiegte diese stetig sprudelnde Einnahmequelle. Dass das arme Rhinozeros diese Strapazen jahrelang durchstand und sogar knapp die Hälfte der durchschnittlichen Lebenszeit eines Nashorns in freier Wildbahn erreichte, scheint staunenswert genug, erklärlich vielleicht durch die frühe Gewöhnung an Menschen. Vielleicht hat Mout/Van der Meer sein lebendes Kapital auch in Abwägung der Geschäftsinteressen möglichst gut behandelt – wir wollen es hoffen und dem geplagten Tier nachträglich wünschen. Schließlich hatte sein unmittelbarer Vorgänger nicht so viel Glück gehabt: 1515 hatte der portugiesische König Manuel I. vom Sultan von Cambay ein Rhinozeros als diplomatisches Geschenk erhalten und dieses postwendend als kleine Aufmerksamkeit an den päpstlichen Hof nach Rom weiterversandt. Leider ging das Schiff mit seiner kostbaren Fracht vor Italiens Küste unter, und nur die ausgestopfte Nashornhaut erreichte mit erheblicher Verspätung die Ewige Stadt. Es sind die Beschreibungen dieses unglücklichen Seenot-Opfers, auf deren Grundlage Albrecht Dürer 1515 seinen berühmten und trotz ungenauer Schilderung überraschend lebensnahen Holzschnitt eines „RHINOCERUS“ schuf. Er galt bis zu Claras Auftritt auf der europäischen Bühne als authentische Darstellung des seltsamen Tieres, von dem es hieß, es „hat ein farb wie ein gespreckelte Schildtkrot. Vnd ist von dicken Schalen vberlegt fast [sehr] fest. Vnd ist in der groeß als der Helfand [Elefant].“
Auch in den angewandten Künsten fand Dürers populäre Darstellung Niederschlag, wie es sich über 200 Jahre später bei Claras Erscheinen wiederholen sollte: So hat etwa auf den kostbaren „Abrahams-Teppichen“ der Residenz, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wohl in der Brüsseler Manufaktur des Willem Pannemaker gewirkt wurden, das Dürer-Nashorn seinen Auftritt: Gemeinsam mit Fabelwesen und exotischen Tieren der Neuen Welt erscheint es auf den breiten Bordüren, aufgehübscht mit einem schicken Angriffsstachel auf dem Rückenpanzer. Auch auf einer mythologischen Miniatur des 17. Jahrhunderts in unserer Sammlung schaut es bedeutungsvoll an seinem Horn entlang und verkörpert würdevoll den heimatlichen Erdteil Africa.
Anders als im Falle des Nürnberger Maler-Genies dürfte unsere Uhr allerdings auf Basis direkter Anschauung entstanden sein: Im November 1747 hielt Clara Einzug in der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim und logierte im feinen Gasthof „zum Pfau“, wo sich denn auch mit den übrigen Schaulustigen bald die Crême des Hofes einfand: Kurfürst Karl Theodor persönlich, nebst Gattin Elisabeth Auguste und der herzoglichen Verwandtschaft aus Zweibrücken.
Grund genug für die erfolgstrunkene Pfauen-Wirtin Maria Barbara Endtin, ein Erinnerungsblatt mit Claras Konterfei zu publizieren, ergänzt um etwas mühsame Verse:
„In dem 1747 Jahr/Carl Theodor Durchlaucht im Pfau war/ Den zwanzigsten Tag Novembris Sie diesen Tag sich auserkieß/ Hertzog Christian, Printz Friedrich auch/ beyde Durchläuchtern nach Gebrauch/ Zu gleicher Zeit sich funden ein/wo der Rhinoceros solt seyn/ Durchlaucht auch unserer Churfürstin/ und Pfalz-Gräffin kam es in den Sinn/ Zu sehen dieses Wunder-Thier/ so niemals nicht gewesen hier/[…]“.
Ganz klar, Clara „boomte“ – auch bei den Pfälzer Wittelsbachern. Mit einer Begeisterung, die an die periodisch aufflammende, niemals ganz nachlassende Begeisterung unserer Gegenwart für „Dinos“ erinnert, inspirierte auch das schwerleibige „Rhino“ eine ganze Gattung vormodernen Merchandisings: Städtische Gedenkmünzen auf den Aufenthalt des Dickhäuters wurden geprägt, Kupferstiche wie der oben genannte entstanden zuhauf, venezianische Veduten zeigen Clara in Interaktion mit ihrem maskierten Publikum inmitten des Karnevaltrubels. 1749 hielt schließlich der talentvolle Tiermaler Jean-Baptiste Oudry die ledrige Schönheit in Öl und Lebensgröße auf Leinwand fest (heute Staatliches Museum Schwerin). Aber wohl schon zuvor, während ihres Mannheimer Gastspiels, dürfte der produktive kurpfälzische Bildhauer Peter Anton von Verschaffelt Studien des einzigartigen Geschöpfs angefertigt haben. Auf Basis dieser Erinnerungen schuf er 1770, also lange nach Claras Tod, ein posthumes Porträt in Ton, das anschließend in der kurfürstlichen Porzellanmanufaktur im nahen Frankenthal in Porzellan übertragen wurde. Vermutlich hat den Künstler die gemeinsame exotische Herkunft inspiriert, die das Porzellan ebenso wie das dargestellte Tier auszeichnen. Gereizt haben wird ihn zudem der plakative Gegensatz zwischen dem fragilen Material und der unförmigen Schwere des Nashornkörpers.
Mehrere zeitgenössische Ausformungen von Verschaffelts Nashorn sind heute bekannt. Aber es ist wohl unsere zur Uhr ergänzte Version, die in den historischen Inventaren des Mannheimer Schlosses Erwähnung findet, an überaus prominenter Stelle zudem, nämlich in Karl Theodors Schlafgemach im Westflügel der weitläufigen Anlage. 1775 ist in diesem, im Gegensatz zu zeitgleichen fürstlichen Paradeschlafzimmern vergleichsweise intimen Raum die „porcellainerne uhr den Rincoeros vorstellend“ verzeichnet – Ausweis sowohl für Karl Theodors anhaltendes Interesse an den Erzeugnissen seiner Manufaktur wie für seine seinerzeitige Begegnung mit einer Kreatur aus einer anderen Welt. Zwei Jahre später musste Karl Theodor sein gemütliches Mannheimer Domizil räumen: Nach dem plötzlichen Tod seines Münchner Vetters Max III. Joseph (reg. 1745-1777) sah sich der pfälzische Wittelsbacher gemäß den dynastischen Hausverträgen verpflichtet, die vakante Herrschaft über Bayern anzutreten und gleichzeitig seinen Hof vom Rhein an die Isar zu verlegen. Mit ihm gelangten bedeutende Schätze aus dem Mannheimer Schloss in die Münchner Residenz, darunter wohl auch die originelle Nashorn-Uhr, die erstmals wieder als Ausstattung der fränkischen Nebenresidenz in Bamberg greifbar wird. Gleichfalls in Umzugskartons verpackt worden waren auch die Modellformen der Frankenthaler Porzellanmanufaktur, die nach Verlegung des Hofes einen langsamen Tod starb und schließlich in der Manufaktur der bayerischen Wittelsbacher bei Schloss Nymphenburg aufging. Unter den so geerbten Porzellanformen befanden sich auch die des populären Nashorns. So ist der armen Clara in München (das sie zu Lebzeiten leider niemals besuchte) eine Art zerbrechlicher Unsterblichkeit gewährt: In der Residenz-Sammung tickt die Uhr ihres aufregend-anstrengenden Lebens, und in den Werkstätten der Nymphenburger Manufaktur erblickt sie immer wieder auf’s Neue in porzellanener Schönheit das Licht der Welt!
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