Wer nicht wie der befiederte Trillionär und Entenhausener Großunternehmer Dagobert Duck seine vorzügliche Freude darin findet, erfrischende Münzbäder in purem Gold zu nehmen, kann sich von der umfassenden Allgegenwärtigkeit des gelbstrahlenden Edelmetalls in der Residenz-Schatzkammer schon mal überfordert fühlen: Wie der mythologische König Midas, der alles, was er berührte, in Gold verwandelte, hungert und dürstet es so manchen zwischen schimmernden Kelchen und glänzenden Prunkplatten nach anderen Preziosen. Umso erfrischender, wenn man hinter dem zentralen Raum, der die funkelnden Kroninsignien der bayerischen Könige birgt, auf eine Sammlung wasserklarer, scheinbar gläserner Kannen, Pokale und Schalen stößt. Wunderbar elegant und formschön – aber im Vergleich zu den restlichen Gold-und Juwelenorgien auch gleichermaßen kostbar?

Heutigen Betrachterinnen und Betrachtern, die im Alltag von Massen industriell hergestellten Weißglases in Küche und Wohnraum sowie auf der Straße angesichts spiegelnder Hochhausfassaden umgeben sind, ist oft nicht bewusst, welche Faszination für die Menschen einst von der lichtbrechenden, völlig transparenten und dabei steinharten Materialität reiner Bergkristalle ausging: Während die mit hohen Kosten hergestellten Farbgläser für antike Schmuckperlen und mittelalterliche Kirchenfenster kaum jemals eine gänzliche Durchsichtigkeit erreichten, verfügten die „erdgewachsenen“, im Bergbau gewonnen Kristalle aus reinem, ungetrübtem Quarz über genau diese einzigartige Qualität. Als scheinbar „versteinertes Eis“ erschienen sie als Wunder der Natur und symbolhafte Verweise auf deren göttlichen Schöpfer, dessen Wesen sich in körperlosem Licht, in vollkommener Reinheit und Klarheit manifestierte. Die weitgetriebene Lichtsymbolik mittelalterlicher Mystiker, die sich in der stetigen Faszination des Klerus für farbig leuchtenden Edelsteinschmuck an Reliquien und Altären niederschlug, vermochte selbst verwickeltste Glaubensgeheimnisse im Bild des Bergkristalls zu fassen – durchdringt diesen klaren Stein doch ein Lichtstrahl ohne seine Materie zu verändern: So verweist er auf das Wunder der jungfräulichen Empfängnis des Gottessohnes sowie auf die Würdigkeit seiner reinen Mutter als „vas electionis“ – das „auserwählte Gefäß“…
„In der Steinschneidekunst gehen Natur und Kunst in eins zusammen“ stellt der namhafte Forscher auf diesem Gebiet, Rudolf Distelberger, fest – und tatsächlich trägt der im Fels zufällig geformte Kristall sein letztendliches Gestaltungspotential bereits von Beginn an in sich, welches Schleifer und Graveur erkennen und im mühsamen, ebenso langwierigen wie kräftezehrenden Kampf gegen die unglaubliche Härte des Materials sozusagen freilegen müssen. Kein Wunder also, dass solcherart vor allem symbolisch aufgeladene Kunstwerke von hohem Prestigewert für die Reichen und Mächtigen jedes Zeitalters entstanden. Ihren wohl größten Auftrieb erfuhr die Glyptik dann in der altertumsverliebten Renaissance, die den Steinschnitt als eine schon in der Antike geschätzte Kunstform neu zu beleben trachtete: Im 16. Jahrhundert eröffneten technische Innovationen weitaus differenziertere Möglichkeiten der Formgebung und Gravierung des widerständigen, dabei überaus spröden, zum Springen neigenden Werkstoffs. Das künstlerische und wirtschaftliche Zentrum dieser modernen Glyptik lag im oberitalienischen Mailand. Dort betrieben vor allem die Familien Miseroni und Sarachi, in die der geniale Graveur Annibale Fontana (1540-1578) einheiratete, überaus erfolgreich ihre Bergkristall-Schleifmühlen. Von hier aus lieferten sie preziöse, hauchdünn gearbeitete Schaugefäße an die Höfe von Kaisern, Königen und Fürsten nach Wien, Madrid, Prag und München – oder entsandten gleich ihre Söhne und Neffen dorthin, die dann als hochbezahlte Hofkünstler vor Ort die aufwendigen Wünsche ihrer gekrönten Auftraggeber verwirklichten.
Auch Bayernherzog Albrecht V. hätte gerne die in den nahen Alpen gefundenen Bergkristalle kostensparend direkt vor seiner Residenzstadt in einer mit Isarwasser angetriebenen Schleifmühle von Mitgliedern der Sarachi-Dynastie in schimmernde Form bringen lassen. Aber anders als seine kaiserlich-habsburgische Verwandtschaft, die einen echten Miseroni an ihren Prager Hof im edelsteinreichen Böhmen locken konnten, war der Wittelsbacher mit seiner Anwerbe-Kampagne nicht erfolgreich. Stattdessen erfolgten zahlreiche hochdotierte Aufträge von München aus an die Mailänder Werkstätten, welche die wackeren bayerischen Finanzräte vor Wut die Zähne derart aufeinanderpressen ließen, dass sie glatt im klarsten Bergkristall Bissspuren hinterlassen hätten:

„Schaukasten“ par excellence – der „Albertinische Schrein“: Kristallschnitte: Mailand; um 1560/70; von Annibale Fontana/ Kistlerarbeit: Augsburg; um 1570; wahrscheinlich Hans Krieger; Goldschmiedearbeit: Augsburg; um 1570; wohl Ulrich Eberl
So kosteten die von Fontana gegen 1570 gravierten Scheiben mit biblischen Szenen, die den berühmten „Albertinischen Schrein“ in der Schatzkammer schmücken, satte 6000 Scudi. Auf weitere 6000 Goldscudi plus eine großzügige Gratifikation belief sich 1579 die Rechnung von Fontanas Schwägern, den Sarachi-Brüdern, für die heute daneben prangende Vase mit Bacchus-Gefolge sowie die sogenannte „Galeere“, eine längliche schiffsförmige Schale, die gleichfalls noch immer glänzend durch unsere Ausstellung segelt, auch wenn sie ihre miniaturisierten Aufbauten aus vergoldetem Silber im 18. Jahrhundert verloren hat. Zum Vergleich: – ein „großer Tizian“ König Philipps II. wurde um 1598 auf ca. 200 Golddukaten geschätzt, Albrecht hätte statt seiner rund zwei Dutzend Anschaffungen von „Mutters gutem Kristall“ also auch seine Gemäldesammlung aufs großzügigste ausbauen können!


Trinkbrunnen, Mailand, um 1570/75;wohl Fontana Werkstatt; Bergkristall; geschmelzte Goldfassung (Seitenansicht siehe Titelbild)
Angesichts des materiellen und künstlerischen Aufwandes ist es daher nicht verwunderlich, dass Albrecht V. wie auch seine Nachfolger mit großem Stolz über ihre erlesene Kollektion von Bergkristallgegenständen wachten: Entsprechend nutzten sie die kostbar geschliffenen Schalen, Vasen und Platten nicht als tatsächliche Tafelutensilien, sondern stellten sie allenfalls als eindrucksvolle Schauobjekte auf getreppten Prunkbuffets bei festlichen Anlässen zur Schau. Dies gilt wohl auch für eine besonders originelle Kreation der Wittelsbacher Sammlung, die zudem mit einer kleinen ikonographischen Entdeckung aufwartet: Es handelt sich um ein zweiteiliges Gefäß, dessen unterer Teil auf flachem, goldgefassten Fuß als längliche, offene Muschelschale mit seitlichen Henkeln ausgebildet ist. Über dem stumpfen Ende der Muschel erhebt sich ein kleinerer, vasenförmiger Aufsatz, dessen obere Hälfte kegelförmig zuläuft. Die plastische Fassung aus emailliertem Gold, der die beiden Kristallgefäße miteinander verbindet, ist als Geschlinge von Delphinkörpern gearbeitet, das dünne Röhrchen enthält, die in Düsen an den Mäulern und Leibern der Fabel-Fische münden. Es handelt sich bei der fragilen Konstruktion um einen prägnant, aber etwas irreführend als „Tischbrunnen“ bezeichneten Tafelaufsatz, der theoretisch dem Mischen des aufgetragenen Weins mit Wasser dient: Der in die Trink- oder Servierschale gegossene Alkohol kann mit dem im Aufsatz-Tank enthaltenen Wasser verdünnt werden. Ein kleiner Hahn am „Hauptdelphin“ öffnet und sperrt den Zufluss des klaren Nass, das dank Schwerkraft und Flüssigkeitsdruck als winzige Fontäne in den Spätburgunder sprudelt und diesen um seine erdig-nussig-brombeerige Blume bringt.


Mit ihrer Uhr wacht Temperantia (Hans Krumpper, um 1615) am Residenztor, dass alle und alles regulär die festgesetzte Ordnung einhält…
Statt als Requisit praktischer Tugend – hier der Nüchternheit – erscheint der ebenso kostbare wie fragile Kunstgegenstand hingegen als materialisierter Anspruch solcher Vorbildlichkeit – als ein mit teurem Geld und höchstem Aufwand geschaffenes Symbol fürstlicher Mäßigkeit, der „Temperantia“, die zusammen mit ihren Schwestern „Stärke“, „Klugheit“ und „Gerechtigkeit“ ja auch als staatstragendes Quartett bis heute in Gestalt bronzener Allegorien die Tore der Residenz bewacht. „Glasklar“ steht unsere Bergkristallschale also wie so viele andere Meisterleistungen im „Schatzhaus Residenz“ an der seinerzeit gesuchten und gewollten Schnittstelle von Auftragskunst und fürstlicher Propaganda.


Wahrscheinlich beruht die Identifikation als Io-Mythos auf dem Vergleich mit einer weiteren Bergkristall-Arbeit der Schatzkammer. Dieser gleichfalls Fontana zugeschriebene Pokal zeigt nun tatsächlich zweifelsfrei die Geschichte der schönen Kuh mit ihren Hauptepisoden. Vermutlich ist es die ähnlich gestaltete Szene, in der Zeus sein Opfer in Gestalt einer Wolke einfängt und vergewaltigt, die zu der Fehlinterpretation „unseres“ kleinen Wasserspeichers führte.
Welches mythologische Paar tatsächlich dargestellt ist, erschließt sich fleißigen Leserinnen und Lesern des römischen Dichters Ovid, wenn man in dessen berühmten Metamorphosen das fünfte Buch durchblättert: Dort stößt man auf die Erzählung der keuschen Nymphe Arethusa, einer Gefährtin der jungfräulichen Jagdgöttin Diana: Als sie sich im Flusswasser abkühlt, erregt sie die Aufmerksamkeit des lüsternen Wassergottes Alpheios: Die offensichtlich marathongestählte Arethusa flieht vor seiner nasskalten Umarmung durch halb Griechenland. Schließlich hüllt Diana sie in Nebel, um sie den Blicken ihres Verfolgers zu verbergen „[Die Göttin] erhört mein Flehn, und eine der dichtesten Wolken /Wirft sie über mich hin. Rings späht nach der Dunkelumhüllten/ Tappend der Strom und forscht ratlos um den bergenden Nebel“ .
Aber auch diese Versteck wird entdeckt und so verwandelt sich Arethusa in eine Quelle, deren Wasser unterirdisch seinen Weg sucht, bevor es in Syrakus auf Sizilien ans Tageslicht tritt. Je nachdem, wie man es betrachtet, endet ihre feuchte Metamorphose mit einem finalen Happy End, denn auch der Fluss Alpheios verschwindet auf dem Festland unter der Erde, folgt der geliebten Spur und vermengt seine Wasser letztendlich mit der Arethusa-Quelle.
Unlautere Vermischung liebender Gottheiten hin oder her – mit Ovid in der Tasche macht die Deutung des Bildprogramms als mythologischer Spiegel des biblischen Susanna-Motivs an unserem Trinkbrunnen auf einmal Sinn: Kristallharte Keuschheit, die sich sinnlichen Trieben entzieht, und Rettung der Tugend (symbolisiert durch das reine Wasser) dank des Eingriffs einer göttlichen Autorität runden die Aussage unseres glitzernden Objekts nun schlüssig ab: Inhalt und Form eint solcherart die durchsichtige Klarheit sowie die steinharte Solidität, die man von einem gelungenen Requisit fürstlicher Selbstoptimierung und Selbstdarstellung erwarten darf!




