Residenz München

„De Zoch kütt“- die Münchner Fronleichnamsprozession und die Residenz im 16. Jahrhundert

strahlenmonstranz

60 Tage nach Ostern, am zweiten Donnerstag nach Pfingsten, ist es wieder soweit: Fahnen wehen, dekorative Teppiche werden aus den Fenstern gehängt und auch die letzte Birke, die mit Trockenschäden kämpft, wird ihrer zart belaubten „Reiser“ beraubt, um als grünender Fassadenschmuck zu dienen: In Bayerns Kirchen und auf den Straßen feiert man vielerorts mit feierlichen Messen und traditionellen Prozessionen „Fronleichnam“, a.k.a. „Hochfest des Allerheiligsten Leibes und Blutes Christi“.

1512 hat Raffael persönlich das Wunder der blutenden Hostie im mittelitalienischen Bolsena an passender Stelle – den päpstlichen Gemächern des Vatikanpalasts – im Fresko verewigt und seinen Auftraggeber Papst Julius II. in ewiger Anbetung des Altarsakraments porträtiert.

1512 hat Raffael persönlich das Wunder der blutenden Hostie im mittelitalienischen Bolsena an passender Stelle – den päpstlichen Gemächern des Vatikanpalasts – im Fresko verewigt und seinen Auftraggeber Papst Julius II. in ewiger Anbetung des Altarsakraments porträtiert.

Es ist eine wichtige Feier im katholischen Kirchenjahr, verkündet sie doch die bleibende Gegenwart Christi in der Eucharistie. Ihren Mittelpunkt bildet die Verehrung des Altarsakraments, sichtbar in der zeremoniell umhergetragenen Hostie. In seiner Urform zunächst in den Niederlanden nachweisbar, wurde Fronleichnam 1264 nach dem Wunder des blutenden Mess-Brotes von Bolsena zum allgemeinen Kirchenfest erhoben. Auch konnte sich eine besondere Verehrung der Hostie auf die wenige Jahrzehnte zuvor publizierten Erlässe des Vierten Laterankonzils stützen: Dort war 1215 die zungenbrecherische Lehre der Transsubstantiation präzisiert worden, welche dann nochmals das Konzil von Trient 1551 im Zeitalter der Gegenreformation als Dogma erhärtete: Es verkündete in Abgrenzung zur protestantischen Auffassung, dass in der heiligen Messe Hostienbrot und Wein sich wahrhaft zum Leib und Blut Christi wandeln, der in dieser doppelten Gestalt dann gegenwärtig ist.

Die um 1600 entstandene Strahlenmonstranz, die ein goldener Engel in der Münchner Schatzkammer den Gläubigen präsentiert, inszeniert die gewandelte Hostie wirkungsvoll als sonnengleiches Lichtsymbol. Sie ist ein frühes Beispiel des Monstranzentyps, der sich seit dem 17. Jahrhundert allgemein durchsetzt

Die um 1600 entstandene Strahlenmonstranz, die ein goldener Engel in der Münchner Schatzkammer den Gläubigen präsentiert, inszeniert die gewandelte Hostie wirkungsvoll als sonnengleiches Lichtsymbol. Sie ist ein frühes Beispiel des Monstranzentyps, der sich seit dem 17. Jahrhundert allgemein durchsetzt

Selbst evangelisch, und in Kinderjahren mehr an Asterix als an sakramentaler Theologie interessiert, fragte ich mich früher mit religiösem Grusel, welchen gammeligen Leichnam man denn da so froh feiert und quengelte etwas später mit lutheranischer Spitzfindigkeit, ob hier nicht ein hauchdünnes Stück faden Brots hinter Glas überbewertet sei. Tatsächlich verweist die Namensgebung des Festes natürlich nicht auf untote Horroreffekte, sondern bezieht sich auf das mittelhochdeutsche „vrône lîcham“: „Leib des Herrn“, von Wikipedia fromm abgeleitet über „vrôn“, „den Herrn Betreffendes“ (wie beim „Fron“dienst) und das neutrale „lîcham“ für den „Leib“.  Alternative Regionalbezeichnungen wie „Kränzel-“ oder „Pranger-Tag“ weisen hingegen auf den pompösen Charakter der zugehörigen Prozession in reichen Kostümen hin. Diese, obwohl in der allgemeinen Wahrnehmung die Hauptsache, ist eine spätere Zutat, die zunächst am feierfreudigen Niederrhein greifbar wird und ihre Vorläufer in den älteren, beliebten Reliquienprozessionen hat. Die dort eingesetzten, durchsichtigen Reliquienbehälter des späten Mittelalters sind auch die Vorläufer der großen Schaumonstranzen als Mittelpunkte der Prozessionen, in denen die geweihte Hostie unter einem Tragebaldachin (dem „Himmel“) durch Stadt und Dorf geführt und auf temporär errichteten Stationsaltären ausgestellt wurden. In ihren klaren Rundscheiben aus Kristall spiegelt sich das Verlangen der mittelalterlichen Gläubigen, die zum Gottesleib gewandelte Hostie leibhaftig zu sehen: Schauen wird so zur „Augenkommunion“.

Als Spektakel, als eine die Sinne ansprechende Demonstration des dezidiert katholischen Abendmahlsverständnisses, erlebte die Ausgestaltung der Fronleichnamsprozession ihren Höhepunkt im Zeitalter der Gegenreformation: In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kombinierten die Veranstalter den religiösen Umgang samt gemeinsamer Anbetung und Predigt an markanten Wegstationen mit Auftritten der städtischen Zünfte und religiösen Bruderschaften, mit lebenden Bildern aus Bibel und Heiligen-Viten, die auf dekorierten Bühnen-Wagen mitgeführt wurden, mit Musik und festlichen Salutschüssen, kurz: mit einer machtvollen Selbstdarstellung der Kommune – und des Herrscherhauses! Da die bayerischen Wittelsbacher sich im konfessionellen Ringen selbst als politische Speerspitze der Rom getreuen Altgläubigen fühlten und inszenierten, versteht es sich von selbst, dass die Münchner Fronleichnamsprozessionen besonders unter den in Finanzfragen unbedenklichen Herzögen Albrecht V. (reg. 1550-1579) und seinem Sohn Wilhelm V. „dem Frommen“ (reg. 1579-1597) den Rahmen des üblichen sprengten.

Wilhelm V., barocke Kopie nach Hans v. Aachen - angesichts der riesigen Kosten, die die Fronleichnamsprozession alljährlich verursachte, wundert es nicht, dass der fromme Herzog 1597 angesichts des bayerischen Staatsbankrotts zugunsten seines sparsamen Sohns Maximilian I. abdankte, um fortan ganz der Religion zu leben...

Wilhelm V., barocke Kopie nach Hans v. Aachen – Mit Blick auf die Unsummen, die die Fronleichnamsprozessionen alljährlich verschlangen, wundert nicht, dass der fromme Herzog 1597, den Staatsbankrotts vor Augen, zugunsten seines sparsamen Sohns Maximilian I. abdankte, um fortan ganz der Religion zu leben…

Angesichts der rund 3000 Mitwirkenden, die teils im Umgang, teils als kostümierte Darsteller der lebenden Bilder festlich durch die Straßen und entlang der Befestigungen zu den Haupt-Wegestationen an den vier Stadttoren paradierten, fragt man sich, wer eigentlich noch übrig blieb, um der Prozession als Zuschauer beizuwohnen? – Zum Glück zog der ebenso berühmte wie fromme Münchner Catwalk viel Tourismus von außerhalb an, der die Kunde vom religiösen Spektakel in der Wittelsbacher Residenzstadt in gottgefälliger Weise landauf, landab und sogar in Ketzernestern wie den freien Reichsstädten Nürnberg und Augsburg verbreitete. Der Hof Wilhelms V., der damals noch in der Neuveste, der „Stammmutter“ des heutigen Residenzkomplexes am nordöstlichen Stadtrand, residierte, spielte dabei finanziell wie organisatorisch eine entscheidende Rolle – nicht zuletzt bei der fast unchristlich luxuriösen Ausstattung eines der lebenden Bilder: Die Abteilung des edlen Ritters (und Residenz-Patrons) St. Georg samt Schildknappen, Schwertträger und vielköpfigem Gefolge, die komplett (mit Ausnahme von Georgs Pferd und dem Drachen) von Mitgliedern des Hofstaats verkörpert wurden.

Das kostbare, von Wilhelm V. gestiftete Georgsreliquiar in der Schatzkammer orientierte sich in Darstellung und Gewandung an der zeitgleich verwendeten Kostümierung des Georgs-Darstellers im Münchner Fronleichnams-Umzug.

Das kostbare, von Wilhelm V. gestiftete Georgsreliquiar in der Schatzkammer orientierte sich in Darstellung und Gewandung an der zeitgleich verwendeten Kostümierung des Georgs-Darstellers im Münchner Fronleichnams-Umzug.

Über die Details dieses jährlichen religiös-repräsentativen Großevents unterrichtet uns in seltener Ausführlichkeit eine ebenso kostbare wie amüsante Quelle aus den 1580er Jahren: Es sind „Die Befehle und Anordnungen Wilhelms V., die hohe Fronleichnamsprozession betreffend“, die der damalige Organisator der Umzüge, der Hofjurist Lizentiat Müller, auf über 500 Seiten für seine Nachfolger handschriftlich festgehalten hat. Erstmals lenkte 1794 der renommierte bayerische Landeskundler und Geschichtsforscher Lorenz von Westenrieder (1748-1829) in seinen „Beyträgen zur vaterländischen Historie“ ein breiteres Interesse auf diesen Informationsschatz, der uns unverstellte Einblicke in den Münchner Alltag im Zeitalter der Renaissance gewährt. Eigentlich ein erstaunlicher Glücksfall der Geschichtsschreibung, denn obwohl Jesuitenzögling und Theologe, hatte der Lokalpatriot Westenrieder speziell mit der Fronleichnams-Tradition wenig am Hut: Als Vertreter der Aufklärung teilte er eher deren Kritik an den „Auswüchsen“ katholischen Festwesens, die im späten 18. Jahrhundert mit ziemlicher Verzögerung schließlich auch im rechtgläubigen Bayern einsetzte und letztendlich 1781 zum Verbot der lebenden Bilder und des Kostümierens, des Salutschießens und der Abholzung von Jungbäumen für Fronleichnamsschmuck führte. Der Kommentar, mit dem Westenrieder seine Textedition begleitet, macht deutlich, dass ihn der religiöse Gehalt des Festes nicht die Bohne interessiert. Zudem macht er sich süffisant mit intellektuellem Überlegenheits-Gehabe lustig über die altväterlich-betuliche und etwas selbstverliebte Weitschweifigkeit seines Chronisten Müller. Man kann dies als unprofessionellen Zugriff auf die Materie schelten – aber nachvollziehen: denn ein großer Reiz von Müllers Text liegt darin, dass er aus heutiger Sicht zum Dauerschmunzeln verleitet (sonst würden wir ihn hier im Blog gar nicht vorstellen). Zu Westenrieders (und unserer) Ehrenrettung bleibt nur zu sagen, dass trotz aller publizistischen Ironie stets seine solide Grundsympathie und ein genereller Respekt gegenüber seinem Forschungsgegenstand spürbar bleibt: Über die ästhetischen und moralischen Vorbehalte seines aufgeklärten Zeitalters hinweg erkannte er als Historiker den hohen Wert dieser sehr ausführlichen, von unmittelbar Beteiligten verfassten Quelle für die bayerische Regional- und Münchner Kulturgeschichte – ihr galt Westenrieders Interesse und gilt das unsere, auch wenn wir uns angesichts der Fülle des Materials auf eine kleine „Blütenlese“ beschränken. Leider nur ausschnittsweise können wir uns hier mit den breit geschilderten Sorgen des vom Hof bestallten Prozessions-Direktors befassen, „diweil diß werkckh ein weitschickig Ding“

Müllers zeitweilige

Müllers zeitweilige „Operationsbasis“, die Neuveste, wie sie sich im frühen 17. Jh. auf der Nordseite präsentierte

Seinen Ratschlag: „Ein Director soll vile memorialia machen, damit nichts vergessen werde“. hat der wackere Mann auf jeden Fall bis hart an den Burn-out beherzigt: Sobald durch Hissen des „großen Labarums [Fahnenbanners], darein das hochwirdige Sacrament gemalt“ am Erker des Alten Hofs der Stadt bekannt gemacht wurde, dass die Vorbereitung des jährlichen „Umgangs“ und die Bewerbungsfristen für Aufträge liefen, begann für Müller das Listenführen: Innerhalb des auf Seiten und Seiten ausgebreiteten Ablaufs der Prozession memoriert er Zeitpläne und die Namen der zuständigen Ansprechpartner in Zünften wie Bruderschaften (samt der Höflichkeitsgeschenke, die ihnen zu verehren sind); Müller erstellt Kostenkalkulationen, Verzeichnisse von Kostümen, Fahnen, und Wägen samt ihren jeweiligen Aufbewahrungsorten unterm Jahr. Er veranschlagt Preise für Unterbringung der Fuhrleute und Pferde samt der benötigten Leberkäs („ein guets stückh Vleisch prot“) und Haferrationen (nicht durchsickern lassen, dass sie für die Prozession seien – sonst drohen Wucherpreise!); Er erinnert an das Reglement für die Schützen und ihr streng! rationiertes Schießpulver, aber auch für die Straßenwachen in ihren neuen, farblich abgestimmten Kostümen. Er führt bewährte Betriebe und Kostenschätzungen auf für die Zimmerleute, die die Tribünen für den Hof errichten, für die Schneider, die die Festgewänder anpassen (Meister Thomas und vier bis sechs Gesellen brauchen ca. vier Wochen Vorlauf, wenn sie täglich von vier Uhr morgens bis sechs Abends durcharbeiten – zu 12 Kreuzern pro Tag); Müller hat Listen der Maler, die auf dem Jägerbichl (dem heutigen Kapellenhof der Residenz) die Requisiten reparieren (ein Tagelöhner soll sie beaufsichtigen, damit sie keine Farbpigmente abzweigen), aber auch der rund 400 Bauern, die aus den München benachbarten Dörfern Haidhausen, „Ramelstorf“, aus der Au usw. in die Stadt kommandiert werden, um Hand- und Spanndienste zu leisten (und die man zunächst nett bittet und erst anschließend mit Arrestdrohungen zwingt).

Die von Wilhelm V. erworbene Miniatur von Hans Bol zeigt ein Idealbild bäuerlich-bürgerlichen Festtreibens im 16. Jahrhundert: Anlässlich der Kirchweihfeier, deren Beginn die Fahne vorm Wirtshaus anzeigt, versammelt sich alles zu Festschmaus und Tanz...

Die von Wilhelm V. erworbene Miniatur von Hans Bol zeigt ein Idealbild bäuerlich-bürgerlichen Festtreibens im 16. Jahrhundert: Anlässlich der Kirchweihfeier, deren Beginn die Fahne vorm Wirtshaus anzeigt, versammelt sich alles zu Festschmaus und Tanz…

Zwischen all diesen an sich trockenen Ausführungen erwächst im Laufe der Lektüre ein lebensvolles Bild der bayerischen Residenzstadt: Ganz nah scheint uns das sonst so ferne, oft fremde „Damals“, und der moderne Ausspruch „München ist ein Dorf“ wird in faszinierender Weise bestätigt, so eng wirkt der tägliche Austausch zwischen Stadt und Hof: In gemeinsamer Vorbereitung der religiösen Feier helfen Adel, Patriziat und Bürgerschaft, die sich alle namentlich kennen (so winzig ist die Stadtgemeinschaft), einander mit Kleidung, Fuhrpark und Stauraum in Schloss und Warenlager aus. Und mit Lizentiat Müller fiebern alle gemeinsam dem großen Tag mit hoffentlich Sonnenschein entgegen (außer den Faulpelzen, die nur alltags „sich stellen, als wellen Sy unnseren lieben Herr Gott vor Andacht die fueß abbeissen“)!

Gleichfalls deutlich wird die herzogliche Perspektive: Hier sah man Müllers Hauptaufgabe darin, die oft unwilligen Zünfte und Münchner Magistrate zu drängen, sich finanziell und persönlich im Rahmen der Prozession mehr zu engagieren. Gleichzeitig sollten sie ihre internen Konkurrenzen und den Hang zur korporativen Selbstdarstellung zurückzustellen und stattdessen die zentral vom Hof vorgegebene Festregie – und damit den Vorrang des Herzogs gegenüber der Stadtregierung – akzeptieren. Dieser gewünschte Spagat zwischen viel Mitmachen und wenig Mitbestimmen wurde besonders deutlich bei der Rollenverteilung für die spektakulären „lebenden Bilder“ des Zuges: Die weit über 50 Episoden aus Altem und Neuem Testament waren traditionell und fest auf rund 60 Zünfte verteilt, die jeweils die möglichst prunkvolle Ausstattung finanzierten und deren Mitglieder als kostümierte Darsteller pantomimisch mitwirkten: Klar, dass die jeweilige Zunft möglichst werbewirksame Bezüge zwischen ihrem Handwerk und dem biblischen Geschehen herstellte, etwa die Metzger, „die das güldin Kalb haben“, oder die Fischer, „die haben die Erschaffung Himmels und der Erden“ und die Gottvater bei der Teilung von Land und Ozean sowie der Hervorbringung der Meerestiere zeigten. Weniger beliebt bei den auf ihre Würde bedachten Zunftmeistern war hingegen die Darstellung unfrommer Charaktere wie des „sauersehenden gleichsam tyrannischen“ Pharao, oder (schlimmer!) niedrig geborener Personen wie der hebräischen Schafhirten. Oft musste Direktor Müller mit sanftem Druck und Androhung herzoglicher Ungnade nachhelfen: Sei doch in der Prozession für Standesdünkel kein Platz, sondern nur für christliche Demut, schließlich wäre jede Rolle zum Gelingen des Ganzen und zum Lobe Gottes gleich wichtig und passlich – Argumente, die noch heute in jeder Schultheater-AG vorgebracht werden, übrigens mit ähnlichem Erfolg wie im 16. Jahrhundert…

Die Miniatur von M. Kager aus dem frühen 17. Jh. zeigt den von Katastrophen heimgesuchten Dulder Hiob, der von seiner Frau verspottet wird, während ein Teufel mit Peitsche ihn immer weiter peinigt.

Die Miniatur von M. Kager aus dem frühen 17. Jh. zeigt den von Katastrophen heimgesuchten Dulder Hiob, der von seiner Frau verspottet wird, während ein Teufel mit Peitsche ihn immer weiter peinigt.

Natürlich wurden auch im „Villain-Sektor“ manchmal Spezialkräfte von außerhalb der Zunft benötigt: Der Teufel, der den Dulder Job im Angesicht seiner exotisch kostümierten Frau (der „Jobin“) quält, musste Feuer speien können, wofür Öl und 20 Kreuzer Aufwandsentschädigung anfielen. Als bösen Riesen Goliath empfahl Müller, den erprobten Schmied von Mittenwald, einen baumlangen Kerl, herzubeordern, den man 14 Tage zuvor anschreiben und mit 12 Gulden bezahlen müsse, und den man mittels hoher Absätze und eines Helms mit steilem Federbusch zusätzlich vergrößern könne.

Aber Müllers Sorgenkinder Nummer Eins in puncto Rollenverteilung waren und blieben die Münchner „Junckhfrawen“. Deren Akquise sei „nit der geringtste und mindeste Puncten einer“ seufzt er, sondern eine mühevoll und aufwendige Herausforderung, „von großer Verantwortung vor Gott und der weltlichen Herrschaft“. Offensichtlich wusste der Mann, wovon er sprach: Über Dutzende von Seiten führt er den diplomatischen und dramaturgischen Eiertanz aus, genügend „ehrbare Jungfern“ mit gutem Ruf zu finden, die die zahlreichen biblischen Heroinen verkörpern konnten: Vertrauenspersonen mussten am Kirchenportal und in Nähe der Zunfthäuser Mädchen, Bürgerstöchter und Mägde des Viertels erst nach Augenschein mustern, dann Erkundigungen einzuziehen, den familiären Hintergrund checken sowie Kirch- und Beichtgänge zählen. Im Anschluss erfasste man die tauglichen Maiden mit Angaben zu Körpergröße, Leibesumfang, Haarfarbe und -länge sowie zur Hautqualität in Listen.

Wie gefährlich ein Auswahlverfahren mit integriertem Schönheitswettbewerb war, musste schon der mythologische Preisrichter Paris aus Troja, der die attraktivste Göttin zu küren hatte - drohte also um 1580 alljährlich statt eines Trojanischen ein Münchner Krieg?

Wie gefährlich ein Auswahlverfahren mit integriertem Schönheitswettbewerb war, erfuhr schon der mythologische Preisrichter Paris aus Troja, der die attraktivste Göttin zu küren hatte – drohte also um 1580 alljährlich statt eines Trojanischen ein Münchner Krieg?

Denn schließlich galt es, im Weiteren klug abzuwägen zwischen Leumund und äußerer Erscheinung: Hübsche „Jungfrawn und Medlen“ könne man sich von Malern und Schneidern ausdeuten lassen, die aber natürlich nicht für den Lebenswandel ihrer Modelle einstanden. Andererseits garantierte Tugend, wenn sie hässlich war, im Rennen um Titelrollen nur Plätze im hinteren Feld, außer die züchtige (aber unschöne) Jungfer war mindestens Tochter eines Zunftvorstehers – dann galt zu überlegen, wie wichtig dem Hof ein gutes Verhältnis zum fraglichen Handwerk war. Für die jungen Frauen ging es hier um viel: Galt doch die Rolle einer Heiligen im Zug als offizielles Gütesiegel für einen garantiert tadellosen Lebenswandel und die Prozession insgesamt als Schaulaufen auf dem Münchner Heiratsmarkt. Umgekehrt war das offenkundige Übergehen eines sonst tauglichen Mädchens Anlass für Gerüchte und letztlich ein gesellschaftliches Todesurteil: Die Kämpfe der ehrgeizigen Eltern um Rollen für ihre Töchter mag man sich vorstellen….

War die Liste potentieller Darstellerinnen gefüllt, ging laut Müller der alljährliche Wettstreit der „tugetsamen lieben Junckhfrauen“ um das schönste unter den vorrätigen Kostümen los (#hashtag „Neiddebatte“!) und der Kampf gegen das unerlaubte Aufhübschen dieser oft aus Hofbesitz stammenden Gewänder mit eigenen Zierborten, Bändern und Geschmeide. Vorsorglich waren persönliche Schleier, Gebände und Hauben, die schnell stattliche Höhen erreichten, kategorisch verboten.

Porträts in der Münchner Ahnengalerie, wie das von Wilhelms V. , Großmutter, lassen uns ahnen, welch textiler Luxus im Umzug entfaltet wurde!

Porträts in der Münchner Ahnengalerie, wie das von Wilhelms V. Großmutter, lassen uns ahnen, welch textiler Luxus im Umzug entfaltet wurde!

Als Verwalterin des umstrittenen Kleiderwesens hatte Müller klugerweise eine enge Vertraute, „seine liebe Hausfrau“ persönlich, erkoren, die zu dieser Aufgabe „stets starke Lust gespirt“. Das schriftliche Denkmal, das der Prozessionsdirektor seiner einige Jahre zuvor verstorbenen Gattin, einer offensichtlich mütterlich-pragmatischen, dabei durchsetzungsstarken Frau, gesetzt hat, gehört zu den wirklich anrührenden Passagen seines insgesamt so lebensvollen Berichts. Weniger rührend sind seine Anweisungen hinsichtlich des Garderobenassistenten: Hierfür sei ein anstelliger Junge vorzusehen, den man aber erst einmal anlernen müsse durch häufiges Prügeln ohne Vorwarnung, bis er seinen Herrn „wie ein Schwerdt fürcht“ – bei Protest und „schiefem Maul“ sei sofort die nächste Abreibung „mit gueten Streichen“ fällig. Der so gedrillte Jung-Sekretär hatte dann vor allem dafür zu sorgen, dass die kostbaren Kostüme nach Prozessionsende zurück in die Neuveste kamen und nicht bei den Zünften blieben: Die Mitglieder hätten sie nämlich früher gerne während der Fastnacht getragen und die Kleider damit nicht nur verdorben, sondern ihren heiligen Zweck auch unziemlich profaniert (was wohl etwa mit dem ärmellosen, „leibfarbenen, nackten Menschenkleid“ aus Leder für den männlichen Eva-Darsteller mit seinem Lämmerfell und „gemachtem Haar“ getrieben wurde, kann man sich ja vorstellen).

Vielleicht ist die Anmutung eines solchen lebenden

Vielleicht ist die Anmutung eines solchen lebenden „Marien-Bildes“ am ehesten mit der kleinen frühbarocken Wachsmadonna in der Schatzkammer zu vergleichen, die mit betontem Illusionismus zum andächtigen Gebet auffordert.

Schließlich musste der Direktor die finale Rollenverteilung durchsetzen: Unter den rund 200 ausgesuchten Mädchen führte er eine geheime Sonderliste für die ca. 16 jungen Frauen, die an verschiedenen Stellen im Zug die Gottesmutter Maria höchstpersönlich in verschiedenen Lebensaltern und seelischen Zuständen verkörpern sollten. Hauptvoraussetzungen für eine potentielle Maria waren ein extrem guter Leumund – und schöne lange Haare, blond womöglich. Die Darstellung einer tragischen Maria der Kreuzigung oder Grablegungsszene verlangte zusätzlich ein zumindest minimales Schauspieltalent (wenn die „Junckhfrau“ nicht einfach aus religiöser Ergriffenheit weinen könne, solle sie diskret Pomeranzenöl in die Augen reiben). Auch eine gewisse Grundintelligenz gab Punkte: So könne eine Maria aus naheliegenden Gründen keinen noch so dekorativen Rosenkranz für Mariengebete mit sich führen, denn der würde hier nicht die Frömmigkeit der Darstellerin offenbaren, sondern nur ihre Dämlichkeit („wann sie nit recht witzig wer“)…

„Margarete mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl – das sind die drei heil’gen Madl“ – hier im Hochaltar der Margaretenkirche von Bayrischzell

Stressfaktoren par excellence waren auch die drei heiligen Jungfrauen königlichen Geblüts: St. Katharina, Barbara und Margareta (letztere verkörperte mit ihrem Attribut, dem schuppigen „Linthwurm“, innerhalb des Umzugs als Doppelrolle zugleich die Prinzessin des ritterlichen Drachentöters St. Georg). Sie trugen die schönsten Gewänder, die am meisten Neid erregten. Weshalb man die „Drei Heilgen Madln“ von vornherein außer Konkurrenz mit Töchtern der alteingesessenen Münchner Patriziergeschlechter besetzte und zwar im Jahresturnus reihum, wobei die jeweils konkrete Auswahl der Herzogin vorbehalten blieb. Diese ließ die drei Mädchen dann auch am Vorabend der Prozession in die Neuveste bringen, weil sie am meisten Zeit für das Ankleiden brauchten, bis ihnen schließlich „die messinge vergulte kron, so in der Neuen Vest mit Edelgestein und anderem mehr geziert wird“ aufgesetzt wurde. Abseits von diesen Paraderollen blieben noch zahlreiche fromme, aber weniger prestigereiche Charaktere zu besetzen, etwa die Sklavinnen von Pharaos Töchterlein bei der „Auffindung des Mosesknaben“. Um auch diese „an die Frau zu bringen“ riet Müller, sie den standesbewussten Zunfttöchtern als „Gespielinnen der Prinzessin“ zu verkaufen.

Die Vorgaben für den Christusdarsteller orientieren sich Vorbildern aus der religiösen Malerei, hier ein Beispiel aus der Miniaturensammlung der Residenz, die Jesus bei Stiftung des eucharistischen Sakraments mit Hostie und Kelch zeigt.

Die Vorgaben für den Christusdarsteller orientieren sich am Vorbild religiöser Malerei: hier ein Beispiel aus der Miniaturensammlung der Residenz, das Jesus bei Stiftung des eucharistischen Sakraments mit Hostie und Kelch zeigt.

Gegenüber solchen Herausforderungen erkannte der Direktor bei der Verteilung der Männerrollen weniger Probleme. Seine Anweisungen erinnern hier stark an heutige Presseberichte über die Oberammergauer Passionsspiele, für die sich die lokalen Laien-Akteure Monate vorher die Haare auf Bibellänge wachsen lassen müssen: Laut Müller sollte Jesus eine „anmietige Visignomias“ besitzen samt einem „kesten(Kastanien)praunen noch etwas lichtern Bart mit zween Spitzen“. Die verschiedenen Darsteller von Gottvater mussten von großer, gerader Gestalt sein wie der alte Indersdorfer Wirt, nicht gelb im Gesicht, und einen breiten weißen Bart tragen wie der verstorbene Doktor Sixt seligen Angedenkens. Außerdem sollten alle „Patres Dei“ (fünf oder so) einen gleichen Purpurmantel tragen, um Verwechselungen auszuschließen (ansonsten hatten sie nur gravitätisch zu schreiten und die „gerechte Hand“ zum Segensgestus zu heben). Für die Rolle des heiligen Papsts und Kirchenlehrers Leo sei hingegen nach Möglichkeit der Kipfinger Schneider zu verpflichten, der so verblüffend seiner Heiligkeit Papst Pius V. ähnlich sah. Ein glückliches Alleinstellungsmerkmal! Generell ausgeschlossen waren hingegen Stupsnasige, Zahnlückige, schwächliche Kleinwüchsige und Verkrüppelte, außer einem Einäugigen, der reiten können musste, um den der Legende nach halbblinden Hauptmann Longinus bei der Kreuzigung zu spielen. Wenn ein solcher nicht zu haben sei, sollte der Darsteller eins seiner gesunden Augen stattdessen mit Teig zupappen. Ansonsten betonte Müller vor allem, die Prozessionsdarsteller hätten Unzucht, öffentliches Kartenspiel und Fressen in den Wirtshäusern zu unterlassen, „doch so ainer in seinem haus ein süpple essen und ein Trunckh (darmit er umso besser sein person vertretten, und ein Krafft haben mög) thun will, das ist keinem verwehrt“

Wenn schließlich auch alle übrigen offenen Fragen geklärt waren: Wenn man das 1800-köpfige Kriegsvolk, das zu Pferd und zu Fuß die Hauptgassen frei halten sollte, gemustert hatte („an einem Feyrtag, darmit sy an ihrer arweit nicht versäumen“); wenn eben diese Wegstrecke gereinigt und an unebenen Stellen neu gepflastert war; wenn der Prophet Jonas seinen Sprung in den künstlichen Walfisch genügend geprobt und gemeistert hatte, in sein Schiff ohne Hilfe einer Leiter zurückzuklettern (das sehe nämlich doof aus), wenn die Engelskrone über Maria als Himmelskönigin (Nr. 16) ordentlich festgemacht war, „darmit sie nit auf unsre Lievwe Fraw herabfallt“ – wenn all dies und mehr organisiert war: dann blieb nur noch der Blick zum Himmel! Schließlich war Regen nicht nur für die Zuschauer ein Störfaktor, sondern hinsichtlich der kostbaren Kostüme, die niemals-niemals-niemals! nass werden durften, eine wahrhafte Katastrophe. Grundsätzlich vertrat Direktor Müller hinsichtlich dieser stets latenten Drohung von himmlischer Seite den gesunden Standpunkt: „Der Herr sorgt für die Seinen“: Wenn die Prozession dem Allerhöchsten wohlgefällig sei, werde er für gut Wetter sorgen, sei sie es nicht, habe sie ihren Zweck sowieso verfehlt. Vor allem aber verfügte er als Verantwortlicher über eine unfehlbare Geheimwaffe, die der Bericht offenlegt: Den Musicus Orlando di Lasso und die herzogliche Hofkapelle! Denn es sei bekannt, offenkundig und mehrfach erprobt, dass, sobald Orlandos Cantorei die (und nur diese eine!) Motette „Gustate et videte, quoniam suavis est Dominus“ („Kostet und seht, wie gütig der Herr ist“) anstimme, „gemeinlichen durch den Segen Gottes die Sonnen anhebt Hell ze scheinen“. Wer vergäße jemals die Prozession Anno 84, die durch gleich zwei von St. Peter aus gesichtete Gewitterfronten bedroht worden war! Als aber das Heilige Sakrament das Kirchenportal passierte und der Gesang der Hofkapelle einsetzte, brach die Sonne durch, die genau bis zum Ende der Prozession schien, nach dem augenblicklich der göttlich und musikalisch zurückgehaltene Platzregen einsetzte!

Mit solchem Rückhalt konnten Lizentiat Müller, Herzog Wilhelm und ganz München sich schließlich freudvoll hinter dem von 18 Engelsknaben flankierten Traghimmel mit dem Allerheiligsten in die so mühsam organisierte Prozession einreihen – „Halleluj, Luja!, sog i,“

Gegenüber diesem logistischen und künstlerischen Großevent des 16. Jahrhunderts sind die späteren, auch die heutigen Fronleichnamszüge durch die Münchner Innenstadt vergleichsweise bescheidene Veranstaltungen. Welchen sozialen Zündstoff sie aber noch im 19. Jahrhundert bargen, zeigte sich nicht zuletzt, als der restaurativ gestimmte Bayernkönig Ludwig I. versuchte, die Prozession wie in den kämpferischen Jahrzehnten der Gegenreformation für religionspolitische Statements zu nutzen: Gemäß Ludwigs „Kniebeuge-Erlass“ von 1838 sollten auch protestantische Offiziere vor dem vorbeigetragenen Allerheiligsten niederknien. Diese Anweisung löste ungeheuren und anhaltenden Protest bei den evangelischen Untertanen aus, bis sie 1845 schließlich wieder zurückgenommen werden musste…