Der Bestand an historischen Bildteppichen, den die Bayerische Schlösserverwaltung betreut, bildet sicher eine der beeindruckendsten Sammlungen dieser Kunstgattung in Europa: Oft wurden derartige Meisterwerke aus Wolle, Seide und glitzernden Metallfäden auf Basis gemalter Vorlagen, den sogenannten „Kartons“ oder „Patronen“, in mehrteiligen Serien produziert, um gleich ganze Räume und Raumfolgen mit wandbreiten, farbenfrohen Darstellungen zu schmücken. Heute sind allerdings viele unserer fragilen Tapisserien deponiert, denn die tägliche Sonneneinstrahlung, der die Kunstwerke zur Zeit ihrer Entstehung und Erstverwendung nicht so dauerhaft ausgesetzt waren wie im heutigen Museumsbetrieb, lässt die lichtempfindlichen Farben verbleichen und macht die stützenden Fäden dieser am Webstuhl gefertigten „Gemälde“ spröde. Dennoch bleibt weiterhin die Zahl der Bildteppiche groß, die in bayerischen Schlössern, vor allem in den Prachtbauten des 17. und 18. Jahrhunderts, unsere Besucher*innen in Staunen versetzen: In Bamberger und Würzburger Prunkappartements, im neuen Schloss Schleißheim – oder, besonders üppig, bei uns in der Residenz München!
Dieser imposante Münchner Fundus, der bereits stolz in den frühesten erhaltenen Inventaren aufgelistet und einst in der feuersicheren „Tapezerey“ verwahrt wurde, geht in zentralen Teilen auf den machtbewussten Maximilian I. (reg. 1597-1651) zurück: Um seine Rolle als politisch-militärisches Schwergewicht unter den Reichsfürsten angemessen zur Schau zu stellen, befahl der bayerische Herzog und spätere Kurfürst nicht nur, die Schlossanlage seiner Vorväter bis ca. 1615 im großen Stile zu erweitern. Er ließ zugleich die neuen Trakte mit einem elaborierten Bildprogramm auf kostbar gewebten Teppichen ausschmücken. In enger Zusammenarbeit mit den Münchner Hofkünstlern wurden sie von einer Wirker-Mannschaft geschaffen, die man unter vielen Kosten und Mühen aus den Niederlanden herbeigelockt hatte! Aber damit nicht genug! Maximilian – sonst eher als gefühlskalt geschildert – muss für diese exklusive Kunstform wahrhaft geglüht haben: Denn außer solchen im direkten Auftrag geschaffenen Wandbehängen ließ er weitere kostspielige Tapisserie-Folgen aus dem Ausland beschaffen. Einer dieser Erwerbungen wollen wir uns hier im Weiteren zuwenden:
Das unübersichtliche Gedränge auf dem gut 20 Quadratmeter großen Teppich, der heute in den barocken „Steinzimmern“ der Residenz hängt, lässt das textile Bildfeld – das Wortspiel sei gestattet – fast aus allen Nähten platzen: Soviel immerhin ist schnell zu erkennen, dass die elegant, aber wenig natürlich agierenden Krieger, Kinder, Greise und höfischen Damen, die in fantasievolle, „antik“ gemeinte Kostüme gehüllt sind, an die überschlanken und hochstilisierten Bildfiguren französischer Renaissance-Gemälde erinnern – die berühmte „Schule von Fontainebleau“, die unter König François I. (reg. 1515-1547) und seinen Nachfolgern blühte, lässt grüßen! Die Hauptfiguren, auch soviel wird deutlich, sind der blondgelockte Teenager im Bildzentrum, dem die versammelten Krieger ein Diadem aufsetzen, und die reich gewandete Frau links, die gleichfalls eine Krone trägt. Die leichte Übergröße hebt sie innerhalb der Bildkomposition hervor – zu Recht, denn es handelt sich um die berühmte Königin Artemisia, tugendhafte Herrscherin im kleinasiatischen Karien (westliches Anatolien), die der lang erwarteten Krönung ihres Sohnes Lygdamis beiwohnt.
Nun hat man antike kleinasiatische Regentinnen heute oft nicht mehr sofort alle parat. Die legendäre Artemisia jedoch verdankt ihre seit Jahrhunderten stabile Popularität vor allem der konstanten Verwechslung, bzw. biographischen Vermischung zweier Damen gleichen Namens: Da ist zum einen die erfolgreiche Kriegerkönigin Artemisia, die für ihren unmündigen Sohn die Regierungsgeschäfte führte und an der Seite der Perser gegen die Griechen focht. Zum anderen rühmen antike Autoren Artemisia, die untröstliche Witwe des Königs Mausolos aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Nach dem Tod des Gatten ließ sie diesem in der Hauptstadt Halikarnassos ein exorbitantes Grabmal errichten, das zu den sieben antiken Weltwundern zählte und einer ganzen Gattung den Namen gab – den Mausoleen. Damit nicht genug: Artemisia Nr. 2 ließ auch die Asche des Geliebten als nahrhaften Drink aufbereiten, den sie schlückchenweise konsumierte, um so den eigenen, wohl recht attraktiven Leib als lebendes Grabmal umzufunktionieren!
Beide Überlieferungen – die verantwortungsvolle Regentschaft einer pflichtbewussten Mutter sowie die anhaltende Gattenliebe – machten die kombinierte Königin spätestens in der Frühen Neuzeit zu einem erfolgreichen role model und Tugendvorbild für europäische Fürstinnen. So sah es auch der französische Apotheker, Kunstsammler und Hobby-Schriftsteller Nicolas Houel (ca. 1524-1587): 1563 verfasste er eine vierbändige, bewundernde „Histoire de la Reine Artemisie“, die er ganz tagesaktuell der französischen Königin Katharina aus der Florentiner Medici-Familie widmete: Tatsächlich schienen die Parallelen auf der Hand zu liegen: 1559 hatte Katharina (1519-1589) ihren notorisch untreuen aber dennoch geliebten Mann, König Heinrich II., in Folge eines extrem fiesen Turnier-Unfalls verloren (Lanze in’s Auge…). Für ihn ließ sie in der Folge eine überaus prächtige Grabkapelle neben der Abteikirche von Saint Denis errichten. Wichtiger allerdings: Ende 1560 übernahm die trauernde Witwe für ihren zehnjährigen Sohn Charles IX. die Regentschaft über ein von Religionskriegen und rivalisierenden Adelsfraktionen zerrissenes Land.
Angesichts der dauerhaft instabilen und hochgefährlichen Situation konnte die wenig geliebte „Ausländerin“ auf dem Lilienthron jede Art positiver Image-Pflege gebrauchen. Der loyale Autor Houel empfahl daher seiner „nouvelle Artemisie“, den Meinungsmachern am französischen Hof die glorreiche Geschichte der antiken Vorläuferin in Form prächtiger Bildteppiche vor Augen zu führen. Vorausschauend ließ er seinen Text deshalb vom Maler Antoine Caron und anderen Künstlern reich illustrieren, um so die Vorlagen für derartige Propaganda-Tapisserien bereitzustellen: Die eleganten Zeichnungen zeigen Artemisia als Architektin des bewunderten Grabmals, als erfolgreiche Heerführerin und als engagierte Erzieherin ihres Sohns und Erben, der unter ihren Augen in allen Staats- und Kriegskünsten ausgebildet wird und dem sie schließlich – Ende gut, Alles gut – Krone und Reich in tadellosem Zustand überantwortet!
Eigentlich hätte Katharina sich für Houels Projekt empfänglich zeigen können: Als Mitglied der Medici-Familie war ihr das Gespür für erfolgreiche Kunstpropaganda praktisch in die Wiege gelegt – so ließ sie beispielsweise die spektakulären Feste, bei denen sie als Regentin die Kriegsparteien zu versöhnen trachtete, in kostbaren Tapisserien verewigen. Trotzdem kam unter ihrer von Dauerkrisen geschüttelten Regentschaft das angeregte Artemisia-Projekt nicht zustande. Dies geschah erst rund vierzig Jahre später, als es Katharinas wenig geliebtem Schwiegersohn Heinrich von Navarra als neuem französischen König Heinrich IV. (reg. 1594-1610) schließlich gelungen war, die blutigen Bürgerkriege zu beenden.
Als ein Mittel, die darniederliegende Industrie des erschöpften Landes wiederzubeleben, brachte der „bon roi Henri“ eine erste nationale Tapisserie-Manufaktur auf den Weg und siedelte im Jahr 1607 dafür den eigens aus Flandern angeworbenen Hans van der Plancken und seine Mitarbeiter im ehemaligen Pariser Anwesen der Färberfamilie Gobelin an. Zu den ersten Projekten, die diese „Gründungsväter“ der später so berühmten „Manufacture des Gobelins“ in Angriff nahmen, gehörte die „Histoire de la Reine Artemisie“, für die hochqualitative zeichnerische Vorlagen ja bereits auf Halde lagen und nur noch auf Teppichformat vergrößert und den veränderten politischen Umständen angepasst werden mussten!
Die auf dieser Basis kreierte Tapisserie-Folge erwies sich von Beginn an als großer Verkaufsschlager und wurde vielfach nachgewebt: Um die hundert Teppiche nach verschiedenen dieser Vorlagen – eine stolze Zahl – sind noch aus dem 17. Jahrhundert auf uns überkommen, darunter auch die heute noch erhaltenen sechs Münchner Behänge (teils deponiert). Und auch das Schicksal erlaubte sich auf makabre Weise, die gewirkte Artemisia-Geschichte aktuell zu halten: Denn nicht nur war Heinrich, um die Staatschulden zu decken, gleichfalls die Ehe mit einer reichen Medici-Prinzessin eingegangen: Als er im Mai 1610 von einem religiösen Fanatiker ermordet wurde, übernahm die Witwe Maria von Medici wie ihre Vorgängerin die Regentschaft für den neunjährigen Thronfolger Ludwig XIII. – die ganz neu gewirkten Teppiche hingen jetzt also gerade doppelt richtig, wenn auch Maria (eine eher unglücklich agierende Regentin) bei ihrer Bildpropaganda später verstärkt auf den Wunderpinsel des Antwerpener Malerfürsten Peter Paul Rubens setzte!
Der bayerische Maximilian I. wird „seinen“ Satz an Artemisia-Tapsserien nicht so sehr mit Blick auf die propagandistische Aussage der Bildfiguren erworben haben, sondern vielmehr als bewunderte Industrieleistung des französischen Hofs, mit dem man sowieso in „good terms“ zu stehen wünschte. Der Versuch Heinrichs IV., das luxuriöse Kunsthandwerk mit gezielten Fördermaßnahmen im eigenen Land heimisch zu machen, wird den Wittelsbacher, der zeitgleich ähnliche Strategien verfolgte, auch in dieser Hinsicht interessiert haben. In München schmückten die französischen Artemisa-Teppiche bei Staatsbesuchen die Wände der neuen Residenzgemächer. Dass der alte Maximilian 1651 selbst Land und Thron seinem unmündigen Sohn Ferdinand Maria unter der De-Facto-Regentschaft seiner Witwe Maria Anna überlassen sollte, ahnte man zur Zeit des Ankaufs natürlich noch nicht!