In der sommerlichen Schwüle, die in den Juliwochen in den Residenzräumen herrscht(e), versteht man schon, warum die hochwohlmögenden Bewohner dieser Prunkräume einst ab Mai hastig die Koffer zu packen pflegten und gern in die luftigere „campagne“ der Nymphenburger Sommerresidenz übersiedelten. Gerade in den kleinen Kabinetten, welche die geradlinig hintereinander angeordneten Herrscherappartements in der Regel beschließen und als (leicht beheizbare) mollig warme Rückzugsorte dienten, wird es heuer schnell drückend. Trotzdem war der Eintritt in diese „cabinets“ bei Höflingen einst hochbegehrt, gehörten sie doch zur intimen und exklusiven Lebenssphäre der Mächtigen. Dort eingelassen zu werden, galt als besondere soziale Auszeichnung: Obwohl räumlich eine Sackgasse, konnten „cabinets“ daher in der Wahrnehmung als möglicher Startpunkt einer höfischen Karriere gelten. Gleichzeitig waren diese (ansatzweise) privaten Gemächer oft besonders luxuriös ausgestattet und bargen rare, teils verborgen gehaltene Kunstwerke, an denen sich der Regent persönlich und von Nahem, begleitet höchstens von wenigen Vertrauten, delektieren konnte.
Getreu dem Grundsatz „Gelebte Geschichte im Museum“ können Besucherinnen und Besucher derzeit in den sogenannten „Kurfürstenzimmern“ der Residenz, die im 18. Jahrhundert nacheinander von den kurbayerischen Hofbaumeistern Johann Baptist Gunetzrhainer und François Cuvilliés ausgestaltet wurden, all diese überlieferten Erfahrungen selbst nachvollziehen: Die enorme Wärme, den Andrang vieler Personen und die opulente künsterische Ausstattung der beiden in der Mitte der weitläufigen Raumflucht gelegenen Kabinette (Räume 026 u. 027). Die nur eine Fensterachse breiten Zimmer beschließen jeweils die spiegelbildlich angeordneten einstigen Wohnungen des Kurfürsten Max III. Joseph (reg. 1745-1777) und seiner Gemahlin Maria Anna von Sachsen-Polen (1728-1797). Wie zur Einrichtungszeit um 1760/63 ist von hier aus der Übergang vom Bereich des Ehemannes in den seiner Gattin und umgekehrt möglich.
Im Zuge unserer schrittweisen Strategie, das im Zweiten Weltkrieg komplett zerstörte Doppelappartement seiner durch Inventare dokumentierten historischen Ausstattung anzunähern, haben wir uns in den letzten Wochen den Kabinetten mit besonderem Eifer gewidmet. Leider gestaltet sich dies weder ganz einfach noch ganz eindeutig: Nicht nur wurden die „Kurfürstenzimmer“ im Zuge des Wiederaufbaus im Zuschnitt teilweise verändert und anschließend als Abfolge von Rokoko-Stilräumen neu eingerichtet. Sondern schon vorher hatten die Gemächer vielfachen Wandel erlebt. Denn anders als die weithin berühmten Prunkappartements der Residenz, an ihrer Spitze die „Reichen Zimmer“, die schon früh als sichtbarer Ausweis Wittelsbacher Größe Denkmalcharakter besaßen und daher nur wenig verändert wurden, dienten die Kurfürstenzimmer tatsächlich dauerhaft als herrschaftliche Wohnung: Noch im 19. Jahrhundert lebten hier Kronprinz Ludwig (I.) und seine Gemahlin, später einige ihrer zahlreichen Kinder samt Familie, für die zahlreiche Umgestaltungen und Anpassungen an den jeweiligen Zeitgeschmack und Wohnkomfort erfolgten (Stichwort „Badezimmer“…). Dies gilt auch für unsere intimen Kabinetträume, deren Einrichtung aber dennoch bis zum Ende der Monarchie einige durch Inventarlisten gesicherte (und wohl dynastischer Ehrfurcht geschuldete) Konstanten aufwies, an denen wir uns heutzutage orientieren.
Und so blüht seit einigen Wochen an den gegenwärtig mit blauem und gelbem Seidenstoff bespannten Wänden eine bunte, neue/alte Bilderwelt empor: Im ehemaligen Kabinett Max III. Josephs präsentiert sich eine Fülle von Miniaturgemälden auf Papier, Pergament, Kupfer und sogar auf farbig geäderten Steinplatten, die in reichen, wohl nach Cuvilliés Entwurf geschnitzten Rahmen aus vergoldetem Lindenholz sitzen. Auf Maria Annas Seite, die ihr vormals ebenso reich wie kostbar mit fantasievollen Chinoiserien dekoriertes Rückzugszimmerchen als Tee-Kabinett nutzte, blicken nun lebensgroße Rokokogesichter auf uns herab: Marie Catherine de Silvestre (1680-1743), die Frau des sächsischen Hofmalers, hat sie um 1740 mit Pastellkreiden überraschend lebendig auf Pergament gesetzt: Neben der Kurfürstin selbst im Mädchenalter erscheinen drei ihrer 14 (!) Geschwister, die von der Stirnwand aus wohlwollend vom Gatten und Schwager Max III. Joseph betrachtet werden, der hier schon in reiferen Jahren porträtiert auftritt.
Diese kleine Familienaufstellung erinnert an die einstige Gemäldeausstattung des Doppelappartements, das sich zu Lebzeiten Max III. Joseph und Maria Annas insgesamt als ein einziges, weiltäufiges Wittelsbacher Verwandtschaftsalbum darstellte, das dem kundigen Betrachter Aufschluss über die dynastische Verbindungen des bayerischen Herrscherpaares, seine erlauchte Herkunft und künftigen Erben Aufschluss gab: Dabei dominierten auf der Seite des Hausherrn Bildnisse aus der pfälzischen Linie des Hauses rund um Vetter Karl Theodor, dem vertraglich die Nachfolge in Bayern zustand. In den Räumen der Kurfürstin prangten Porträts ihrer vielköpfigen Wettiner Familie, die wir nun in Auswahl in ihrem einstigen Kabinett versammeln.
Zwar bleiben wir mit solch einer Neueinrichtung weit entfernt von einer tatsächlichen Rekonstruktion, aber wir nähern uns doch einem ursprünglichen Erscheinungsbild an, das diese kurfürstlichen Rückzugsorte im mittleren 18. Jahrhundert besaßen. Dies ermöglicht uns zugleich, den Besucherinnen und Besuchern eine Fülle von Schätz(ch)en, die lange Jahre im Depot schlummerten, in authentischem Kontext zu präsentieren (von den authentischen Rahmen ganz zu schweigen…).
Tatsächlich war der blau bespannte Raum 26 zu Max III. Josephs Lebzeiten als Miniaturenkabinett vor damals grünen Wänden mit goldenen Leisten eingerichtet.
Vielleicht plante der im persönlichen Habitus bewusst bescheiden auftretende Kurfürst hier einen schlichteren Gegenentwurf zu dem ererbten Miniaturenkabinett im benachbarten Staatsappartement der Reichen Zimmer, das sein glückloser kaiserlicher Vater Karl VII. Mitte der 1730er Jahre mit ungeheurem Ausstattungsluxus als begehbare Überwältigungsmaschine hatte einrichten lassen: In den glänzendrot lackierten Wandpanelen leuchteten über 120 Prunkstücke der seit dem frühen 17. Jahrhundert zusammengetragenen Familiensammlung von Kleingemälden – darunter zahlreiche Werke namhafter Miniaturmaler der Renaissance und des Barock wie Hans Bol, Johann König, François Bouly, Johann Wilhelm Baur oder Joseph Werner (heute vor Ort Reproduktionen).
Dem gegenüber präsentierte sich die eine Generation später für den Sohn getroffene Auswahl als heterogener Mix – auch was die Qualität betrifft, wiewohl es sich teilweise um Arbeiten derselben Zeitstufen und Künstler handelt. Vielleicht haben wir es hier mit „Ausschussware“ zu tun, die im Paradeappartement keinen Platz beanspruchen durfte, vielleicht aber auch mit persönlichen Lieblingsstücken, die etwas über die tatsächlichen Geschmacksvorlieben des kurfürstlichen Bewohners aussagen. Auf der Südwand des Kabinetts haben wir die noch in der Residenzsammlung erhaltenen Stücke dieser Auswahl gruppiert, die sich Dank eines 1770 erstellten, handschriftlichen Gemäldeinventars meistenteils leicht identifizieren lassen. Dazu gehören „Verblüffungsstücke“, die mit den augentäuschenden malerischen Effekten des „Trompe l’oeil“ arbeiten: „Vier Brustbilder, benantlich ein Türk, eine Türkin, ein alter gebardeter Mann, und ein altes Weib, solchermassen gmalet, als wenn ein jedes auf ein Brett angeheftet wäre“ geben tatsächlich vor, mit rotem Siegellack auf rohes Holz geklebte, kolorierte Kupferstiche zu sein.
Andere Stücke erstaunen durch die ungewöhnlichen Bildträger, deren farbige Textur in der Gestaltung von Landschaft und Figuren mitspricht: „Der heilige Apostel und Evangelist Johannes prediget dem Volk in der Wüste, ist auf einen raren Stein gemalet“ und „Wie Christus auf den Berg bey Tiberias mit fünf gersten Brod und zween Fischen 5000 Mann speiset, auf einen raren Stein gemalet, worann das gebürg von Natur sich zeiget“.
Dieser zweite, dunkelgrundige Heliotrop ist auch noch auf der anderen Seite bemalt („Moses‘ Quellwunder in der Wüste“) und daher eigens in einen „Wechselrahmen“ mit zwei Öffnungen eingesetzt, so dass die steinerne Bildtafel nach Laune gewendet werden kann!
So manch ungewöhnliches Motiv lässt sich dank der Inventareinträge entschlüsseln, deren Ausführlichkeit belegt, dass auch ihr Verfasser, Hofkammerrat Georg Benedict Fassmann (1720-1771), erst ein wenig in den lateinischen Klassikern wälzen musste, hier zum Beispiel in der „Aeneis“ des Vergil, wo er die Quelle fand für Joseph Werners Darstellung „wie Anchises seinem Sohn den Aneas bey der Nacht im Geist erscheint, und selben ermahnet, daß er die zum Krieg untüchtige Persohnen in Sicilien zurücklassen, und sich mit der besten Mannschaft in Italien begeben, zuvor aber die Sibylla in ihrer Höhle zu Cuma besuchen soll, welche ihn in die Elysische Felder führen, darinn er seinen künftigen zustand erfahren würde“.
Doch auch wir Heutigen sind nicht faul beim Recherchieren und können manche Fehldeutung, die seit den Zeiten des alten Fassmann hartnäckig durch die Literatur geistert, nach und nach korrigieren: So etwa im Fall des gleichfalls von Werner im Jahr 1668 gemalten „Maximilianus Emanuel Churprinz in Baiern in gestalt des geflügelten Cupido auf einen schwarzen ungezaumeten Pferde sitzend, In der Vertiefung zeiget sich ein Schlos.“ Tatsächlich handelt es sich nicht um den Wittelsbacher Max Emanuel, sondern seinen Cousin mütterlicherseits, den nachmals als „Türkenlouis“ vielgerühmten Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden (1655-1707) im Jünglingsalter: Die von verschiedenen Forschern mittlerweile als Schloss von Baden-Baden erkannte Renaissancearchitektur bot den Schlüssel für die Neuidentifikation.
Doch auch Bilder, die erst nach Fassmanns Inventur in das Kabinett gelangten, dort aber das ganze 19. und frühe 20. Jahrhundert hindurch belegt sind, hängen heute wieder am alten Platz. Dazu gehören auch Werke von Künstlerinnen, die ja bereits in Maria Annas benachbarten Kabinett in Gestalt der Pastellporträtistin Marie Catherine Silvestre einen ruhmvollen Platz besetzen. Auf der anderen Seite der Wand bezaubert in ziemlicher Höhe zusätzlich das ursprünglich in Nymphenburg lokalisierte „Blumenstück auf Holz en Miniature/ von Amalia Pachelbin gemahlen:/ Dieses Stück haben Ihro Churfürstl: Durchlaucht/ ao: 1760 gekauft“ Amalia Pachelbel (1688-1723) war eine Tochter des heute vor allem durch seinen beliebten „Canon in D“ bekannten Komponisten Johann Pachelbel. Schon früh wurde ihr künstlerisches Talent gefördert, um die „Perfection“ in Kupferstich und Aquarelltechnik zu erreichen wovon „so viele verfertigte Kunst Stücke reden“.
Hinsichtlich der Gruppierung der Gemälde helfen uns neben historischen Aufnahmen späterer Zustände vor allem Vergleichsbeispiele der Epoche, die uns über die symmetrische, auf Pendantstellungen, auf thematische und formale Paarungen setzenden Hängeprinzipien in den Gemäldesammlungen des Barock und des Rokoko Aufschluss geben – Vor rund zehn Jahren konnten wir bei der Rekonstruktion der historischen Bildverteilung in der nahen Grünen Galerie auf diesem Gebiet schon wertvolle Erfahrungen sammeln.
Und wie in der Grünen Galerie geben auch in Max Josephs Kabinett vor allem die nach François Cuvilliés‘ Entwurf individuell gestalteten Rahmen Aufschluss über einstige Gruppenbildungen: So sitzen etwa die wimmeligen „feld schlachten“ des auch in den Reichen Zimmern vielfach präsenten Maximilian de Geer in opulent mit geschnitzten Waffentrophäen und Rüstungsteilen vezierten Pendant-Rahmen, und die beiden biblischen Szenen des Joseph Weiß sind durch silberne, statt goldene Leisten formal aufeinander bezogen.
Den 1944 verlorenen Spiegel im Zentrum der Wand ersetzt heute ein Bildnis der Kurfürstin Elisabeth Auguste (1721-1794), Gemahlin Karl Theodors (reg. 1777/78 -1799), der seinem kinderlosen Vetter Max III. Joseph in der Regierung nachfolgte. Es handelt sich um die kleinformatige Kopie eines repräsentativen Porträts der neuen Landesmutter von Johann Georg Edlinger, das in den 1780er Jahren wandfest in die stirnseitige Vertäfelung des Kabinetts eingelassen wurde, über dem gleichfalls damals installierten frühklassizistischen Kachelofen, und das 1944 verbrannte.
Gegenüber der kleinteiligen Bilderfront nahm die Nordwand des Kabinetts bis zur Zerstörung ein raumhoher, reich im Rokokostil geschnitzter Wandschrank ein, der die kurfürstliche Handbibliothek barg. Teile dieses Bücherschatzes stehen heute im klassizistischen Bibliothekskabinett des Königsbaus, der weißgoldene Vitrinenschrank mit seinen lesebegierigen Putten jedoch ist verloren.
Wir präsentieren daher an der freien Nordwand nun weitere Miniaturen, die im 18. Jahrhundert meistenteils in heute gleichfalls verschwundenen Räumen der Residenz hingen: Den Mittelpunkt bildet eine qualitätvolle zeitgenössische Kopie der berühmten Kreuzigung des exzentrischen Münchner Hofmalers Christoph Schwarz (nach 1580), die in der Zwischenkriegszeit im benachbarten Schlafzimmer des Kurfürsten dokumentiert ist. In Max Josephs Kabinett ersetzt sie Schwarzs vormals hier hängendenen Zyklus von „sieben gemälde[n] von gleicher größe, die 7 fälle Christi des Herrn bey seiner Kreützziehung vorbildend“. Zwei niederländische Landschaften gegenüber lassen sich durch ihren schnörkeligen, kleinteiligen Rahmendekor der 1826 abgetragenen Barockgalerie der Kurfürstinnen im Südwesten des Residenzareals zuweisen, wo sie im Inventar von 1770 als „Zwo Landschaften mit architecktur und vielen Figuren“ erfasst sind. Die gleichfalls dort dokumentierte „seligste Mutter gottes Maria, mit den schlaffenden Jesu Kind“ von Sasso Ferrato wird durch die neu in die Residenzsammlung aufgenommene, motivisch sehr ähnliche Madonna der „Stiftung Nottbohm“ vertreten, die ein populäres Vorbild Guido Renis aufgreift.
Doch gut 250 Jahre, die uns von der Regierungszeit Max III. Joseph trennen, sind eine lange Zeit, in der so manches Stück dauerhaft abgewandert ist: Dazu gehören mythologische Szenen wie der „Neptunus […] in begleitung einiger Meer Männer, und einer Nymphe“, der an ähnliche Barockminiaturen Boulys im Kabinett der Reichen Zimmer denken lässt und vermutlich mit einem Gemälde von Johann Heiss (1640-1704) in Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zu identifizieren ist. Und einiges bleibt bislang, vermutlich für immer, im Nebel der Zeit verschollen, darunter kunstvolle, vielleicht nicht gänzlich geschmackssichere „Basteleien“ wie das „Blumen Körblein aus seidenen Flecken formiret, und auf Spiegel glas befestiget“.
Aber wir klagen nicht, sondern freuen uns an dem Übriggebliebenen, der Betrachtung nun Wiedergewonnenen und wünschen den einst so exklusiven kurfürstlichen Kabinetten trotz Enge und Hitze viele geneigte Besucherinnen und Besucher!