Es kreucht und fleucht, klettert, schwimmt und schleimt, krächzt, brüllt und schnurrt, liegt dekorativ zwischen Obst und Blumenstillleben herum oder stürzt sich malerisch auf Beute: Die in der Residenz ausgestellten Kunstwerke, namentlich Gemälde, Kleinplastik und Bildteppiche, sind eine wahre Menagerie: Tierdarstellungen aus fünf Jahrhunderten, von der exotischen Raubkatze bis zur heimischen Schnecke, geben sich in den hochherrschaftlichen Räumen des einstigen bayerischen Herrschaftszentrums ein Stelldichein. Ist es, weil die Mächtigen schon damals wussten, wie publikumstauglich das stimmungsvolle Nebeneinander von Herrchen und Chief Pet zu bebildern ist? Oder hatten die Wittelsbacher einfach über Jahrhunderte hinweg ein besonders großes Herz für Tiere?
Für die jagdbegeisterten Waidmänner und -frauen der Dynastie wird das in gewisser Weise wahrscheinlich zutreffend sein. Tatsächlich aber ist es aber vor allem die oft zitierte und vielfach noch heut verbreitete Symbolik verschiedener Tierdarstellungen, die den heimischen und exotischen Kreaturen einen Platz auf den repräsentativen Kunstwerken sicherte und ihnen mal diese, mal jene Bedeutung zuwies – oder beides zugleich. Bestes Beispiel: die Schlage, die recht ambivalent durch die westliche Kunstgeschichte kriecht: Der leidige Zwischenfall mit dem Paradiesapfel hängt ihr an wie eine alte Haut. Andererseits gibt es aber auch die noch viel ältere Kariere als Verkörperung weiser, wenn auch gefährlicher Erd- und Muttergottheiten. Zum Glück: Denn drum darf sich die gar nicht so fiese Natter in der Residenz am Speer der „Fortitudo“ oder am Altar des „Allgemeinen Wohls“ emporschlängeln.
Natürlich soll man aber auch vor lauter Symbolik nicht die kreative Freude der Künstler an reizvollen Motiven unterschätzen: Manchmal symbolisiert (um hier kurz den Psycho-Übervater Sigmund Freud zu adaptieren) der Rüssel eines Elefanten auch einfach nur die Nase eines Elefanten. Das gilt sowieso und verstärkt für Kunstwerke, die nach dem Mittelalter entstanden sind. Trotzdem schwingt das symbolträchtige Erbe unterschwellig stets mit: Denn dass Tierdarstellungen lange Zeit hindurch mit einer Bedeutung als Bildzeichen aufgeladen wurden, verdankt sich in großen Teilen einem wahren Bestseller des Mittelalters – dem „Physiologus“ („Der Naturkundige“): Eine aus verschiedenen antiken Quellen gespeiste Textsammlung, die ursprünglich ca. 200 n. Chr. – wohl in Alexandria – zusammengetragen wurde und vielfach abgeschrieben zunächst in Klöstern und später geradezu als ein Volksbuch kursierte. In 55 Beschreibungen von Tieren, Steinen und Pflanzen breitet sich ein ganzes Panorama von wissenschaftlichen und sagenhaften Erkenntnissen des Altertums über die Geheimnisse der Natur aus. Seinen durchschlagenden Erfolg verdankt dieser Schatz ursprünglich heidnischer Überlieferung aber vor allem einem anonymen frühchristlichen Kompilator, der die gesammelten Beobachtungen mit dem Heilsgeschehen – mit Christus selbst oder dem Wandel seiner Nachfolger – in Verbindung setzte. Dabei interpretierte er das eine als Gleichnis des anderen, nach dem Schema „Wie der Physiologus von diesem oder jenem Tier sagt – so tut auch Christus“. Machen wir uns also auf die Suche nach ein paar Freunden des alten Naturkundigen in der Residenz:
Den spektakulären ersten Platz besetzen hier die Fabeltiere, an die vielleicht auch unser Physiologus nur so ungefähr geglaubt hat, die aber als Sinnbilder für Christus und seinen teuflischen Widersacher stehen: Da ist der ägyptische Wundervogel Phönix, der seine Unsterblichkeit unter Beweis stellt, in dem er sich selbst verbrennt und verjüngt aus dem Feuer hervorgeht. Er verkörpert daher ideal das Geheimnis der Auferstehung!
Für eine solche, allerdings politische Wiederauferstehung steht auch der Phönix, der auf dem nachträglich eingesetzten Deckengemälde G. A. Pellegrinis in der Grünen Galerie der Residenz friedlich vor sich hin lodert: Der Auftraggeber, der pfälzische Wittelsbacher Johann Wilhelm, lässt auf der Leinwand die Wiederlangung der 1623 an die bayerischen Cousins verlorenen Ehrentitel feiern.
Auch im benachbarten Audienzzimmer züngeln goldene Flammen, in denen sich der geheimnisvolle Salamander wälzt, der so gar nichts mit den uns bekannten Lurchen zu tun hat: Der Physiologus berichtet, dass der Salamander nicht nur im Feuer lebt und ernährt, er bringt es sogar zu Erlöschen – und meint damit das Feuer der Sünde, weshalb das goldene Fabeltier über dem Thron des Herrschers natürlich gut platziert ist!
Auch das allgemein geschätzte Einhorn verdankt seine ungebrochene Popularität der ursprünglichen Bedeutung als Symbol der Reinheit: Kann es doch nur von einer Jungfrau gefangen werden, in dessen Schoß es sich niederlegt: „So auch Christus“ schlussfolgert der Physiologus – denn der Gottessohn nimmt sterbliche Menschennatur im Schoß seiner jungfräulichen Mutter an und opfert sich so für die Erlösung des Sünders…
Aber nicht nur den Phantasiewesen widmet sich die antike Enzyklopädie, sondern auch heute noch bekannten und geschätzten Vertretern des Tierreichs, wie dem Pfau: Der gilt manchen gleichfalls als Auferstehungssymbol, da sein Fleisch unverweslich sei. Häufiger stolziert der eitle Vogel aber durchs Bild als ambivalentes Sinnbild des zu Höherem bestimmten, aber sündigen Menschen: Er freut sich am Glanz seiner hochragenden, prächtigen Schwanzfedern. Fällt aber sein Blick nieder auf die plumpen Krallenfüße, so muss er peinlich berührt und gellend aufschreien – „Wohlgeredet hat der Physiologus vom Pfau“, resümiert unser Textkompilator daher zufrieden!
Gleichfalls hübsch anzusehen, aber ein ziemlich übler Geselle ist hingegen der Specht, der mit seinem Klopfen untersucht, ob ein Baum krank und hohl ist, so dass er darin seine Wohnstatt nehmen kann: Man ahnt es schon – er ist der üppig aufgemachte Teufel, der sich im hohlen Geist schwacher Zeitgenossen einnisten will…
Soviel zur Skepsis des Physiologus angesichts des scheinbar harmlosen Insektenfressers – den gefährlichen Raubkatzen hingegen gilt seine uneingeschränkte Zuneigung: Der Löwe (und zwar nicht nur der bayerische) ist ja sowieso König der Tiere, zugleich aber auch ein starkes Symbol christlicher Heilsversprechen: Die Löwin nämlich bringt ihre Jungen tot zu Welt und erst am dritten Tag werden sie durch den Anhauch und das Gebrüll der Eltern zu Leben erweckt – analog zum österlichen Geschehen, also den drei Todestagen Christ im Grab und der anschließenden Auferstehung. Der gesprenkelte Panther wiederum ist allen Tieren lieb, außer dem satanischen Drachen. Warum? Weil von des Panthers Stimme balsamischer Wohlgeruch ausgeht. Das kann sich nur auf die Verbreitung des Evangeliums beziehen, schlussfolgert unser fromm-begeisterter Naturforscher.
Noch viele gefiederte, geschwänzte und vielbeinige Freunde des Physiologus gäbe es zu entdecken, vom Wiedehopf über den Strauß zum Hirsch und Affen. Enden wollen wir aber mit dem Elefanten: Der, so weiß unser antiker Naturforscher, hat keine Gelenke, und ist deshalb hilflos, wenn er zu Boden geht, weshalb er sich zum Schlafen stehend an einen Baum lehnen muss. Deshalb rät der Physiologus dem Elefantenjäger, den Baum anzusägen, damit er bei einseitiger Belastung umkippt. So soll der Jäger dem müden Elefanten eine unliebsame Überraschung bereiten und das kostbare, umgefallene Tier gefahrlos abtransportieren.
Die Vorstellung, wie sich ein Elfenbeinschmuggler des 3. Jahrhunderts, der auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse vertraut, urplötzlich mit einem sehr irritierten, sehr wachen – und überraschend gelenkigen – Elefanten konfrontiert sieht, wärmt das Herz und gibt den fantasievollen Darstellungen der exotischen Dickhäuter einen ganz eigenen Charme. Deshalb: „Wohlgeredet hat der Physiologus“!