Wer nicht wie der befiederte Trillionär und Entenhausener Großunternehmer Dagobert Duck seine vorzügliche Freude darin findet, erfrischende Münzbäder in purem Gold zu nehmen, kann sich von der umfassenden Allgegenwärtigkeit des gelbstrahlenden Edelmetalls in der Residenz-Schatzkammer schon mal überfordert fühlen: Wie der mythologische König Midas, der alles, was er berührte, in Gold verwandelte, hungert und dürstet es so manchen zwischen schimmernden Kelchen und glänzenden Prunkplatten nach anderen Preziosen. Umso erfrischender, wenn man hinter dem zentralen Raum, der die funkelnden Kroninsignien der bayerischen Könige birgt, auf eine Sammlung wasserklarer, scheinbar gläserner Kannen, Pokale und Schalen stößt. Wunderbar elegant und formschön – aber im Vergleich zu den restlichen Gold-und Juwelenorgien auch gleichermaßen kostbar?
Keine Sorge! Was auf den ersten Blick wie „schlichtes“ mundgeblasenes und graviertes Glas aussieht, entpuppt sich rasch als eine Meisterleistung der frühneuzeitlichen „Glyptik“, also des (Edel)Steinschnitts: Es handelt sich um die im Wesentlichen von Herzog Albrecht V. (dem von 1550-1579 regierenden Schatzkammer-Gründer) zusammengetragene, international bedeutende Sammlung von Bergkristallgefäßen.
Heutigen Betrachterinnen und Betrachtern, die im Alltag von Massen industriell hergestellten Weißglases in Küche und Wohnraum sowie auf der Straße angesichts spiegelnder Hochhausfassaden umgeben sind, ist oft nicht bewusst, welche Faszination für die Menschen einst von der lichtbrechenden, völlig transparenten und dabei steinharten Materialität reiner Bergkristalle ausging: Während die mit hohen Kosten hergestellten Farbgläser für antike Schmuckperlen und mittelalterliche Kirchenfenster kaum jemals eine gänzliche Durchsichtigkeit erreichten, verfügten die „erdgewachsenen“, im Bergbau gewonnen Kristalle aus reinem, ungetrübtem Quarz über genau diese einzigartige Qualität. Als scheinbar „versteinertes Eis“ erschienen sie als Wunder der Natur und symbolhafte Verweise auf deren göttlichen Schöpfer, dessen Wesen sich in körperlosem Licht, in vollkommener Reinheit und Klarheit manifestierte. Die weitgetriebene Lichtsymbolik mittelalterlicher Mystiker, die sich in der stetigen Faszination des Klerus für farbig leuchtenden Edelsteinschmuck an Reliquien und Altären niederschlug, vermochte selbst verwickeltste Glaubensgeheimnisse im Bild des Bergkristalls zu fassen – durchdringt diesen klaren Stein doch ein Lichtstrahl ohne seine Materie zu verändern: So verweist er auf das Wunder der jungfräulichen Empfängnis des Gottessohnes sowie auf die Würdigkeit seiner reinen Mutter als „vas electionis“ – das „auserwählte Gefäß“…
„In der Steinschneidekunst gehen Natur und Kunst in eins zusammen“ stellt der namhafte Forscher auf diesem Gebiet, Rudolf Distelberger, fest – und tatsächlich trägt der im Fels zufällig geformte Kristall sein letztendliches Gestaltungspotential bereits von Beginn an in sich, welches Schleifer und Graveur erkennen und im mühsamen, ebenso langwierigen wie kräftezehrenden Kampf gegen die unglaubliche Härte des Materials sozusagen freilegen müssen. Kein Wunder also, dass solcherart vor allem symbolisch aufgeladene Kunstwerke von hohem Prestigewert für die Reichen und Mächtigen jedes Zeitalters entstanden. Ihren wohl größten Auftrieb erfuhr die Glyptik dann in der altertumsverliebten Renaissance, die den Steinschnitt als eine schon in der Antike geschätzte Kunstform neu zu beleben trachtete: Im 16. Jahrhundert eröffneten technische Innovationen weitaus differenziertere Möglichkeiten der Formgebung und Gravierung des widerständigen, dabei überaus spröden, zum Springen neigenden Werkstoffs. Das künstlerische und wirtschaftliche Zentrum dieser modernen Glyptik lag im oberitalienischen Mailand. Dort betrieben vor allem die Familien Miseroni und Sarachi, in die der geniale Graveur Annibale Fontana (1540-1578) einheiratete, überaus erfolgreich ihre Bergkristall-Schleifmühlen. Von hier aus lieferten sie preziöse, hauchdünn gearbeitete Schaugefäße an die Höfe von Kaisern, Königen und Fürsten nach Wien, Madrid, Prag und München – oder entsandten gleich ihre Söhne und Neffen dorthin, die dann als hochbezahlte Hofkünstler vor Ort die aufwendigen Wünsche ihrer gekrönten Auftraggeber verwirklichten.
Auch Bayernherzog Albrecht V. hätte gerne die in den nahen Alpen gefundenen Bergkristalle kostensparend direkt vor seiner Residenzstadt in einer mit Isarwasser angetriebenen Schleifmühle von Mitgliedern der Sarachi-Dynastie in schimmernde Form bringen lassen. Aber anders als seine kaiserlich-habsburgische Verwandtschaft, die einen echten Miseroni an ihren Prager Hof im edelsteinreichen Böhmen locken konnten, war der Wittelsbacher mit seiner Anwerbe-Kampagne nicht erfolgreich. Stattdessen erfolgten zahlreiche hochdotierte Aufträge von München aus an die Mailänder Werkstätten, welche die wackeren bayerischen Finanzräte vor Wut die Zähne derart aufeinanderpressen ließen, dass sie glatt im klarsten Bergkristall Bissspuren hinterlassen hätten:
So kosteten die von Fontana gegen 1570 gravierten Scheiben mit biblischen Szenen, die den berühmten „Albertinischen Schrein“ in der Schatzkammer schmücken, satte 6000 Scudi. Auf weitere 6000 Goldscudi plus eine großzügige Gratifikation belief sich 1579 die Rechnung von Fontanas Schwägern, den Sarachi-Brüdern, für die heute daneben prangende Vase mit Bacchus-Gefolge sowie die sogenannte „Galeere“, eine längliche schiffsförmige Schale, die gleichfalls noch immer glänzend durch unsere Ausstellung segelt, auch wenn sie ihre miniaturisierten Aufbauten aus vergoldetem Silber im 18. Jahrhundert verloren hat. Zum Vergleich: – ein „großer Tizian“ König Philipps II. wurde um 1598 auf ca. 200 Golddukaten geschätzt, Albrecht hätte statt seiner rund zwei Dutzend Anschaffungen von „Mutters gutem Kristall“ also auch seine Gemäldesammlung aufs großzügigste ausbauen können!
Der enorme Preis erklärt sich nicht zuletzt aus der diffizilen Arbeitstechnik, mit der jeweils spezialisierte Kunsthandwerker aus den kostbaren Kristallblöcken zunächst die preziösen Gefäßformen und dann die kleinteiligen Ornamente und Bildszenen entlang der mühsam geglätteten Wandungen herausfrästen: Dabei musste in einem ersten Schritt, der „arte grossa“, der massive Kristall ausgehöhlt und der eigentliche Vasen- oder Schalenkörper gleichsam „gedrechselt“ werden. Allerdings erfasst der Ausdruck „grobe Kunst“ nicht die Subtilität und notwendige Erfahrung, die notwendig waren, den spröden Werkstoff bis hart an die Grenze seiner Belastbarkeit zu treiben – ein übersehener Haarriss oder ein Zuviel an Druck, und die Arbeit von Wochen prasselte dem Werkmann und seinen Mitarbeitern, die die großen Riemenschwungräder mit Muskel- oder Wasserkraft in Gang hielten, in kristallenen Scherben vor die Füße. Im zweiten Schritt, der „arte minuta“ oder „subtile“, presste dann der Künstler-Graveur das Kristallobjekt gefühlte Ewigkeiten gegen verschieden dicke „Steinzeiger“: Diese stiftartigen, mit Schleifmittel bedeckten Schneidewerkzeuge staken waagerecht in einer Haltevorrichtung, die durch regelmäßigen Fußantrieb (wie bei Ur-Omas Nähmaschine…) in rasche Rotation versetzt wurden und bei genügend Druck, Geduld und regelmäßiger Erneuerung des Schleifmittels aus ölgebundenem Diamantstaub nach und nach eine Zeichnung in die Kristallwandung einschnitten: ein ewiges Geschäft – und das in einer Zeit ohne Hörbücher…
Angesichts des materiellen und künstlerischen Aufwandes ist es daher nicht verwunderlich, dass Albrecht V. wie auch seine Nachfolger mit großem Stolz über ihre erlesene Kollektion von Bergkristallgegenständen wachten: Entsprechend nutzten sie die kostbar geschliffenen Schalen, Vasen und Platten nicht als tatsächliche Tafelutensilien, sondern stellten sie allenfalls als eindrucksvolle Schauobjekte auf getreppten Prunkbuffets bei festlichen Anlässen zur Schau. Dies gilt wohl auch für eine besonders originelle Kreation der Wittelsbacher Sammlung, die zudem mit einer kleinen ikonographischen Entdeckung aufwartet: Es handelt sich um ein zweiteiliges Gefäß, dessen unterer Teil auf flachem, goldgefassten Fuß als längliche, offene Muschelschale mit seitlichen Henkeln ausgebildet ist. Über dem stumpfen Ende der Muschel erhebt sich ein kleinerer, vasenförmiger Aufsatz, dessen obere Hälfte kegelförmig zuläuft. Die plastische Fassung aus emailliertem Gold, der die beiden Kristallgefäße miteinander verbindet, ist als Geschlinge von Delphinkörpern gearbeitet, das dünne Röhrchen enthält, die in Düsen an den Mäulern und Leibern der Fabel-Fische münden. Es handelt sich bei der fragilen Konstruktion um einen prägnant, aber etwas irreführend als „Tischbrunnen“ bezeichneten Tafelaufsatz, der theoretisch dem Mischen des aufgetragenen Weins mit Wasser dient: Der in die Trink- oder Servierschale gegossene Alkohol kann mit dem im Aufsatz-Tank enthaltenen Wasser verdünnt werden. Ein kleiner Hahn am „Hauptdelphin“ öffnet und sperrt den Zufluss des klaren Nass, das dank Schwerkraft und Flüssigkeitsdruck als winzige Fontäne in den Spätburgunder sprudelt und diesen um seine erdig-nussig-brombeerige Blume bringt.
Allein schon das vielfältige Anheben, Absetzen, Kippen und Rumfummeln, das notwendig gewesen wäre, den „Brunnen“ während eines Gelages erfolgreich in Betrieb zu nehmen, spricht gegen eine tatsächliche Nutzung des guten Stücks. Seine bis heute „ungebrochene“ Existenz lässt viel eher vermuten, dass man es stets und willentlich bei der bloßen Absicht beließ. Auch ist angesichts zeitgenössischer Quellen zu bezweifeln, dass sich verdünnter Wein an deutschen Fürstenhöfen der Frühen Neuzeit großer Beliebtheit erfreute. Im Gegenteil zeichnen die teils fassungslosen Berichte gerade französischer Tafelgäste die Aristokratie des Heiligen Römischen Reichs als Ansammlung schwer alkoholkranker Gewohnheitstrinker – was nicht komplett wahr sein muss, aber einige historische Entwicklungen im Rückblick besser verständlich machen würde.
Statt als Requisit praktischer Tugend – hier der Nüchternheit – erscheint der ebenso kostbare wie fragile Kunstgegenstand hingegen als materialisierter Anspruch solcher Vorbildlichkeit – als ein mit teurem Geld und höchstem Aufwand geschaffenes Symbol fürstlicher Mäßigkeit, der „Temperantia“, die zusammen mit ihren Schwestern „Stärke“, „Klugheit“ und „Gerechtigkeit“ ja auch als staatstragendes Quartett bis heute in Gestalt bronzener Allegorien die Tore der Residenz bewacht. „Glasklar“ steht unsere Bergkristallschale also wie so viele andere Meisterleistungen im „Schatzhaus Residenz“ an der seinerzeit gesuchten und gewollten Schnittstelle von Auftragskunst und fürstlicher Propaganda.
Dies macht auch das Annibale Fontana zugeschriebene Bildprogramm der flächendeckenden Gravuren deutlich: Umgeben (vielleicht bedroht?) von drachenähnlichen Mischwesen, die die Wandung der Muschelschale bevölkern und für die triebhaften Aspekte der Trunkenheit stehen könnten, erscheint im Zentrum der Schale in einem ovalen Bildfeld eine bekannte Episode aus dem Alten Testament: Die keusche Susanna wird im Bade von zwei lüsternen Greisen überfallen. Als sie sich weigert, ihnen zu Willen zu sein, verleumden die Männer sie als Ehebrecherin, und erst das göttlich erleuchtete Kreuzverhör, das der junge Prophet Daniel veranstaltet, deckt die Wahrheit auf und wäscht Susannas Ruf rein. Viele Aspekte der Geschichte: die beherrschte Standhaftigkeit der jungen Frau, die man bei ihrer Waschung bedrängt, die triebhafte Gier ihrer Ankläger und die alles durchdringende Klarheit, mit der Daniel Licht in die trübe Affäre bringt, gehen gut zusammen mit dem Gegensatz „Mäßigkeit/Nüchternheit“ hier, „Trunkenheit/Sinnlichkeit“ dort, sowie der fürstlichen Pflicht, für Gerechtigkeit und ein rationales, religiös fundamentiertes Staatswesen zu sorgen. Dieses Ideal spiegelt sich letztlich auch in der Materialität des harten, klaren Kristalls und des reines Wassers, das den trüben Wein aufhellt.
Nicht so gut allerdings klappt eine solche Ausdeutung ausgerechnet mit den Gravuren des Wasserspeichers, die traditionell als Darstellungen aus der Geschichte der sagenhaften Nymphe Io gedeutet werden: Die schöne Io sticht dem Göttervater Zeus ins Auge, der sie in eine Wolke einschließt und dort zu seiner Geliebten macht. Aus Angst vor seiner eifersüchtigen Gattin Hera verwandelt er die arme Io anschließend in eine Kuh, die Hera in ihren Besitz bringt, und es braucht den Einsatz zahlreicher mythologischer Figuren, bis das geplagte Rindvieh schließlich an den Ufern des Nils seine menschliche Gestalt wiederfindet und als neue Landesgöttin Isis rehabilitiert wird (wobei die Griechen wohl noch die kuh-ohrige Göttin Hathor in ihre Geschichte hineinbastelten – wer soll bei den ganzen tiergestaltigen Gottheiten Ägyptens auch durchblicken?). Mit Mäßigung und Keuschheit hat Ios mythologische Reise auf vier Hufen nun allerdings wenig zu tun. Und auch bei genauerer Betrachtung von Fontanas Bildfiguren passt die überlieferte Deutung nicht so richtig: Man sieht eine schöne, unbekleidete Nymphe, offensichtlich auf der Flucht vor einen gleichfalls nackten, bartlosen Verfolger und von Wolken umhüllt. Die gegenüberliegende Szene präsentiert die Frau nochmals, wie sie einem Gewässer entsteigt, aus dessen Wellen die männliche Figur bis zu den Schenkeln auftaucht.
Wahrscheinlich beruht die Identifikation als Io-Mythos auf dem Vergleich mit einer weiteren Bergkristall-Arbeit der Schatzkammer. Dieser gleichfalls Fontana zugeschriebene Pokal zeigt nun tatsächlich zweifelsfrei die Geschichte der schönen Kuh mit ihren Hauptepisoden. Vermutlich ist es die ähnlich gestaltete Szene, in der Zeus sein Opfer in Gestalt einer Wolke einfängt und vergewaltigt, die zu der Fehlinterpretation „unseres“ kleinen Wasserspeichers führte.
Welches mythologische Paar tatsächlich dargestellt ist, erschließt sich fleißigen Leserinnen und Lesern des römischen Dichters Ovid, wenn man in dessen berühmten Metamorphosen das fünfte Buch durchblättert: Dort stößt man auf die Erzählung der keuschen Nymphe Arethusa, einer Gefährtin der jungfräulichen Jagdgöttin Diana: Als sie sich im Flusswasser abkühlt, erregt sie die Aufmerksamkeit des lüsternen Wassergottes Alpheios: Die offensichtlich marathongestählte Arethusa flieht vor seiner nasskalten Umarmung durch halb Griechenland. Schließlich hüllt Diana sie in Nebel, um sie den Blicken ihres Verfolgers zu verbergen „[Die Göttin] erhört mein Flehn, und eine der dichtesten Wolken /Wirft sie über mich hin. Rings späht nach der Dunkelumhüllten/ Tappend der Strom und forscht ratlos um den bergenden Nebel“ .
Aber auch diese Versteck wird entdeckt und so verwandelt sich Arethusa in eine Quelle, deren Wasser unterirdisch seinen Weg sucht, bevor es in Syrakus auf Sizilien ans Tageslicht tritt. Je nachdem, wie man es betrachtet, endet ihre feuchte Metamorphose mit einem finalen Happy End, denn auch der Fluss Alpheios verschwindet auf dem Festland unter der Erde, folgt der geliebten Spur und vermengt seine Wasser letztendlich mit der Arethusa-Quelle.
Unlautere Vermischung liebender Gottheiten hin oder her – mit Ovid in der Tasche macht die Deutung des Bildprogramms als mythologischer Spiegel des biblischen Susanna-Motivs an unserem Trinkbrunnen auf einmal Sinn: Kristallharte Keuschheit, die sich sinnlichen Trieben entzieht, und Rettung der Tugend (symbolisiert durch das reine Wasser) dank des Eingriffs einer göttlichen Autorität runden die Aussage unseres glitzernden Objekts nun schlüssig ab: Inhalt und Form eint solcherart die durchsichtige Klarheit sowie die steinharte Solidität, die man von einem gelungenen Requisit fürstlicher Selbstoptimierung und Selbstdarstellung erwarten darf!