Residenz München

„Ja laust mich der Affe…?“ Verkehrte Welt und Automatenbegeisterung in der Schatzkammer

Spielwerk Affe Residenz München

Seit diesem Frühjahr haben wir in Raum IX der Schatzkammer eine neue Schauvitrine eingerichtet, hinter deren goldglänzender Front wir in periodischen Abständen wechselnd jeweils ein Einzelobjekt oder eine kleine zusammengehörige Gruppe aus unseren reichen Beständen gesondert mit den Besucherinnen und Besuchern unter die Lupe nehmen wollen. Anhand dieser Beispiele möchten wir die meist längeren und immer interessanten Geschichte(n) unserer Schätze ausführlicher darstellen, als es angesichts von über 1200 Kostbarkeiten in den insgesamt zehn Sammlungsräumen per Audioguide oder kurzen Begleittexten sonst möglich ist. Den Anfang unserer „Vorstellungsreihe“ haben wir schon vor einigen Wochen mit einer besonders faszinierenden Rarität gemacht: Einem goldenen Automatenkunstwerk aus dem späten 16. Jahrhundert…

Automat (Affe als Dirigent)Valentin Drausch und Georg Bernhart zugeschrieben, München, um 1578 (?) Ebenholz, Silber, Gold, Email, Rubine, Diamanten, Smaragde, Perlen H 14,2 / B 19,5 / T 12,5 cm, Wildrufe: L 13,5 / 7 / 6 cm; Residenz München, Schatzkammer

Automat – Valentin Drausch u. Georg Bernhart zugeschr., München, um 1578 (?), Ebenholz, Silber, Gold, Email, Rubine, Diamanten, Smaragde, Perlen; 14,2 x 19,5 x 12,5 cm (Wildrufe: 6-13,5 cm); Residenz München, Schatzkammer

Ein goldenes Überraschungs-Ei

Der Automat auf kastenförmigen Sockel mit seiner wie einem Märchen entsprungenen Tiergruppe darauf mutet geheimnisvoll an – und verbirgt tatsächlich Geheimnisse! Seit über fünf Jahrhunderten lässt er sich im Schatz der Wittelsbacher nachweisen. Vermutlich hat ihn bereits Bayernherzog Albrecht V. (r. 1550-1579), der Gründer der Münchner Schatzkammer, in Auftrag gegeben – oder als ebenso wertvolles wie verblüffendes Geschenk erhalten.

Tierische Gesangsschule

Der figürliche Aufbau des Automaten aus emailliertem Goldguss illustriert ein im Bereich der Tierfabel und in der Bildsprache alter Sprichwörter angesiedeltes Geschehen: Ein am Schulkatheder sitzender Affe als zwar engagierter, aber eher fragwürdiger Gesangslehrer schlägt dank einer unter emailliertem Gold und gedrechseltem Holz verborgenen Mechanik den Takt. So unterrichtet er die scheuen Wildtiere, die sich brav um sein Pult am Waldboden gelagert haben. Der misstönende „Gesang“ der Schüler – das Blöken und Röhren von Hirsch und Reh – bleibt zwar unhörbar. Er kann aber vom Betrachter selbst imitiert werden mit Hilfe von drei „Wildrufen“: kleinen Lockpfeifen aus Gold, die in Schubladen des Automaten-Sockels verborgen sind!

„Unboxing“ in der Renaissance

Denn der szenische Automat ist nicht nur eine mechanische Spielerei, sondern dient zugleich als verblüffender Behälter zur Verwahrung kleinformatiger Kostbarkeiten – oder vielleicht besser: zu deren wirkungsvoller Präsentation. Anspielungsreich ist seine hölzerne Basis als zinnenbewehrte Umwallung gestaltet, hinter welcher sich der buntglänzende Tiergarten erstreckt. Ihr Innerstes offenbart die kleine Festung erst jenseits zahlreicher Barrieren: So erweist sich die als Portalzone mit Fallgatter und massiver Rustika-Rahmung gestaltete Sockelfront als ein Schuber, hinter dem sich der Ausblick auf einen – nun gemalten – Wildpark enthüllt.

Doch auch diese zweite Ebene lässt sich herausziehen: Dahinter erwartet uns in einer kleinen, verspiegelten Zelle ein winziger Lanzenträger aus geschnitztem Elfenbein, der die Geheimnisse unseres Spielautomaten hütet. Allerdings scheint er auf seinem bequemen Purpurkissen mehr zu ruhen als zu wachen. Insofern erweist er sich als „Bruder im Geiste“ des über seinem Kopf dirigierenden Affen, der seine Aufgabe gleichfalls eher parodiert, als ihr effektiv nachzukommen. Die Schmalseite des Sockels birgt Schubladen, die sich an Griffen in Gestalt von Jagdtrophäen herausziehen lassen. Die größte enthält die Wildrufe, eine kleinere nahm einst sehr vermutlich den Aufzieh-Schlüssel für die Mechanik des Spielwerks auf.

Die Inszenierung des Staunens

Bei der Aufschmelztechnik „en ronde bosse“ wird der leicht angerauhte Träger aus Edelmetall weitgehend vollständig mit farbigem Email überzogen. Diese im späten 14. Jahrhundert in Frankreich entwickelte Technik ermöglichte die vielfarbige Emaillierung vollrunder Figuren, zuvor waren vor allem ebene und gewölbte Flächen mit Email verziert worden.

Bei der Aufschmelztechnik „en ronde bosse“ wird das angerauhte Edelmetall vollständig mit Email überzogen. Diese im späten 14. Jh. in Frankreich entwickelte Technik ermöglichte neben ebenen und gewölbten Flächen nun auch vollrunde Figuren mit farbiger Glasur zu verzieren.

Das schrittweise Erkunden des kostbaren Objekts, das wir hier sprachlich nachvollziehen, wird so zum faszinierenden Entdeckerspiel. Zugleich führt es dem beeindruckten Betrachter die Raffinesse der herzoglichen Sammlungsstücke vor Augen. Damit erweist sich unser Renaissance-Spielwerk als wirkungsvolles Instrument herrschaftlicher Selbstinszenierung: Ist doch der gleichermaßen reiche wie kunstverständige Herzog Albrecht als Auftraggeber des raffinierten Kunstapparats im Besitz all seiner Geheimnisse, die er nach eigenem Gutdünken offenbart oder verborgen hält. Zugleich beansprucht er die Kontrolle über die innere Mechanik seines Eigentums – ihr ebenso komplexes wie reibungsloses Funktionieren ist ein Sinnbild für den effizienten Staatsapparat, dem der bayerische Herzog vorsteht. Mit der gleichermaßen geistvollen wie großzügigen Investition des Fürsten in das humoristische Spielwerk, das der Unterhaltung seiner Gäste dient, offenbart Albrecht V. zudem die zentrale Herrschertugend der „Magnificience“, welche die gleichermaßen würdige wie charismatische Prachtentfaltung eines idealen Monarchen umschreibt.

Die schrankartige Prunkuhr (Christoph Schöner (Uhrmacher), Johann Andreas Thelott (Silberschmied) u.a.), die um 1700 in Augsburg für die Gemächer des Kurfürsten Max Emanuel entstand offenbart nicht nur zahlreiche, hinter gravierten Silberblechen verborgene Fächern für Kunstobjekte, sondern verfügt auch über ein raffiniertes mechanisches Kugelspiel!

Die schrankartige Prunkuhr (Christoph Schöner (Uhrmacher), Johann Andreas Thelott (Silberschmied) u.a.), die um 1700 in Augsburg für die Gemächer des Kurfürsten Max Emanuel entstand, offenbart nicht nur zahlreiche, hinter gravierten Silberblechen verborgene Fächer für Kunstobjekte, sondern verfügt auch über ein mechanisches Kugelspiel!

Auch außerhalb der Schatzkammer und bis ins 19. Jahrhundert hinein warten übrigens noch zahlreiche andere Kunstobjekte in der Residenzsammlung mit ähnlichen „Strategien der Verblüffung“ auf, namentlich die raffinierten Verwandlungsmöbel, die vorrangig der Präsentation ihres verborgenen Inhalts oder ihrer mechanischen Sonderfunktionen dienten: Ihre sich verspielten Geheimfächer und technischen Überraschungen verweisen stets auf die unerschöpflichen Ressourcen und die potentielle Allmacht des (fürstlichen) Besitzers – Moderne Allmachtsfantasien angesichts des frisch erworbenen Smartphones oder der neuesten Luxuskarre lassen aus der musealisierten Vergangenheit grüßen…

Auch der etwas ältere Kabinettsschrank (Johann Georg Esser u. Meister Wolfbauer zugeschrieben, Augsburg, um 1680/85) prunkt mit „Geheimfächern“ die nacheinander zu öffnen zur geplanten spielerischen „Eroberung“ dieses kostbaren Sammlungsmöbels gehört

Auch der etwas ältere Kabinettsschrank (Johann Georg Esser u. Meister Wolfbauer zugeschr., Augsburg, um 1680/85) prunkt mit „Geheimfächern“: Sie nacheinander zu öffnen gehörte zur spielerischen „Eroberung“ dieses kostbaren Sammlungsmöbels.

Verkehrte Welt – Von Affen und Menschen…

Auf den Seiten des kostbar illuminierten Gebetbuchs des Johann II. von Pfalz-Simmern fangen Hasen einen Jäger und braten ihn samt seinem Hund am Spieß (Buchmalerei von Albrecht Glockendon, 1535, Österreichische Nationalbibliothek)

Auf den Seiten des kostbar illuminierten Gebetbuchs des Johann II. von Pfalz-Simmern fangen Hasen einen Jäger und braten ihn samt seinem Hund am Spieß (Buchmalerei von Albrecht Glockendon, 1535, Österreichische Nationalbibliothek)

Der Affe, der die Tiere unterrichtet, gehört zu den beliebten Bildmotiven der „Verkehrten Welt“, in der Hasen den Jäger erschießen, Mäuse die Katze zu Grabe tragen und der Fuchs der Gans die Beichte abnimmt. Diese „Verkehrte Welt“ erweist sich in der internationalen Kunst- und Kulturgeschichte als extrem langlebig und beliebt: Als allgemein verständliche Bildparodien erscheinen ihre Protagonisten in altägyptischen Grabmalereien, an romanischen Kirchenportalen oder auf spätgotischen Buchminiaturen.

Was darf Satire?

Die Partitur des Affen zeigt die eckige „Mesural-Noten“, die für die Niederschrift der mehrstimmigen Vokalmusik des 16. Jahrhunderts Anwendung fand.

Die Partitur des Affen zeigt die eckige „Mesural-Noten“, die für die Niederschrift der mehrstimmigen Vokalmusik des 16. Jahrhunderts Anwendung fand.

Die in dieser Spiegelwelt dargestellte Umkehrung der Verhältnisse sorgt für humoristische, aber auch kritische Irritationen. Die herrschenden Zustände werden infrage gestellt und der stetige Druck, ihnen zu gehorchen, in der Betrachtung spielerisch aufgehoben. Letztlich dient diese augenblicksweise Entlastung durch das „verkehrte“ Gegenbild allerdings dazu, die Berechtigung der angestammten Ordnung erneut zu bestätigen. So wird auch die Umkehrung der Lehrer-Schüler-Hierarchie durch den ungezügelten, frechen Affen aufgefangen durch die tatsächliche Regelhaftigkeit der rational berechenbaren Automatenbewegung: Sie zwingt den frechen Anarchisten, stets ordentlich den vorgegebenen Takt zu schlagen.

Beweglicher Automat in bewegten Zeiten

Darstellungen der „Verkehrten Welt“ sind nicht nur aus Antike und Mittelalter bekannt. Sie finden sich besonders häufig in der Frühen Neuzeit, in der auch unser Automat entstand: Das 16. Jahrhundert, von uns als glanzvolle Renaissance-Epoche gefeiert, ist für die Zeitgenossen auch und vor allem eine fordernde Periode des Übergangs gewesen, gezeichnet von weitreichenden gesellschaftlichen wie politischen Umwälzungen: Die Reformation stellte die jahrhundertealte kirchliche Ordnung auf den Kopf, die Entdeckung neuer Kontinente veränderte das Weltbild für immer und zu allem Überfluss drehte sich diese Welt als rotierende Kugel nun neuerdings auch noch um die Sonne, statt wie bislang umgekehrt – hätte es schon Zeitungen im modernen Sinne gegeben, hätte wohl so mancher keine Lust gehabt, sie jeden Morgen aufzuschlagen! Angesichts allgemeiner Verunsicherung wird die Verkehrung angestammter Überzeugungen und Werte zum vorherrschenden Lebensgefühl, das sich nicht zuletzt in den Künsten niederschlägt!

Fuchs als geistlicher Berater der Gänse, spätmittelalterliche Ofenkachel / Der Papst und seine Berater, satirisches Reformations-Flugblatt, um 1521 / Papst-Karikatur, der als Autorität so berufen sei, wie ein Esel zum Musizieren, Holzschnitt v. Lukas Cranach, 1545

Fuchs als geistlicher Berater der Gänse, spätmittelalterliche Ofenkachel / Der Papst und seine Berater, satirisches Reformations-Flugblatt, um 1521 / Papst-Karikatur, der als Autorität so berufen sei, wie ein Esel zum Musizieren, Holzschnitt v. Lukas Cranach, 1545

Der Affe – Symbol teuflischen Trugs oder menschlicher Kreativität?

Hauptakteur unseres Automaten ist der einst bewegliche goldene Affe auf dem Lehrstuhl. Den kirchlichen Autoren des Mittelalters gilt das freche Tier als eine irdische Verkörperung des Satans. Seine menschenähnlichen, aber grotesken Züge erscheinen als ungehörige Parodie des göttlichen Ebenbildes, ähnlich wie es auch Luzifer und seine gefallenen Engel sind: Einst schöner als alle Kreaturen, werden sie nach ihrer Rebellion gegen den Schöpfer zu Zerrbildern ihrer einstigen Himmelsnatur, die in der Hölle am besten aufgehoben scheinen! Auch der Hang des Affen, menschliches Tun zu imitieren, gilt als so ein betrügerisches Zerrbild vernünftigen und moralischen Handelns – eben als sinnentleerte „Nachäfferei“.

Affe als Maler, Jean-Baptiste Siméon Chardin, 1740, Musée du Louvre

Affe als Maler, Jean-Baptiste Siméon Chardin, 1740, Musée du Louvre

Erst in der Neuzeit wird die Vorliebe des geschickten Tieres zur Nachahmung positiver gesehen: In den vor allen in Frankreich beliebten „Singeries“ erscheint der Affe nun häufiger als Abbild des Künstlers! Der Versuch von Malern und Bildhauern, Mensch und Natur in ihren Werken in idealer Schönheit nachzubilden, wird im Symbol des selbstbewusst mit Pinsel und Meißel hantierenden Primaten skeptisch hinterfragt. Aber auch diese Neubewertung als kreativer Nonkonformist macht den Affen in der etablierten Gesellschaft nur in Grenzen salonfähig: Noch 1879 wird Wilhelm Busch in seiner Bildergeschichte vom Affen Fipps, der als Gefangener der Menschen deren bürgerliche Welt anarchisch auf den Kopf stellt, bemerken: „Selten zeigt er sich beständig“…

Verteufelt kunstvoll…

Mit feinen Sticheln und Punzen wird die Struktur des Haarkleides des liegenden Rehs in die goldene Oberfläche graviert.

Mit feinen Sticheln und Punzen wird die Struktur des Haarkleides des liegenden Rehs in die goldene Oberfläche graviert.

Auch unsere äffische Singschule spielt mit der Mehrdeutigkeit von teuflischem Betrug und künstlerischer Kreativität: Der Affe verlockt die Tiere, zu singen, also Laut zu geben – und setzt letztlich so die hellhörigen Jagdhunde auf ihre Spur. Andererseits gehört die Fertigkeit, die „Tiermusik“ mittels eigens erfundener Wildrufe aus Metall täuschend nachzuahmen, wie es der Affe lehrt, zu den besonderen Künsten eines Jägers.

Musikalische „Nachäfferei der Natur“ – ganz automatisch?

Trinkgefäß in Form eines Bären als JägerHans II Ment, Augsburg, um 1559-86, Zubehör: Valentin Drausch und Heinrich Wagner, München, 1581 (?) Silber, vergoldet, Ambra, Holz, Email, Diamanten, Rubine, Perlen, Residenz München, Schatzkammer

Trinkgefäß in Form eines Bären als Jäger
Hans II Ment, Augsburg, um 1559-86, vergoldetes Silber, Ambra, Holz, Email, Diamanten, Rubine, Perlen, Residenz München, Schatzkammer

Nicht nur die beliebten Ausflüge in die Verkehrte Welt, sondern auch die Faszination für Automaten, also für Maschinen, die vorbestimmte Abläufe selbsttätig ausführen, ist uralt: Schon der griechische Gott des Handwerks Hephaistos (römisch: Vulkan) soll goldene Automaten in Menschengestalt geschaffen haben, die ihm als androide Dienerschaft zu Gebote standen. Im Zeitalter der Renaissance, das mit neuem Blick auf überliefertes Wissen und Techniken der Antike zurückgriff, erlebte die Automatenkunst einen enormen Aufschwung: Indem tote Materie mittels Kunst und Wissenschaft in Bewegung versetzt und gleichsam mit einer lebendigen Seele begabt wurde, erschienen der Feinmechaniker und sein fürstlicher Auftraggeber gewissermaßen als irdische Götter: Sie wiederholten den biblischen Schöpfungsakt nach ihren eigenen Gesetzen und schufen künstliche Abbilder natürlicher Wesen. Der kunstreiche Automat offenbart insofern eine neue Perspektive auf die Welt – und wird zu einem ebenso sprechenden wie unterhaltsamen Machtsymbol.

Sich nicht zum Affen machen… – Automaten und Trinkspiele

Trinkspiel „Diana auf dem Hirsch“, Matthäus (Matthias) Wallbaum (Walbaum) zugeschrieben, Augsburg, Anfang 17. Jh., München, Schatzkammer

Trinkspiel „Diana auf dem Hirsch“, M. Wallbaum zugeschrieben, Augsburg, Anfang 17. Jh., München, Schatzkammer

In Deutschland entwickelten sich im 16. Jahrhundert die freien Reichsstädte Nürnberg und Augsburg mit den zahlreichen dort tätigen Goldschmiedewerkstätten zu bedeutenden Zentren der Automatenkunst, für Uhren und mechanisch bewegliche Figuren aus Edelmetall. Auch belieferten sie die deutschen Höfe mit den beliebten Trinkspielen: Diese von verborgenen Zahnrädern und Federn angetriebenen Figuren aus Gold und Silber dienten auf der Festtafel zugleich als Weinbehälter: Der Gast, vor dem der oft Melodien scheppernde Mechanismus zum Stillstand kam, musste aus verborgenen Öffnungen einen Trunk tun – und zwar ohne aus dem unhandlichen Apparat einen Tropfen zu verschütten, sollte nicht nochmals nachgeschenkt werden – eine Spielart der vielgepriesenen verfeinerten Lebensart, die gar nicht selten in stabiler Alkoholvergiftung endete! In der Münchner Schatzkammer haben sich Zeugnisse dieser höfischen Mode erhalten. In ihrer Gestaltung gehen die Themen von Jagd und Spiel eine enge Verbindung ein.

Der Ruf der Wildnis – der Hirsch als fürstliches Opfer höfischer Jagdleidenschaft

Der Schüler unseres Affen, der Hirsch, tritt von jeher in der Überlieferung als machtvolles Naturwesen auf: Weiße Hirsche mit goldenen Halsbändern locken in alten Sagen den Helden über die unsichtbare Grenze in die Jenseitswelt, mütterliche Hirschkühe säugen die im Wald verirrten Königskinder. In der christlichen Bildsprache erscheint der Hirsch, der laut den biblischen Psalmen „nach frischem Wasser lechzt“, zudem als Symbol der Taufe. Aber der durch seine mächtige Geweihkrone geadelte „König des Waldes“ ist zugleich auch ein ebenso reines wie majestätisches Opfer. Er ist das würdigste Jagdwild menschlicher Herrscher – sein Schädel wird triumphierend als erinnerungsschwere Trophäe aufgehängt, nicht nur an alpenländischen Hausgiebeln, sondern auch im (heute verschwundenen) Khirn-Gang („Gehörngang“) der Residenz, der die Neubauten Maximilians I. ab dem frühen 17. Jahrhundert mit den älteren Teilen der mittelalterlichen „Neuveste“ verband.

Trinkgefäß in Form eines Hirsches Elias Zorer, Augsburg, um 1590-1594 / Zierplatte mit Hirschjagd: Silberrelief von Johann Andreas Thelott, Augsburg, um 1725-29 / Relief mit Hubertusbild Georg Lorenz II Gaap, Augsburg, um 1708-10; München, Schatzkammer

Relief mit Hubertusbild Georg Lorenz II Gaap, Augsburg, um 1708-10 / Trinkgefäß in Form eines Hirsches, Elias Zorer, Augsburg, um 1590-1594 / Zierplatte mit Hirschjagd: Silberrelief von Johann Andreas Thelott, Augsburg, um 1725-29 / München, Schatzkammer

Trügerische Leidenschaft

Die Griffe der seitlichen Schubladen sind als goldene Geweih-Trophäen modelliert

Die Griffe der seitlichen Schubladen sind als goldene Geweih-Trophäen modelliert

Das Bildprogramm unseres Automaten kombiniert diese mystisch-entrückte Symbolik mit dem zeitkritischen Thema der „Verkehrten Welt“: Wie der vom Teufel versuchten Menschenseele drohen auch Hirsch und Reh tödliches Verderben stets und in erster Linie durch das Chaos der unfrommen Leidenschaften, gemeinhin auch bekannt als Sexappeal, der schon in Mittelalter und Neuzeit hie und da für Verwirrung sorgte: Denn was ist unsere kleine goldene Musikstunde anderes als die Ermunterung des Hirschen durch den teuflischen Affen, unklug seinen Brunst- und Liebesschrei „herauszusingen“, der den Jäger (a.k.a. Satan) auf seine Fährte bringt? Und die Hirschkuh, schwach und gefühlsbetont, wie alle Frauen, eilt, verführt vom täuschenden Klang des Wildrufs, aus dem Schutz des Waldes heraus selbst in die Schusslinie der Flinten! Wer als Kind „Bambi“ gesehen hat, weiß, wie traumatisch dieses der Natur entnommene Bildmotiv die Psyche prägen kann….

Goldene Verlockung

Hirsch-, Fuchs-, und Mauspfeife aus Gold - noch voll funktionstüchtig, wie wir erblasen haben...

Hirsch-, Fuchs-, und Mauspfeife aus Gold – noch voll funktionstüchtig, wie wir erblasen haben…

Eher kostbare Schaustücke als praktische Utensilien einer Jagdausrüstung stellen die drei goldenen, mit Edelsteinen besetzten Lockrufe dar. Doch verweisen sie auf eine bis heute lebendige Technik innerhalb der Lockjagd, bei welcher der unternehmungslustige Waidmann möglichst nah an das Beutetier heranzukommen sucht, indem er es durch die Nachahmung von Brunst- und Hilferufen seiner Artgenossen anzieht. Erste Hinweise auf Lockpfeifen aus gedrechselten Knochen reichen ins 13. Jahrhundert zurück. Hierzulande etablierte sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die (auch auf auf dem Gebiet der Automatenkunst brillierende) Reichsstadt Nürnberg zu einem Produktionszentrum, wo damals zwölf Meisterbetriebe im „Waidwerck und Wildenpfeiffenwerck“ tätig waren. Unterschiedliche Materialien, eingesteckte Metallzungen etc. kamen in Einsatz, um Vögel oder Haarwild anzulocken: Der kleinste unserer drei Wildrufe, eine „Mausepfeife“, soll den schlauen Fuchs überlisten, indem das hilflose Fiepen seiner bevorzugten Beute imitiert wird.

Hirschaftszeiten…

Innerer Schuber des Automaten mit gemaltem Wildpark

Im 16. Jahrhundert waren die Jagdgründe der bayerischen Herzöge rund um München für ihren Reichtum an Hirschen berühmt: So unterhielt Albrechts V. Vater, Herzog Wilhelm IV., seinen hohen Gast Kaiser Karl V., als dieser 1530 München besuchte, mit einer Prunkjagd auf die edlen Tiere. Besondere Berühmtheit erlangte der herzogliche Lustgarten, der östlich des jetzigen Hofgartens im Bereich des Marstallplatzes lag und neben dem sich nach Norden (im Bereich des heutigen Englischen Gartens) das nächste, als „Hirschanger“ bekannte Jagdgebiet erstreckte. Von den Fenstern eines Lusthauses, das Albrecht V. am nordöstlichen Rand des Gartens errichten ließ, konnten die Tiere beobachtet und herangelockt werden. Ein Zeitzeuge berichtet: „Des Herzogs neuer Garten […] hat folgende Besonderheit, die sich anderswo kaum findet, dass sich abends, wenn es dunkel wird, eine große Herde von hundert oder mehr Hirschen bis fast an die Fenster des Sommerhauses begibt“. Ob unser gemalter Wildpark im Inneren des Automaten diese einstige „Idylle in Reichweite“ widerspiegelt?

Ein Smaragdbaum wirft seine glitzernden Schatten....

Ein Smaragdbaum wirft seine glitzernden Schatten….

Wir haben hier nur einige Aspekte dieses einzelnen Schatzkammerstücks angerissen: Wie gesehen, verbinden Sie das kostbare kleine Objekt nicht nur mit der Geschichte der Residenz, der Wittelsbacher und Münchens, sondern im Weiteren mit vielen unterschiedlichen Facetten der europäischen Kulturgeschichte insgesamt, sowie darüber hinaus mit einer zahllosen Fülle teils ähnlicher, teils auf den ersten Blick sehr andersartiger Artefakte! Dazu tritt die schlichte Schönheit der ebenso fantasievollen wie handwerklich vollendeten Ausführung, die ganz unabhängig von Inhalt und historischem Kontext für Faszination sorgt.

In Zukunft hoffen wir, weitere Blätter dieses spannenden Geschichtenbuchs unserer Schatzsammlung aufzublättern!