Residenz München

Verzweigte Symbolik – Korallenkunst in der Residenz

Diana Trinkspiel

„Vor dem Antiquario draussen ist ain Sälin, in disem ein trog, vmbhero Bilder von Corallen, Berlenmutter, muschlen, allerlay ertz: vnd stueffen…“. Fasziniert berichtet der Augsburger Kunstagent und Sammler Philipp Hainhofer (1578-1647) von den exklusiven Wunderwerken der Münchner Residenz, die er 1611 besichtigte – wohl inmitten von emporwachsenden Gerüsten, dem Staub und dem Lärm der Handwerker, denn schließlich wurde der gewaltige Komplex gerade in diesen Jahren umfänglich auf Geheiß von Herzog (später Kurfürst) Maximilian I. (reg. 1597-1651) baulich erweitert und künstlerisch neu ausgestattet. Umso mehr wird Hainhofer die relative Ruhe in den schon länger fertiggestellten älteren Baubereichen um die fürstlichen Wohnräume herum und speziell in dem dort gelegenen „giardino secreto“, dem eingehegten „Privatgarten“, geschätzt haben.

Philipp Hainhofer, Zeichnung von L. Kilian, 1623

Philipp Hainhofer, Zeichnung von Lucas Kilian, 1623

Dieser wurde als besondere Vergünstigung, ebenso wie die berühmte Kunstkammer und Maximilians „Allerheiligstes“, die wenige Jahre zuvor geweihte Reiche Kapelle, dem weitgereisten Kunstkenner auf herzogliches Geheiß hin zugänglich gemacht, da man seine Expertise (und Ruhmredigkeit vor den Ohren fürstlicher Kollegen) schätzte – und das sogar, obwohl der Augsburger der verhassten lutherischen Konfession anhing!

Heutigentags ist eine Besichtigung der raffiniert gestalteten Stätten fürstlicher „Recreation“ zum Glück ohne allerdurchlauchtigste Protektion und unabhängig vom Glaubensbekenntnis einfach mit Erwerb eines Besuchertickets möglich. Und so haben erfahrene Residenzhäsinnen und -hasen natürlich längst erkannt, welchen kleinen Saal mit seinem muschelgeschmückten „Trog“ (also einem Brunnenbecken) Hainhofer anno 1611 so sehr bewundert hat: Es handelt sich natürlich um die ausgemalte Loggia des sogenannten Grottenhofs, deren reich dekorierte Rückwand den westlichen Abschluss des unmittelbar benachbarten Antiquariumstrakts ummantelt und die sich auf der Vorderseite mit weiten Bögen zum angrenzenden Gartenhof und dem dort sprudelnden Perseus-Brunnen öffnet.

Zu Hainhofers Zeiten bestimmte die farbige Freskierung der Gewölbe den Eindruck der 1944 stark beschädigten Grottenhalle

Zu Hainhofers Zeiten bestimmte die farbige Freskierung der Gewölbe den Eindruck der 1944 stark beschädigten Grottenhalle

Passend zur Sphäre des Gartens und der dort veranstalteten fürstlichen Vergnügungen fußte die künstlerische Ausstattung des luftigen „Sälin“, die bereits in den 1580er Jahren unter Maximilians Vater Wilhelm V. entstanden war, auf der bildgewaltigen antiken Mythologie und thematisierte zugleich die phantastische Welt der Meeresgötter und ihr wässriges Reich. Gemalte Historien rund um halbmenschliche oder komplette Gottheiten wie den cleveren Merkur, die schöpferische Minerva oder den hilfreichen Perseus ermöglichten diskrete Anspielungen auf die quasi übermenschlichen Tugenden der bayerischen Herrscher, die hier in diesem italienisch angehauchten Refugium gepflegte Erholung von ihrem anstrengenden Dienst an der Menschheit suchten. Zugleich verhieß die künstliche Grottenarchitektur im Sommer schattige Kühle und Erfrischung, wie sie so luxuriös Homer und Ovid zufolge nur die unterseeischen Wohnungen der Nymphen und des Neptun boten.

Der überhängende Tuffstein, aus dem einst Wasser in das Brunnenbecken tropfte war einst reich mit Bergkristallen, Mineralien und Korallenzweigen besteckt, über deren Geflimmer der goldglänzende Merkur Richtung Olymp abhob....

Der überhängende Tuffstein, aus dem Wasser in das Brunnenbecken tropfte, war einst reich mit Bergkristallen, Mineralien und Korallenzweigen besteckt, über deren Geflimmer der goldglänzende Merkur Richtung Olymp abhob….

Angesichts derartiger thematischer Steilvorlagen ist es allerdings interessant, dass der humanistisch gebildete Hainhofer in seinem Münchner Reisebericht all diese Programmatik gegenüber seinem interessierten Publikum unerwähnt ließ. Stattdessen lenkte er den Blick auf die materielle Umsetzung, namentlich auf die bizarr geformten Figuren aus Perlmutt, Muscheln und interessant geformten Erzbrocken („Stufen“) sowie vor allem: Korallen. Diese von ihm und anderen Zeitgenossen belegte, einstmals reiche Ausstattung der Grottenwände sowie der zentralen Brunnenanlage mit rötlich glänzenden Korallenzweigen ist heute vor Ort allenfalls noch fragmentarisch nachvollziehbar: Zu sehr haben begierige Hände, mehrfache „beruhigende“ Umgestaltungen und nicht zuletzt die Kriegszerstörungen die vormals üppige und optisch abwechslungsreiche Dekoration reduziert. Auch die farbliche Eintrübung durch Alterung und jahrzehntelangen Schmutzeintrag verunklären heutzutage den Eindruck, der ursprünglich der einer wahrlich glänzenden, vielfarbig schimmernden, von glitzernden Wasserstrahlen benetzten Edelsteinfassade gewesen sein muss, vor der sich die vergoldete Bronzefigur des geflügelten Götterboten Merkur vom felsigen Brunnenrand aus in die Lüfte schwang.

Dass Hainhofer die opulente Ausstattung der Münchner Grottenhalle mit Korallen so sehr bewunderte, muss wiederum uns nicht erstaunen: Die abwechslungsreich geformten, rot, rosa und weißlich glänzenden Kalkskelette „sessiler“ (festsitzender) Meerestiere, die die Griechen als „Töchter der See“ („koràllion“) bezeichneten, übten auf die europäischen Sammler der Frühen Neuzeit eine fast magische Anziehungskraft aus. Scheinbar aus Stein und dennoch wachsend wie Pflanzen symbolisierten die ast- und wurzelartig wuchernden Gebilde exemplarisch die ebenso schöne wie unerklärliche Vielfältigkeit göttlicher Schöpfung. Kein Wunder also, dass die fremdartige und rätselhafte Koralle als hochbezahlte Rarität Aufnahme in fürstliche Kunst- und Wunderkammern fand. In diesen Vorläufern moderner Museen versuchten Fürstlichkeiten und Gelehrte im 16. und 17. Jahrhundert, ein nach Klassen und gegenseitigen Beziehungen geordnetes Panorama der Welt, ihrer künstlerischen und natürlichen Hervorbringungen zu versammeln und so letztlich ein miniaturhaftes, dabei aber möglichst vollständiges Abbild des Kosmos nachzuschaffen. Vorreiter waren in diesem Bestreben die bayerischen Herzöge, namentlich der ebenso kunstbegeisterte wie sammelwütige und ausgabenfreudige Albrecht V. (reg. 1550-1579), der ab 1563 in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Residenz die berühmte Münchner Kunstkammer als imposante Renaissance-Architektur rund um einen weiträumigen Arkadenhof errichten ließ (heute: Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege).

Blick in den Arkadenhof des einstigen Kunstkammergebäudes

In Albrechts Umfeld lebte und arbeitete auch der niederländische Gelehrte Samuel Quiccheberg (1529-1567). Dessen idealtypisches Klassifizierungssystem potentieller Sammlungsgüter von 1565 bildete eine wichtige theoretische Grundlage für das enzyklopädische Aufstellungssystem der europäischen Kunstkammern – namentlich der in München. In diesem System fungierten Korallen gleich in zwei Kategorien, nämlich als klassische Beispiele begehrter „Naturalia“ sowie der „Exotica“, also den von der Natur hervorgebrachten Kunstwerken bzw. den fremdartigen Objekten aus fernen Ländern. Der Besitz kostbarer Korallen versprach also doppeltes Prestige und dementsprechend war manche fürstliche Sammlung für ihren Reichtum an weitgereisten „Zinken“ bzw. Objekten, die man mit Korallenbesatz- und Schnitzereien veredelt hatte, weithin berühmt: Als Beispiel sei die des Habsburger Erzherzogs Ferdinand II. von Tirol angeführt, eines Schwagers von Albrecht V.:

Korallenkabinett in der Ambraser Kunstkammer (2. Hälfte 16. Jh.)

Korallenkabinett in der Ambraser Kunstkammer (2. Hälfte 16. Jh.)

In Ferdinands Kunstkammer in Schloss Ambras bei Innsbruck fanden (und finden sich bis heute) zahlreiche, aus Perlmuttmuscheln und Korallenzweigen zusammengesetzte Miniaturlandschaften unter Glas, in denen sich kleine, aus den roten Ästchen geschnitzte Figuren zu mythologischen oder biblischen Szenen versammeln. Aber auch die Münchner Kunstkammer konnte mit ähnlichen Schaustücken prunken – und das nicht zu knapp: Wieder ist es Hainhofer, welcher vom strengen Maximilian I. die seltene Erlaubnis erwirkt hatte, die berühmte, aber extrem diebstahlgefährdete Kunstkammer seines Großvater Albrecht V. besichtigen zu dürfen, der uns berichtet: Entlang der Fenster bestaunte er auf mehreren gut ausgeleuchteten Tischen wirkungsvoll präsentierte Kleinskulpturen, die ihre gekrümmte Formenvielfalt ausspielten und teilweise in ganzen Gruppen zu antikischen Triumphzügen mit Musikern und Tänzern arrangiert waren, alles von „rothem, weissem und leibfarbem Corall, dergleichen züncken, bülder, triumpf, music wägen, dennz“.

Leider sollten schon kurze Zeit später die meisten dieser Schätze mit dem ganz überwiegenden Rest der Kunstkammer durch Plünderungen im Zuge des Dreißigjährigen Kriegs verlorengehen. Zum Glück für unsere Vorstellungskraft haben sich jedoch einige Vergleichsstücke in der Reliquiensammlung der Residenz erhalten. Denn da Korallen nicht nur als fremdartig und selten galten, sondern zugleich auch als kostbare Heilmittel und Glücksbringer verehrt wurden, fanden sie auch oftmals bei der Herstellung sakraler Kleinkunst Verwendung:

Heiliger SebastianLeonhard Kern, Schwäbisch Hall, um 1625-30

Heiliger Sebastian
Leonhard Kern, Schwäbisch Hall, um 1625-30

So kombiniert ein kleiner, um 1620 geschnitzter Heiliger Sebastian in der Schatzkammer, der an seinen Baum gefesselt das Martyrium erwartet, gleich zwei „Exotica“, nämlich Elfenbein und Koralle. Gut ist nachzuvollziehen, wie der Künstler die jeweiligen Materialien optisch und haptisch in das gewählte Motiv einbringt: Wirkungsvoll gibt das leicht transparente, hellglänzende Elfenbein Sebastians nacktes Fleisch wieder. Zugleich steht sein Ebenmaß in wohlberechnetem farblichen wie formalen Kontrast zu dem bizarr geformten Korallenbäumchen, seinen fast qualvoll verdrehten Ästen und Zweigen, deren rote Farbe zugleich auf die blutige Marter des Heiligen anspielt.

Weitere (wiewohl etwas derbere) Zeugnisse des Vertrauens in die heilbringende Kraft der Korallen sind mehrere, gleichfalls in der Schatzkammer ausgestellten Schutzamulette wider den „Bösen Blick“: Sie haben die Form geschnitzter Korallenhände, deren Finger in frecher Abwehr dem Teufel die obszöne Geste der „Feige“ vorweisen.

Natürlich stellte solch bunt leuchtende Kleinkunst nicht zuletzt einen beträchtlichen materiellen Wert dar, wie auch der neugierige Hainhofer sachkundig vermerkte: „wie dan uber die 100.000 Augsburger Ductaen an Corall soll in der kunstkhammer sein“. Eine Schätzung, die uns angesichts weltweiten Korallensterbens einerseits und billigem Strandtouristen-Schmuck andererseits aufhorchen lassen sollte. Wie hoch genau die Münchner Kunstkammerkorallen („KKK“) nun auch taxiert wurden – teuer waren die rötlichen „Zinken“ allemal: An relevante Mengen zu gelangen ging letztlich nur über gute Beziehungen bzw. es konnte der Besitz als sichtbarer Verweis auf die beeindruckende internationale Vernetzung des Sammlers, also als Beleg hohen Sozialprestiges, gelesen werden. Für eine künstlerisch wie materiell möglichst spektakuläre Ausstattung ihres Grottenbrunnens konnten die Wittelsbacher vor allem den Kontakt zu ihrer reichen toskanischen Verwandtschaft in Florenz, den Medici, aktivieren (die Großherzogin war eine Cousine Maximilians I.). Zudem konnte das Albrecht V. und Wilhelm V. eng verbundene Augsburger Handelshaus der Fugger helfen, Verbindung mit den genuesischen Kauffahrern aufzunehmen, die rare Exotica von jenseits des Meeres nach Europa importierten.

Aus welcher sagenhaften Ferne die Korallen an den italienischen Häfen anlandeten, war die eine Sache. Aber auch darüber, wie die raren Steingewächse dort entstanden waren, rankten sich für die bayerischen Höflinge und ihre Zeitgenossen zahlreiche Legenden, die mindestens so farbig waren, wie der exotische Werkstoff selbst und die daher von den Künstlern, die ihn bearbeiteten, gern aufgegriffen wurden.

„Ein Mann mit Köfpchen“ denkt die mythologisch gebildete Taube und schließt Freundschaft mit Perseus‘ Flughelm…

Der Münchner Grottenhof ist hierfür das beste Beispiel: Die zentrale Brunnenfigur seines Gärtchens zeigt den mythologischen Helden Perseus, von Hubert Gerhard um 1585/90 formschön in Bronze gegossen: Triumphierend reißt der siegreiche Heros das von Schlangen umzüngelte Haupt der von ihm getöteten Medusa empor – eine noch im Tode schreckliche Gegnerin, denn bekanntlich ließ der furchtbare Anblick der Medusa jedes Lebewesen zu Stein erstarren. Der römische Schriftsteller Ovid schildert in seinen „Metamorphosen“ – dem Buch der Verwandlungen –, wie selbst das Blut der Dämonin sich als so giftig erwies, dass die Schlieren, die ins Meer tropfen, dort teils zu steinharten Korallen gerannen, teils den im Wasser treibenden Tang abtöteten und zu blutroten Gezweig verhärteten. So motiviert die klassische Sage nicht nur die Aufstellung antiker Skulpturenfragmente im Grottengärtchen, welche vor Ort die teils schwer angeschlagenen Medusenopfer darstellen, sondern auch die ursprünglichen Korallenverzierungen, die als dekorativ verteilte Blutspritzer jeden mythologischen Spurenleser den Tathergang einwandfrei rekonstruieren lassen.

Noch gut ein halbes Jahrhundert nach Hainhofers Besuch in der Residenz hat der französische Maler Sébastien Bourdon um 1660 den Moment dargestellt, in dem Perseus nach erledigten Heldentaten am Strand die Hände wäscht, während vor ihm schöne Meeresnymphen wie neugierige „Jugend forscht“-Schülerinnen den Trick mit dem Medusen-Blut ausprobieren und erfreut mit ihren neuen roten Edelsteinen herumspielen.

Francois Bouly nach Sebastian Bourdon, Perseus befreit Andromeda, wohl Brüssel, 1703/10, Gouache auf Papier, München, Residenzmuseum

Francois Bouly nach Sebastian Bourdon, Perseus befreit Andromeda, wohl Brüssel, 1703/10, Gouache auf Papier, München, Residenzmuseum

Das Gemälde, das heute in der Alten Pinakothek ausgestellt ist, wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Bayerns Kurfürst Max Emanuel erworben und hing damals – passend zur Wasser-Grotten-Thematik – in seiner neuen „Badenburg“ im Nymphenburger Schlosspark, während eine Miniaturfassung des Gemäldes in den 1730er Jahren Eingang in das kostbare Miniaturenkabinett der Residenz fand.

Angesichts dieser gesundheitsschädlichen Ursprünge ist es eigentlich verwunderlich, dass unter den vielen guten Eigenschaften der Koralle auch ihre Wirkung als besonders effektives „Antidot“ – als Gegengift und Giftanzeiger – gerühmt wurde: Vielleicht haben wir es hier mit einer Vorform homöopathischer Überzeugungen zu tun, ein Übel am effektivsten mit ähnlichem bekämpfen zu können? Auf jeden Fall fanden sich geschmackvoll in Gold gefasste Korallenzinken allenthalben auf den fürstlichen Tafeln der Frühen Neuzeit, um möglichen Gift-Attentätern schon zu Beginn der Mahlzeit den mörderischen Wind aus den Segeln zu nehmen.

 

Ein bereits spielerisch verfremdetes Echo solcher therapeutischer Praktiken können wir in einem Anfang des 17. Jahrhunderts in Augsburg geschaffenen Trinkspiel aus vergoldetem Silber in der Residenz-Schatzkammer erkennen, das die Jagdgöttin Diana komplett mit Hundemeute und fliehendem Hasen zeigt. Als passendes Reittier dient der mythologischen Waidfrau ein großer Hirsch, dessen hohler Leib einst als kompliziert zu leerender Weinpokal diente. Zum Schutz des Trinkenden (und weil die verästelten Zinken sich von der Form her anboten), ist das Geweih des Hirschen aus Korallenzweigen gefertigt und garantiert einen heilsamen ersten Schluck!