Der 24. April – oder der 23., das hängt von der Region ab – ist traditionell der Verehrung des heiligen Ritters, Märtyrers und Drachentöters St. Georg gewidmet. An vielen Orten wurde und wird an diesen Tagen der fromme Mann aus Kappadokien, der im dritten Jahrhundert gelebt haben soll und seit dem Spätmittelalter sogar zu den „vierzehn Nothelfern“, also dem besonders menschenfreundlichen Sondereinsatzkommando innerhalb der Heiligenschar zählt, mit besonderen Gottesdiensten, Prozessionen und Brauchtum geehrt – vor allem mit Umritten und dem Segnen der Pferde: schließlich erscheint der beliebte Gottesstreiter in der bildenden Kunst in aller Regel hoch zu Ross!
St. Georg ist auch der besondere Schutzpatron der Münchner Residenz und ihrer Bewohner, die in krisenhaften Zeiten wie diesen etwas himmlischen Schutz gut gebrauchen können. Überall im mittelalterlichen Europa erkannten Fürsten und Adel den heiligen Ritter, der nicht nur mit milden Worten, sondern auch in prächtiger Rüstung und mit geschärftem Schwert für mehr Christlichkeit sorgte, als einen der ihren. Sie unterstellten ihre Burg- und Palastkapellen seinem Schutz und organisierten sich in St. Georgs-Bruderschaften. Auch die Wittelsbacher waren mit von der frommen Partie, besonders seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts, als eine kostbare Georgs-Reliquie als Geschenk für Herzog Wilhelm V. (reg. 1579-1597) nach München gelangte. 1729 rief dann Kurfürst Karl Albrecht (reg. 1726-1745) seine Adeligen im St. Georgs-Ritterorden zusammen, ein dynastischer Hausorden, der in etwas veränderter Form bis heute besteht und seine jährlichen Ordensfeste jeden Frühling in der Residenz feiert!
Nicht vergessen werden in all dem himmlischen Glanz soll aber der, dem der „Reuter Jörge“ vor allem seine Popularität zu verdanken hat: der Drache, den er als fromme Heldentat und mit himmlischer Hilfe nahe der lybischen Stadt Silena in einem furiosen Kampf zur Strecke gebracht und damit neben der obligaten Prinzessin auch deren ganzes Volk gerettet und zum Christentum bekehrt haben soll! Denn man muss es aussprechen: Während der voll gepanzerte Heilige in seiner unnahbaren Tugend letztlich doch etwas farblos bleibt, ist es vor allem sein schuppiger Widerpart, der von jeher die Fantasie der Künstler (und der Betrachter) erregt hat, so dass man bei Gemälden und Skulpturen eigentlich oft die Titel-Reihenfolge umkehren und vom „Drachen (mit St. Georg)“ sprechen sollte.
Der fabulösen Gattung „Draconis europae simul asiaticae“ wollen wir uns deshalb heute etwas genauer widmen: Denn nicht nur in der bildlichen Darstellung christlicher Legenden schuppt und ringelt es: Die Drachen, die sich in allen Kulturen seit der Antike durch Schöpfungsmythen und Sagen in die Anfänge der modernen Naturwissenschaften schlängeln, können bis heute dank Film, Fernsehen (und Dinosaurier-Parks) noch täglich in ihren luftigen, wässrigen oder unterirdischen Biotopen aufgespürt werden.
Dabei sind die Drachen Fafner, Fuchur und Kollegen allesamt ausgeprägte Charaktere, also trotz gemeinsamer Eigenschaften wie Schlangenleib und jede Menge scharfer Zähne beileibe nicht alle gleich, sondern vielgestaltig und wandelbar sowie von unterschiedlichster Gemütsart – vom notorischen Jungfrauen-Gourmet bis zum weisen Veganer, von schleimiger Schlange bis geflügeltem Vierfüßler reicht das faszinierende Spektrum ihrer Erscheinungsformen!
Dass solche verwunderlichen Wesen sich an wundervollen Orten einnisten ist wiederum nun ganz und gar kein Wunder. Und so sind Drachendarstellungen bei uns in der Residenz über vier Jahrhunderte Münchner Schlossgeschichte hinweg ausnehmend zahlreich.
Fast scheint es, als ob die zwangsweise Ruhe, die sich derzeit über unser Museum gelegt hat, die fabulösen Geschöpfe verlockt, sich deutlicher als sonst zu zeigen. Aus gegebenem Anlass haben wir uns auf die Suche gemacht und sie in ihren teils gut verborgenen Nestern aufgestöbert. Alle? Das ist schwer zu sagen. Bei Schuppenschwanz Nummer 120 haben wir die Suche vorläufig eingestellt – das bedeutet bei derzeit über 140 zur Besichtigung freigegebenen Schlossgemächern eine durchschnittliche Drachendichte von 0,86 Echsenpanzern pro Residenz-Raum (ohne Toiletten und Keller). Kein schlechter Wert für eine angeblich niemals real gesichtete und dennoch bedrohte (St. Georg!!) Tierart…
Für alle Naturforscher, die unser Schloss derzeit nicht durchstöbern können, haben wir hier eine repräsentative Auswahl unserer schönsten Ungetüme zusammengestellt:
Den Anfang macht natürlich die „Mutter aller Residenz-Drachen“: die miniaturhaft kleine Bestie, die sich auf dem bereits erwähnten Georgs-Reliquiar in der Schatzkammer der Residenz wälzt. Ihr goldener, aber gänzlich mit schimmerndem Emaille überzogener Leib ist dicht mit harten Smaragden gepanzert, die das Kristallschwert des Heiligen (und der fiese Tritt seines aus Achat geschnitzten Pferdes) erst einmal durchdringen müssen.
Diesem „goldigen“ Ungetüm nimmt man kaum ab, dass es das Symbol des überwundenen Satans sein soll („Jungfrauen?? – Ich??!“). Eher scheint der arme Wurm doch die wahre Berufung des Drachenstandes wahrzunehmen – die des Schatzhüters! Nicht nur zählt die zwischen 1586 und 1597 geschaffene Goldschmiedearbeit zu den künstlerischen Spitzenwerken ihrer Art. Für die frommen Betrachter des 16. Jahrhunderts wohl noch wichtiger: Im gut gesicherten und gleichfalls reich verzierten Sockel ist ein Knochen des heiligen Ritters verwahrt!
„Drachen lieben Grotten“ – das gilt auch in der Residenz: Im „Grottenhof“ aus den 1580er Jahren haben sich gleich vier kleine Ungeheuer aus Bronze eingenistet. Aber wie für alle niedlichen Tiere gilt auch für sie – „Vorsicht vor spielenden Kindern“! Nach dem Vorbild des gemeinen „Gänsewürgers“, einer berühmten antiken Skulptur, haben kleine Knaben die schuppigen Hälse gepackt und drücken sie ordentlich zusammen. Mit Erfolg: Von Kinderhand besiegt, spuckten die wohl von Carlo di Cesare del Palagio 1576/78 geschaffenen Bronzedrachen ursprünglich Wasserstrahlen in ein nicht mehr vorhandenes Brunnenbecken.
Nur wenige Schritte weiter lebt im benachbarten Antiquarium gleich eine ganze, vielgestaltige Drachensippe – wiewohl gut versteckt – in den gewölbten Fensternischen: Sie gehören zur varientenreichen Familie der „Grotesken“, welche die Künstler der Renaissance nach dem Vorbild antiker Dekorationsmalereien zuerst in Italien und dann in ganz Europa an Wände und Decken zauberten (die Bezeichnung leitet sich ab von den verschütteten Räumen, den „Grotten“, in denen solche Malereien erstmals entdeckt wurden): Bizarre Mischwesen treiben vor freien Hintergründen ihr fantastisches Spiel und fungieren als lockeres, schmückendes Rahmenwerk der bedeutungsschweren Hauptdarstellungen.
In der Regierungszeit Maximilians I. (reg. 1597-1651), der die Residenz zu Beginn des 17. Jahrhunderts erweitern und neu ausstatten ließ, hatten Drachen dann eher eine schlechte Presse. Als Symbol des Bösen werden sie im allegorischen Bildprogramm der stuckierten Gewölbe zur Strecke gebracht. An der (um 1697 erneuerten) Decke im prunkvollen „Zimmer der Religion“ hat die weibliche Verkörperung der (christlichen) Wachsamkeit mit der Lampe ein katzenartiges Monster fest am Schwanz – es symbolisiert die Häresie, die vom rechtgläubigen Maximilian aufgespürt und von seinen Bayern ferngehalten wird.
Das 18. Jahrhundert wendet schließlich den Blick auf die fernen Vettern unserer europäischen Lindwürmer: Auf den hochbegehrten und zu gesalzenen Preisen importierten Porzellanen aus Fernost winden die ebenso majestätischen wie eleganten Drachenkönige Japans und Chinas ihre perlmutterfarbenen Schuppenleiber durch Wogen und Wolken. Speziell in der reichen Ostasien-Kollektion der Residenz, die vor allem die sammelwütigen Wittelsbacher des 18. Jahrhunderts zusammentrugen, haben sie ihr Refugium!
Im Unterschied zu den nordischen Ungeheuern sind die asiatischen Drachen zwar gefährliche und machtvolle, grundsätzlich aber gütige Wesen – Bringer des lebenspendenden Regens (aber auch der Sturmfluten, wenn man sie reizt), Symbole und Beschützer der Kaiser, deren Himmelsdrachen durch fünf Klauen (anstatt der üblichen vier) ausgezeichnet sind.
Ein paar hundert Jahre dauert es, bis solch ein asiatischer Himmelsfürst aus seinem Ei schlüpft und die charakteristischen Merkmale ausgebildet hat: Den Kopf eines Kamels, die Augen eines Teufels, Ochsenohren, Hirschgeweih, Schlangenhals, Karpfenschuppen, Tigertatzen – und die knorrigen Flügel. Auf den kostbar glänzenden chinesischen „Mirror-Black-Vasen“ (Ära Kangxi, ca. 1700-1720) spielen sie im Sturmwind Fangball mit ihren magischen Perlen – dem chinesischen Äquivalent „unseres“ Drachenhorts.
„Niedergedrückt von der Last der Zeit!“ – das könnte wohl dieser Geselle aus feuervergoldeter Bronze stöhnen, der von der zierlichen, nach Entwurf des berühmten Charles Cressent geschaffenen Tisch-Uhr (um 1740) in den „Kurfürstenzimmern“ geplättet wird: Dem Drachen als klassischem Symbol des Chaos wird hier die kosmische Ordnung der Stunden, Jahre und Tage bzw. die kulturelle Leistung der geregelten, exakten Zeitmessung als siegreiches Prinzip gegenübergestellt.
Grundsätzlich aber sind die Rokoko-Drachen des 18. Jahrhunderts in der Residenz eher verspielte Gesellen – und fast unzählbar: sie umwinden die Beine von Konsoltischen, balgen sich mit Putten, die sie mit vergoldeten Waffen piesacken, und ringeln sich zusammen mit den zierlichen „Rocaillen“ im Deckenstuck. Als gelernte Fachkräfte für’s Feuerspucken dürfen manche auch die Kerzenleuchter aus vergoldeter Bronze bewachen…
Das 19. Jahrhundert nimmt es dann wieder schwerer: Unsere Residenz-Drachen werden literarisch: Sie kriechen nun vor allem zwischen den Buchdeckeln deutscher Klassiker hervor und an die bemalten Wände: Zwei (im Weltkrieg leider stark mitgenommene) Beispiele aus dem Königsbau Ludwigs I. (reg. 1825-1848) wollen wir vorstellen:
Da ist zum einen der alte Hort-Hüter Fafner, bekannt aus einem (sehr kurzen) Kurzauftritt im mittelalterlichen Nibelungenlied, wo er den Angriffen des „teutschen“ Ideal-Helden, des blonden Siegfrieds, erliegt und ihn mit seinem Blut (fast) unverwundbar macht: In den „Nibelungensälen“ der Residenz haben ihm der Maler Julius Schnorr von Carolsfeld und seine Mitarbeiter ein ehrendes Andenken bewahrt.
Im Obergeschoss züngelt hingegen die namenlose Bestie aus Schillers Ballade „Der Kampf mit dem Drachen“, den ein ebenso tapferer wie demütiger Johanniter-Ritter im Laufe von 25 zwölfzeiligen Strophen zur Raison bringt – passenderweise im Schreibkabinett der Königin Therese.
Wie gesagt – das hier ist nur eine kleine Auswahl unserer fabulösen Residenz-Menagerie. Bald hoffen wir, unsere museale Drachenhöhle wieder für neugierige Besucher*innen öffnen zu können und sie dann selbst auf die Suche zu schicken!
Bis dahin bitte gesund bleiben – und Vorsicht vor dem Rachen-Drachen…